Schlüsselwörter
Kritische Theorie - Physiotherapie - Handlungspraxis - Wissenschaft - Gesundheitsversorgung
Key words
critical theory - physiotherapy - clinical practice - science - healthcare
Einleitung
Das Critical Physiotherapy Network (CPN) wurde als Zusammenschluss internationaler
Physiotherapeutinnen und -therapeuten im Jahr 2014 gegründet und vereint mittlerweile
über 700 Klinikerinnen und Kliniker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie
Lehrende und Studierende aus 51 Ländern. Im Juli 2020 trafen sich erstmalig interessierte
Fachkräfte zu einer deutschsprachigen Sektion des CPN, um für diese Region spezifische
Aspekte einer Kritischen Physiotherapie zu erörtern.
Als einführende Vorstellung beantwortet dieser Beitrag erste Fragen zur Kritischen
Physiotherapie. Dabei wird zum einen die Notwendigkeit einer Kritischen Physiotherapie
skizziert und zum anderen auf ihre Ziele, Handlungsfelder und Perspektiven eingegangen.
Was die Mitglieder der Gruppe verbindet, sind ihre „physiotherapeutischen Wurzeln“
und die Annahme, dass es angesichts globaler und regionaler Herausforderungen eine
zeitgemäße Weiterentwicklung der Physiotherapie nur geben kann, wenn die historisch
gewachsene Physiotherapie einer grundlegenden kritischen Analyse unterzogen wird [1].
Kritische Physiotherapie kann aus mindestens 2 Perspektiven betrachtet werden: einer
anwendungs- und einer theoriebezogenen. Im engeren Sinne ist also auch das Verhältnis
von Handlungspraxis und Wissenschaft gemeint [2]. Physiotherapeutische Handlungspraxis ist Teil der Gesundheitsversorgung und braucht
– um eine optimale Therapie der Patientenschaft zu ermöglichen – angemessene Handlungsoptionen.
Wissenschaft hingegen bewegt sich im Spektrum von theoretischen Annahmen mit mehr
oder weniger empirisch abgesicherten Wahrscheinlichkeiten. Der Wissenschaft ist immanent,
dass sie bezüglich konkreter versorgungsrelevanter Fragen und ihrer Anwendbarkeit
gegenüber vage bleibt. Diese Situation ist im generalistischen und abstrahierenden
Blick der Wissenschaft begründet, während die Handlungspraxis auf den individuell
spezifischen, komplexen Einzelfall fokussiert und somit konkreter ist. Eine gelingende
Beziehung zwischen beiden Bereichen ist per Anlage nicht naturgegeben, sondern muss
mittels Transferbemühungen hergestellt werden [3].
Eine Kritische Physiotherapie nimmt sich dieser Herausforderung an und macht es sich
zur Aufgabe, Selbstverständlichkeiten, d. h. vermeintlich Naturgegebenes oder Tradiertes,
fundamental zu hinterfragen. Somit rüttelt die Kritische Physiotherapie an den Grundfesten
der Profession und Disziplin. Vertrautes und populäres Denken und Handeln sowohl im
Beruf als auch in der Physiotherapiewissenschaft kommen durch die Kritische Physiotherapie
auf einen unvermeidlichen und notwendigen Prüfstand.
Zur Notwendigkeit einer Kritischen Physiotherapie
Zur Notwendigkeit einer Kritischen Physiotherapie
Unsere Lebenswelt befindet sich im stetigen Wandel. Zu den vielen Veränderungen, die
für Gesundheitsberufe von großer Bedeutung sind, gehört der gegenwärtig soziale Wandel
und ein gewachsenes Verständnis für den Einfluss des sozioökonomischen Status auf
Morbidität und Mortalität, d. h. für eine mit sozialen Faktoren assoziierte Erkrankungs-
bzw. Sterbewahrscheinlichkeit. Nicht nur biologische, sondern in hohem Maße soziale
Determinanten entscheiden über die Risiken und Ressourcen für Gesundheit und sind
Voraussetzungen einer mehr und weniger gesunden Lebensführung. Multimorbidität und
vor allem eine steigende Anzahl von Menschen, die mit chronischen Erkrankungen und
bleibender Behinderung leben, werden zunehmend selbstverständlich zum physiotherapeutischen
Alltag gehören [4]. Der demografische Wandel verändert die Chancen und Risiken eines langen Lebens
und somit die Rolle und Aufgaben aller professionellen Fachkräfte im Gesundheitssystem.
