Zwei Seiten einer Medaille: Als Patient (links) ist er willkommen, als Mitarbeiter
(rechts) verursacht er bestimmt Probleme – Menschen mit Behinderung werden gerade
von uns Therapeuten mit verschiedenen Augen gesehen.
© Thieme Group/S. Schaaf
Wir Therapeuten sind für Menschen mit Behinderung häufig sehr wichtige Bezugspersonen.
Wir begleiten sie über Jahre hinweg, behandeln und beraten sie bezüglich häuslicher
Hilfsmittel, Arbeitsplatzgestaltung, Lebensgestaltung und vielem mehr. In manchen
Fällen wissen wir gar nicht, ob unsere Patienten einen „Grad der Behinderung“ (GdB)
beantragt haben oder nicht. Wir wissen oft auch nicht, welche zusätzlichen beruflichen
Herausforderungen für die Betroffenen hinzukommen: Hürden in ihrem Arbeitsalltag,
die nicht direkt mit der physischen oder psychischen Behinderung verbunden sind; sekundäre
Problemstellungen wie Angst vor Arbeitsplatzverlust, Verschweigen der Einschränkung
aus Furcht vor Stigmatisierung, Kostenerstattungsprobleme bei den Krankenkassen, Antragsprobleme
bei Inklusionsämtern und vieles mehr.
Und wie agieren und empfinden wir, wenn nicht unsere Patienten, sondern unsere Kollegen
von Behinderung betroffen sind? Fragen wir bei ihnen nach? Interessiert es uns, auf
wie vielen Ebenen sich deren Leben durch eine Einschränkung verändert? Verhalten wir
uns ihnen gegenüber genauso empathisch, rücksichtsvoll und an der Optimierung ihrer
Arbeitsbedingungen interessiert wie bei unseren Patienten? Vertreten wir genauso die
fachlich fundierte Meinung, dass Belastung und Regeneration in einem ausgewogenen
Verhältnis stehen sollten? Ist ihre Unterstützung für uns selbstverständlich? Für
Arbeitgeber sind Menschen mit irreversibler Behinderung eine stabile Einkommensquelle
und ein verlässliches Umsatzpotenzial. Mitarbeiter mit Behinderung sind ein Kostenfaktor.
Patienten mit Behinderung sind eine Einkommensquelle. Mitarbeiter mit Behinderung
sind ein Kostenfaktor.
Das sagt das Gesetz
Gesetzlich geregelt ist, dass Unternehmen mit jahresdurchschnittlich mehr als 20 Arbeitsplätzen
wenigstens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzen müssen, bei
20 Beschäftigten ist das also genau eine Stelle. Dabei sind schwerbehinderte Frauen
besonders zu berücksichtigen. Nicht als Arbeitsplätze zu zählen sind Auszubildende
und Arbeitsverhältnisse mit weniger als 18 Wochenstunden. Das bedeutet, dass beispielsweise
450-Euro-Kräfte oder Aushilfstätigkeiten mit weniger als acht Wochen Einsatz im Jahr
nicht zur Quote hinzuzählen.
Mitglieder unserer Berufsgruppen sind nicht davor gefeit, selbst schwer chronisch
zu erkranken, einen schweren Unfall zu erleiden oder im fortschreitenden Alter Einschränkungen
zu haben, die einen Grad der Schwerbehinderung mit sich bringen. Einige Arbeitgeber
selbst aus dem Gesundheitsbereich fackeln da nicht lange. Zwar lautet deren unternehmerischer
Auftrag, sich um Menschen mit Krankheiten oder Einschränkungen professionell zu kümmern,
bei den eigenen Mitarbeitern hingegen kann das schnell ganz anders aussehen.
Mehrfach habe ich es erlebt: Wenn bei Kollegen eine längere schwere Erkrankung auftrat,
war es das unausgesprochene Ziel der Geschäftsführung, möglichst schnell eine Beendigung
des Arbeitsverhältnisses herbeizuführen. Personalkosten sind die Stellschraube für
Kosteneinsparpotenziale. Durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind chronisch kranke
Mitarbeiter aus Unternehmersicht ein unkalkulierbarer Kostenfaktor. Alles ganz legal,
denn Unternehmen haben die Wahl: Wenn sie die vorgeschriebenen Stellen nicht besetzen
können oder wollen, können sie sich durch die Zahlung einer Schwerbehindertenausgleichsabgabe
„freikaufen“.