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und globale Einflüsse auf den einzelnen Menschen
haben sich in den letzten 100 Jahren erheblich verändert und beeinflussen auf der
Makro-, Meso- und Mikroebene das Leben und die Arbeit maßgeblich [5]
[6]
[7]. Die Physiotherapie kann sich den Veränderungen, z. B. der Technisierung und der
zunehmenden Digitalisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens, nicht entziehen.
Familien- und Geschlechterverhältnisse, diverse Lebensentwürfe, aber auch Berufsrollen
und Erwartungen der Patientenschaft an Fachkräfte im Gesundheitswesen verändern sich.
Globale Gesundheitsprobleme wie die aktuelle Corona-Pandemie, der Klimawandel und
eine weitgreifende Umweltzerstörung gehören ebenfalls zu den komplexen, neuen Problemlagen
und stellen spezifische Herausforderungen an Gesundheitsfachkräfte [8].
Der durch diese Faktoren bedingte Wandel vollzieht sich auf allen Ebenen, der persönlich-individuellen,
der kollektiven (z. B. Berufe) sowie der sozialen und gesellschaftlichen Ebene. Eine
offene Auseinandersetzung innerhalb der Physiotherapie (in Beruf und Wissenschaft
im deutschsprachigen Raum) mit diesen Problemen ist bisher allerdings nur an wenigen
Stellen erkennbar. Daraus resultiert die Gefahr, dass die Physiotherapie auf die Vielfalt
an aktuellen Fragen und neuen Herausforderungen keine adäquaten Antworten bieten kann.
Im schlimmsten Fall wird sogar aufgrund eines Mangels an Anpassungsleistung und angemessenem
Handeln die Weiterentwicklung der Physiotherapie im Sinne einer Bedarfs- und Bedürfnisorientierung
verhindert. Kritische Physiotherapie ist nach diesem Verständnis daher überlebenswichtig.
Fachkräfte der Physiotherapie haben sich mit diesen wichtigen Themen bisher noch nicht
tiefgehend befasst, was auf bekannte historische, soziale, kulturelle und politische
Faktoren zurückzuführen und nicht ausschließlich ein Problem im deutschsprachigen
Raum ist. Das Festhalten an alten Denkgewohnheiten und die reaktive Aktionsweise stehen
im Zusammenhang mit einer nachholenden Entwicklung von Ausbildung und dem – im internationalen
Vergleich – späten Beginn einer Physiotherapiewissenschaft im deutschsprachigen Raum.
Das bislang relativ enge Interessen- und Handlungsfeld der Physiotherapie kann international
durch die historisch fast exklusive Anbindung an die Schulmedizin und biomedizinischen
Theorien und Methoden erklärt werden. Diesen liegt u. a. ein mechanistisches Weltbild
zugrunde, welches noch heute die Ausrichtung der Physiotherapie und ihren Fokus auf
die biologischen Aspekte von Pathologien prägt [1]
[9]. Der Ausschluss der spezifischen Lebenswelten der Patientenschaft ist ein Effekt
sowie sinnbildlicher Ausdruck dieser mechanistischen und biomedizinischen Grundlagen
durch die Fokussierung auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten in Kliniken,
Rehabilitationszentren, ambulanten Praxen und anderen Institutionen. Eine Konsequenz
dieser quasi architektonischen Abgrenzung ist, dass ein Lebensweltbezug im Sinne einer
bewegungsbezogenen Befähigung von Patientinnen und Patienten für ihren individuellen
Alltag dabei weitestgehend verloren geht. Wir wissen nicht wirklich, ob und wie Physiotherapeutinnen
und -therapeuten das Alltagsleben der Menschen, die sie therapieren, beeinflussen,
denn Therapie findet i. d. R. außerhalb von deren Lebenswelten statt. Bekannt ist
die geringe Integration der Effekte von Physiotherapie auf psychosoziale Aspekte von
Gesundheit und Krankheit [10]
[11], obwohl diese im Verständnis einer systemischen und ganzheitlichen Definition als
Wissensbestand verbreitet und für die Rehabilitation bedeutsam sind (im Sinne der
ICF/WHO).
Was Physiotherapie ist und was sie für die Gesellschaft bzw. Bevölkerungsgesundheit
leisten kann, ist international verschieden und abhängig von der jeweiligen Historie,
der Tradition des Berufes im nationalen Kontext, seiner Einordnung in das Versorgungssystem
einschließlich der Honorierung physiotherapeutischer Leistungen, Aufgaben und Handlungsautonomie
in einem System, dem Grad der Professionalisierung und letztlich dem Verhältnis und
den Abhängigkeiten von anderen Berufsgruppen [12]. Das Selbstverständnis und die Handlungsfelder von Physiotherapie orientieren sich
daher nicht nur an internen Begrenzungen der Disziplin und Profession wie wissenschafts-
und gesundheitstheoretischen Grundannahmen, interner oder externer Evidenz (Wirksamkeit)
und an der tradierten Positionierung und Rolle im Versorgungssystem. Der Anspruch
dieses Beitrages ist nicht, alle auf die Physiotherapie wirkenden Rahmenbedingungen
erschöpfend darzustellen. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Kompetenzen im jeweiligen
Kontext von Bedeutung sind und was ggf. getan werden kann, um künftige Spielräume
zu verändern [13]. Aus Sicht der Kritischen Physiotherapie verhindern die vorwiegend biomedizinische
Ausrichtung und damit einhergehende wissenschaftliche und handlungspraktische Werkzeuge
der Physiotherapie es, über Begrenzungen zu reflektieren und ggf. auf sie einzuwirken.
Diese Ausrichtung ist quasi selbstreferentiell und macht es unmöglich, über aktuelle
und zukünftige ethische, soziale, ökonomische, politische, kulturelle und ökologische
Probleme sowie Veränderungen zu reflektieren und die Physiotherapie entsprechend weiterzuentwickeln
und neu zu begreifen.
Die Anpassung der Berufe und Wissenschaft ist jedoch existentiell. Kritisch zu sein
und nach neuen Wegen zu suchen heißt, die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen
und diese zu gestalten. Die Autorenschaft ist der Meinung, dass der Beruf der Physiotherapeutin
bzw. des -therapeuten längerfristig gefährdet ist, wenn ein Anschluss an die beschriebenen
Herausforderungen nicht gelingt. Die Kritische Physiotherapie begrüßt und fördert
daher eine Vielfalt von Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten, die Antworten auf
Herausforderungen geben können, damit Veränderung, Wachstum und Entwicklung im Hinblick
auf neue Bedarfe und Herausforderungen überhaupt möglich wird.
Grundbewegung, Handlungsfeld und Ziel der Kritischen Physiotherapie
Grundbewegung, Handlungsfeld und Ziel der Kritischen Physiotherapie
Die Grundbewegung der Kritischen Physiotherapie besteht darin, sich auf Gesundheits-,
Sozial- und Humanwissenschaften zu beziehen, um Physiotherapie im Hinblick auf eine
sich verändernde Gesundheit und Gesundheitswelt zu erforschen und weiterzuentwickeln
(siehe auch Critical Physiotherapy Network Constitution: https://criticalphysio.net/cpn-constitution/). Mögliche Anregungen dafür bieten Disziplinen aus den wissenschaftlichen Bereichen
der Geisteswissenschaften, zu denen auch die Human- und Sozialwissenschaften gehören,
z. B. Anthropologie, Philosophie, Geschichte, Kultur, Politik und Soziologie. Methodologisch
eng mit der qualitativen Forschung verwandt, ermöglichen derart interdisziplinäres
Denken und Arbeiten neue Selbstverständnisse und eröffnen neue Handlungsräume. Im
Folgenden werden einige Beispiele für die Annäherung an die Arbeitsweise im Sinne
einer Kritischen Physiotherapie genannt:
-
Das Hinterfragen der historischen und impliziten Grundannahmen der Physiotherapiewissenschaft,
der Handlungspraxis und ihres Verhältnisses, in vollem Bewusstsein dessen, dass es
keine Praxis ohne Theorie gibt und keine Theorie ohne Praxis [3].