Zahlen, Daten, Fakten
Zum Jahresende 2019 lebten rund 7,9 Millio-nen offiziell anerkannte schwerbehinderte
Menschen in Deutschland. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis, online unter bit.ly/3s3hMo7)
mitteilt, waren das rund 136.000 Betroffene (1,8 Prozent) mehr als zum Jahresende
2017. Der Anteil der schwerbehinderten Menschen an der gesamten deutschen Bevölkerung
betrug damit 9,5 Prozent, Tendenz: steigend. Von diesem Prozentsatz wiederum sind
3,3 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter. Eine Pflicht zur Beantragung
eines Schwerbehindertenausweises gibt es nicht. Daher gibt es eine Dunkelziffer, denn
viele Betroffene stellen diesen Antrag gar nicht erst, um Nachteile am Arbeitsmarkt
zu vermeiden. Es ist ein großer Schritt, sich selbst eine irreversible Behinderung
einzugestehen, die schwarz auf weiß zu sehen ist, und einen GdB nicht als Kainsmal
auf der Stirn zu empfinden.
100 Prozent Leistungsbereitschaft ist bei Menschen mit und ohne GdB unterschiedlich.
Der GdB wird in Zehnerschritten vergeben und ist kein Prozentsatz. Zudem sagt die
Höhe des GdB nichts über das Ausmaß der Leistungsfähigkeit im ausgeübten Beruf aus.
Ein GdB von 50 bedeutet also nicht, dass Arbeitnehmer nur noch zur Hälfte leistungsfähig
und somit nicht mehr in der Lage sind, den Arbeitsplatz vollwertig auszufüllen oder
in Vollzeit zu arbeiten. Ihre Belastbarkeit hängt – wie bei jedem gesunden Arbeitnehmer
auch – von der Art der Tätigkeit, der Arbeitsquantität und -dichte, der Arbeitsplatzgestaltung,
der Arbeitsumgebung, der Arbeitszufriedenheit, der Integration in den Kollegenkreis
und seinem privaten Umfeld ab.
Bei der Begutachtung findet nicht allein die Krankheit Berücksichtigung, sondern es
fließen ebenso die bestehenden Funktionseinschränkungen sowie die Auswirkungen auf
die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit ein. Neben den körperlichen Folgen zählen
hierzu auch seelische Begleiterscheinungen und chronische Schmerzen. Bestehen einzelne
Beeinträchtigungen, werden jeweils Einzelwerte zugeordnet, aus denen dann der Gesamt-GdB
gebildet wird. Dieser ergibt sich nicht durch Addition der Einzel-GdBs, es werden
vielmehr die wechselseitigen Beziehungen der Beeinträchtigungen berücksichtigt.
Beträgt der GdB 50 und mehr, liegt eine Schwerbehinderung als Voraussetzung für den
Erhalt eines Schwerbehindertenausweises vor. Liegt ein GdB von beispielsweise 30 vor,
kann der Arbeitgeber eine Gleichstellung beantragen und Fördermittel für Arbeitnehmer
sowie Zuschüsse für außergewöhnliche Belastungen, Betreuungsaufwand oder Arbeitsplatzausstattung
beantragen. Ein GdB unter 30 bleibt, außer bei Auszubildenden, fördertechnisch unberücksichtigt.
Die [TAB]. auf Seite 62 führt einige Erkrankungsbeispiele mit GdB auf.
TAB. Erkrankungsbeispiele mit GdB (den ganzen GdB-Katalog gibt’s online unter bit.ly/39dDGMU)
Erkrankung
|
Beschreibung
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GdB
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Migräne (mittelgradige Verlaufsform)
|
|
20–40
|
Colitis ulcerosa, Morbus Crohn (mit mittelschwerer Auswirkung)
|
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30–40
|
Leukämie
|
|
80
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Hüftgelenks-Endoprothese beidseits
|
|
20
|
Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumata
|
-
Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen
-
Stärker behindernde Störungen, zum Beispiel ausgeprägte depressive, hypochondrische
oder phobische Störungen
|
0–20
30–40
|
Herzklappenprothese
|
|
30
|
Herzinfarkt
|
|
?
|
Tabu beim Einstellungsgespräch
Tabu beim Einstellungsgespräch
Mal angenommen, Sie haben in Ihrer Praxis eine freie Stelle ausgeschrieben, so dürfen
Sie Bewerber nicht nach dem etwaigen Vorliegen einer Schwerbehinderung fragen. Arbeitnehmer
sind ebensowenig verpflichtet, ihren Schwerbehindertenausweis im Einstellungsprozess
vorzulegen. Der Schutz der Bewerber ist vorrangig.
Erlebt habe ich beruflich beides. Beeindruckt hat mich vor vielen Jahren eine Bewerberin,
die sich als Lehrkraft und Praktikumsbetreuung beworben hat. Als sie auf mich zuging,
nahm ich ein leichtes Hinken wahr. Es sah für mich wie eine Hüftdysplasie aus. Im
Verlauf des Bewerbungsgesprächs fragte ich sie, wieso sie – ungekündigt und bis dato
gut bezahlt als Betriebsphysiotherapeutin bei einem großen Autohersteller – in die
Lehre wechseln wolle. Da erzählte sie ganz offen ihre Krankengeschichte. Aus der vermeintlichen
Hüftdysplasie wurde ein aggressiver Knochentumor drei Jahre zuvor im Hüftbereich mit
anschließender endoprothetischer Versorgung. Sie suchte aktiv und transparent nach
einem Arbeitsumfeld, in dem sie langfristig arbeiten könnte, ohne sich eingeschränkt
zu fühlen.