-
Das Hinterfragen und Weiterentwickeln von erkenntnis-, wissens- und wissenschaftstheoretischen
Grundlagen, die das Denken und Handeln der Physiotherapie bestimmen.
-
Das Hinterfragen und Weiterentwickeln der beruflichen Identität der Berufsangehörigen
sowie des Berufsstandes Physiotherapie, einschließlich der Ausformulierung des Berufsbildes.
-
Das Hinterfragen und Ausdifferenzieren physiotherapeutischer Grundbegriffe, z. B.
Bewegung, Berührung, Gesundheit, Krankheit, Körper und Therapie.
-
Das Erforschen der sozio-ökonomischen, politischen und ökologischen Bedingtheit der
Physiotherapie.
-
Das Erforschen materieller und kultureller Einflussfaktoren auf Wissenschaft, Lehre
und klinische Praxis der Physiotherapie.
-
Die Beobachtung von Zielperspektiven der Therapie im Kontext einer inklusiven Gesellschaft.
Gelingt konsequente soziale Teilhabe mit Hilfe von Physiotherapie?
-
Integration neuer Themen in die Physiotherapie (gesellschaftliche Fragen und Fragen
zum Gesundheitssystem, Diversität, inklusive Physiotherapie, soziale Ungleichheit,
Bildungsgerechtigkeit bzw. Kooperation, Interprofessionalität und Interdisziplinarität),
um Problemfelder zu registrieren und daraus entstehende Handlungsbedarfe in der Physiotherapie
abzuleiten.
-
Die Analyse von aktiven Machtverhältnissen in der Physiotherapie sowie deren Auswirkungen
auf politische, soziale, wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Ebenen oder
auf der singulären, zwischenmenschlichen Ebene der therapeutischen oder pädagogischen
Beziehung.
-
Das Reflektieren und Erforschen von Einstellungen und Haltungen gegenüber Differenz,
Andersartigkeit, Pluralität und Diversität in der Theorie sowie Methoden, Praxis und
der Umgang damit.
Die hier beispielhaft angerissenen Handlungsfelder laden ein, die Bearbeitung dieser
Themen und Probleme auch mit einer gewissen Langsamkeit zu praktizieren. Einfache
und schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten. Es geht um adäquate Antworten auf komplexe
Fragen vor dem Hintergrund der Mehrperspektivität und Mehrdeutigkeit. Kritische Physiotherapie
fordert Physiotherapeutinnen und -therapeuten in ihrer umfangreichen Handlungsorientiertheit
und zupackenden Art vielleicht besonders heraus. Es geht jedoch nicht um Aktionismus.
Vielmehr hält Kritische Physiotherapie dazu an, nicht von einer Lösung oder Behandlungsmethode
zur nächsten zu eilen, sondern in Aussicht zu stellen, dass es nicht nur eine Lösung
gibt. Kritisches Denken fordert zu Bedachtsamkeit, Vorsicht und Reflexion auf. So
betrieben wird die Kritische Physiotherapie bereits eine konkrete Handlungsalternative.
Reflexion und Veränderung brauchen Zeit, vor allem, wenn sie in komplexen gesellschaftlichen
Systemen wirken sollen, denn sie können nur wirkmächtig werden, wenn sie inner- und
außerhalb der Profession durchgesetzt werden.
Kritische Physiotherapie rüttelt an den Grundfesten des Berufes und seiner Wissenschaft.
Nicht jeder kritische Ansatz wird dabei eine Relevanz erfahren oder in bedeutsamen
Veränderungen münden. Eine kritische Betrachtung ermöglicht es jedoch, Missstände
zu erkennen und proaktiv in der Forschung aufzugreifen. Ziel ist es, zu einer Entwicklung
von Gesundheitsversorgung beizutragen, die sich an den Bedarfen und Bedürfnissen des
Individuums in seiner gesellschaftlichen und ökologischen Eingebundenheit orientiert.
Kritische Auseinandersetzung und offener Diskurs sind angezeigt, damit die Entwicklung
der Physiotherapie nicht durch äußere Umstände getrieben wird und modischen Trends
folgt. Kritische Physiotherapie möchte helfen, aus der Reaktion in die proaktive Gestaltung
des Berufes und der Wissenschaft zu gelangen. Dieses Vorgehen braucht Selbstkritik
und Aufgeschlossenheit für kritisches Denken. Der entstehende Handlungsdruck, der
mit neuen Ideen wächst, sollte dabei nicht abschrecken, sondern ermutigen, neue Wege
zu gehen. Es sei die Frage erlaubt: Was ist gewonnen, wenn alles bleibt, wie es ist?
Kritische Physiotherapie zielt auf die positive und konstruktive Förderung neuer Herangehensweisen
und das Verständnis für Aufgaben, Ziele, Methoden und Auswirkungen der Physiotherapie
in Forschung, Lehre und Praxis. Dadurch kann die Kritische Physiotherapie transformatorisch
unterstützen, durch Veränderungen zu wachsen und ein breites Spektrum an Fähigkeiten
zu entwickeln. Hier sind sowohl Kompetenzen für die therapeutische Beziehung zwischen
Therapeutin bzw. Therapeut und Patientin bzw. Patient gemeint als auch die Entwicklung
von Fähigkeiten einer sozialen und ökologischen Einflussnahme in einer Zeit dynamischer
Welt- und Gesellschaftsveränderungen.
Kritische Physiotherapie richtig verstehen
Kritische Physiotherapie richtig verstehen
Kritik und kritisches Denken können und werden regelmäßig falsch verstanden. Ein klarer
Stellungsbezug ist daher notwendig: Durch die Grundbewegung der Kritischen Physiotherapie
– sich auf Gesundheits-, Sozial- und Humanwissenschaften zu beziehen, um die Wissenschaft
und Handlungspraxis der Physiotherapie hinsichtlich notwendiger Veränderungen zu erforschen
und weiterzuentwickeln, – lässt sich die Kritische Physiotherapie als etwas Spezifisches
identifizieren und vom umgangssprachlichen Gebrauch von Kritik unterscheiden.
Der Name „Kritische Physiotherapie“ ist von der Kritischen Theorie der „Frankfurter
Schule“ geprägt [14]. Er fungiert allerdings in Anlehnung an weltweite Entwicklungen der kritischen Forschung
als Überbegriff für ein wesentlich breiteres Feld an Perspektiven und Methoden [15]
[16]. Kritische Forschung in diesem Sinne und in diesen Traditionen braucht sowohl Zeit
als auch Mut und Theorie. Es ist ein Prozess des Sicheinlassens auf eine neue Sichtweise.
Zweifelsohne verunsichert dieser Prozess, denn Bewährtes bzw. Bekanntes bietet (vermeintlich)
Halt in bewegten Zeiten.
Auf dieser Grundlage meint eine Kritische Physiotherapie nicht Verunglimpfung, Ablehnung
oder gar Denunziation. Es geht nicht darum, negativ oder abwertend zu agieren, alles
absolut in Frage zu stellen oder das „Haar in der Suppe“ zu suchen. Es geht auch nicht
um eine Frontenbildung zwischen theorieorientierenten und praxisorientierten Fachkräften
und Richtig oder Falsch, was immer darunter verstanden werden mag. In der Kritischen
Physiotherapie geht es vielmehr um konstruktive Weiterentwicklung. Diese bedarf jedoch
eines kritisch-konstruktiven Blickes, eine gleichberechtigte Integration von individuellen
Deutungen und Lebensweltbezügen, Offenheit für die Wahrnehmung von Unbehagen und Wachheit
für Widersprüchlichkeit und ggf. Begrenzung im Denken und Handeln. Kritik wird hier
als Anregung zur Reflexion genutzt, zum Prüfen von Perspektiven und zu entsprechend
nuanciertem Reagieren oder anderem Agieren. Kritische Physiotherapie ist somit nicht
schwarzmalerisch, sie stellt jedoch in Frage und ist daher unbequem.