Die umgekehrte Variante war ebenso interessant für mich. Eine Mitarbeiterin in der
Buchhaltung beantragte ihren GdB erst nach Bestehen der Probezeit im unbefristeten
Arbeitsverhältnis und legte dann einen GdB von 50 vor. Sie fiel in den folgenden zwei
Jahren immer wieder wochenlang aus, was für die Kollegen nicht einfach war. Monate
später sprachen wir darüber, und da konnte auch sie offen reden. Für ihren jahrelangen
Leidensweg mit massiver Colitis ulcerosa konnte sie nichts – dennoch erlebte sie in
vorherigen Arbeitsverhältnissen Ausgrenzung, Lästereien von Kollegen und wurde bei
fachlichen Förderungsmaßnahmen schlicht übergangen: für sie ganz klar keine gesundheitsförderlichen
Umweltfaktoren. Damals beschloss sie, sich besser zu schützen und erst einmal ihre
Arbeitsqualität und Persönlichkeit für sich sprechen zu lassen, bevor sie ihre Einschränkung
offenlegte.
In guten Teams spielen Geschlecht, Hautfarbe, Religion und Behinderung keine Rolle
– es geht immer um Diversität.
Diversität ist Trumpf!
In der Zusammenarbeit mit Kollegen mit physischer und/oder psychischer Behinderung
mache ich seit einigen Jahren die Erfahrung, dass es auch hier keine allgemeingültigen
Verhaltensweisen gibt, denn Mitarbeiter sind unterschiedlich. Wir erleben Menschen,
die ihre chronische Erkrankung vor sich hertragen und von ihrer Umwelt jede Menge
Rücksicht, Zuwendung und Entschädigung erwarten. Wir erleben megaengagierte Mitarbeiter
mit Einschränkung, die sich selbst nicht schonen, die für sich ausdrücklich keine
Sonderregeln wollen und keinen Wert auf den „positiven Krankheitseffekt“ legen. Sie
wünschen sich gelebte Inklusion. Sie wünschen sich, dass es schlicht kein Thema ist,
ob es Einschränkungen gibt oder nicht. Genauso wie es in guten Teams unwichtig ist,
ob man Frau, Mann oder divers, ob man weiß, gelb oder schwarz, hetero, homo oder bi
ist oder ob man Buddhist, Katholik oder Atheist ist. Es geht immer um Diversität.
Menschen sind verschieden, und Menschen mit Behinderung sind auch unterschiedlich.
Und die Leistungsbereitschaft?
Und die Leistungsbereitschaft?
Eine weitere Beobachtung finde ich erwähnenswert: Beim Thema Leistungsbereitschaft
haben wir festgestellt, dass Mitarbeiter ohne Behinderung sich gern und schnell benachteiligt
vorkommen. Warum? Weil man zum Beispiel ab einem GdB von 50 bei einer Vollzeitstelle
fünf Tage mehr Urlaub bekommt, weil besonderer Kündigungsschutz besteht, weil mehr
Auszeiten durch heftige Krankheitsschübe passieren, weil eben dann und wann doch mehr
Rücksicht genommen wird – und weil Neid und Missgunst oft keine Grenzen kennen.
Die Folge daraus: Die Fehlzeiten unserer nicht behinderten Mitarbeiter sind in Summe
im Jahresdurchschnitt höher als die der Mitarbeiter mit GdB. Zudem bleiben viele Mitarbeiter
in ihrer Leistungsbereitschaft hinter der der Kollegen mit GdB zurück. Dieses völlig
schräge Phänomen erklären wir uns mit falsch verstandener Anpassung, denn die 100%ige
Leistungsbereitschaft ist bei Menschen mit und ohne GdB unterschiedlich. Wichtig jedoch
ist: Jeder Mitarbeiter gibt seine individuellen 100 Prozent, egal ob es eine 20-,
30-Stunden-oder Vollzeitstelle ist. Zudem erklären wir es uns so, dass auch in Zeiten
der Vollbeschäftigung Menschen mit Behinderung dauerhaft Angst vor Arbeitsplatzverlust
haben, bei gesunden Arbeitnehmern ist diese Angst eher gering.
Machen Sie’s richtig
Empathische und genau hinschauende Führungskräfte oder Personalverantwortliche sind
hier gefragt. Bei jeder Arbeitsplatzbesetzung gilt es, den richtigen Menschen mit
den richtigen Qualifikationen zur richtigen Zeit mit dem richtigen Umfang und den
richtigen Kollegen am richtigen Platz einzusetzen. Das ist bei Mitarbeitern mit Behinderungen
nicht anders.