Die Zukunft der Kritischen Physiotherapie im deutschsprachigen Raum
Die Zukunft der Kritischen Physiotherapie im deutschsprachigen Raum
Im Vergleich zu anderen Gesundheitsberufen sind die kritische Forschung und ihre handlungspraktischen
Konsequenzen in der Physiotherapie international noch relativ jung. Durch die Arbeit
des CPN und dessen Mitgliedern ist sie in den letzten Jahren ein fester Begriff in
der Physiotherapie geworden und bietet inzwischen eine beachtliche und stetig wachsende
Zahl von akademischen Veröffentlichungen [15]. Mit einer wachsenden Zahl von Mitgliedern aus dem deutschsprachigen Raum und vor
dem Hintergrund von Sprachbarrieren erschien es nun an der Zeit, eine deutschsprachige
Sektion des CPN ins Leben zu rufen. Ein grundlegendes Ziel hierbei ist, bereits existierende
Mitglieder im deutschsprachigen Raum enger zu vernetzten und Kollaboration zu erleichtern.
Die weiterführende Hoffnung ist, der im deutschsprachigen Raum noch deutlich jüngeren
Kritischen Physiotherapie dadurch vermehrt Nachdruck zu verleihen.
Mit dem vorliegenden Beitrag möchte die Autorenschaft mögliche Interessierte dazu
einladen, sich unseren Bemühungen anzuschließen. Als noch sehr junge Sektion des DCPN
(Deutschsprachiges Netzwerk Kritischer Physiotherapie) sind vorerst monatliche Online-Treffen
geplant, bei denen verschiedene Themen rund um die Kritische Physiotherapie gemeinsam
diskutiert und bearbeitet werden. Für die nächsten Treffen sind verschiedene Themen
und Formate geplant, die sich an den Interessen der Teilnehmenden orientieren, darunter
auch:
-
das gemeinsame Lesen und Diskutieren einschlägiger Veröffentlichungen;
-
die Sammlung, Identifizierung und Bearbeitung spezifischer Fragestellungen;
-
die Präsentation und Diskussion von Veröffentlichungen der aktiv forschenden Autorenschaft
in der Gruppe der Kritischen Physiotherapie;
-
die interdisziplinäre Verknüpfung mit Mitarbeitenden und Gruppen in Forschung, Lehre
und Praxis innerhalb und außerhalb der Gesundheitswissenschaften;
-
kollaborative Schreibprojekte;
-
die Unterstützung von Studienarbeiten;
-
persönliche Treffen auf Konferenzen, Tagungen und ähnlichen Anlässen;
-
die Verbindung zum internationalen Netzwerk.
Die Mitgliedschaft im internationalen CPN ist nicht zwingend, wird jedoch bei regelmäßiger
Teilnahme empfohlen, damit die Anknüpfung an und die Kollaboration mit internationalen
Mitarbeitenden sowie die Entwicklung gefördert werden. Neugierige und Gäste sind jederzeit
willkommen und dazu eingeladen, sich im DCPN zu beteiligen. Für Fragen rund um das
Thema CPN/DCPN können die hier genannten Kontaktdaten genutzt werden. Abschließend
bleibt zu betonen, dass es eine der wichtigsten Bestrebungen des CPN/DCPN ist, ein
einladendes und konstruktives Forum für kreativen Austausch und Reflexion zu sein,
das von den aktiven Beiträgen der sich beteiligenden Fachkräfte lebt.