(Quelle: maya2008/stock.adobe.com – Stock photo)
Definitionen
Mund- und Gesichtsschmerzen werden unter dem Begriff „orofaziale Schmerzen“ [lat.:
os = Mund; facies = Gesicht] subsummiert. Während der Bereich des Mundes noch klar
definiert ist, bleibt die Ausdehnung des Gesichts unklar. Aus anatomischer Sicht ist
das Gesicht zwar eindeutig ein Teil des Kopfes, je nach Spezialisierung wird das Gesicht
jedoch unterschiedlich abgegrenzt. Diese Divergenz wird anhand diverser Definitionsversuche
deutlich.
IHS Die ‚International Headache Society‘ (IHS) definierte Gesichtsschmerz als „Schmerz
unterhalb der orbitomeatalen Linie, anterior der Ohrmuscheln und oberhalb des Halses“
[1]. Die Orbitomeatallinie bezeichnet im seitlichen Topogramm die Verbindung der oberen
Orbitabegrenzung mit dem Porus acusticus externus. Dementgegen schließen andere Begriffsbestimmungen
zusätzlich die Region oberhalb der Orbitomeatallinie und somit die Stirn mit ein.
Zahnmedizin In der Zahnheilkunde beinhaltet der Begriff „Gesicht“ alle extraoralen Strukturen,
welche dem stomatognathen System zugeordnet sind. Als stomatognathes System bezeichnet
man die Gesamtheit aller Strukturen im Kopf-, Mund/Kiefer- und Halsbereich mit ihren
weitgehenden Interaktionen und wechselseitigen Abhängigkeiten. Zahnmedizinisch gehören
also sämtliche Kaumuskeln, wie etwa die Mm. temporalis und masseter, aber auch die
suprahyoidale Muskulatur, die Kiefergelenke und die Schilddrüsen zum Gesichtsbereich.
Im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis werden die Nase und die Augen in der Zahnmedizin
nicht zum Gesicht gezählt.
Kopfschmerz Kopfschmerzen werden meistens auf orofaziale Regionen bezogen et vice versa. Sie
können ausschließlich innerhalb der orofazialen Region lokalisiert sein, wohingegen
orofazialer Schmerz sich auch auf andere Kopfregionen übertragen kann. Angesichts
dieser Diskrepanz wird deutlich, dass der Begriff „Mund- und Gesichtsschmerz“ sowie
sein Pendant „Kopfschmerz“ keine exakte Abgrenzung und Differenzierung voneinander
zulassen. Infolgedessen werden Mund- und Gesichtsschmerzen zumeist nur als Unterkategorien
von Kopf- und Nackenschmerzen betrachtet [2].
Orofaziale Innervation
Der Mund- und Gesichtsbereich wird sensorisch sowohl über die Spinalnervenpaare C2
und C3 als auch über fünf Hirnnervenpaare versorgt:
Die angeführten Hirnnerven gewährleisten auch die autonome Innervation ([Abb. 1]).
Abb. 1 Die sensorische Innervation von Mund- und Gesichtsbereich wird durch die Spinalnerven
C2 und C3 sowie über die Hirnnerven III, V, VII, IX und X realisiert. Die Abbildung
zeigt die die Ursprünge der Hirn- und Spinalnerven (links) sowie deren Versorgungsgebiete
(rechts).(Quelle: N. Giannakopoulos; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
Trigeminusnerv Die sensorische Versorgung der orofazialen Region erfolgt in erster Linie durch die
drei Äste des N. trigeminus (V1 – 3). Auf Grund der mächtigen Repräsentation des 5. Hirnnervs im sensorischen Kortex
haben orofaziale Schmerzen mitunter massive funktionelle und soziale Auswirkungen.
Diese reichen von Einschränkungen bei alltäglichen Aktivitäten wie Essen, Trinken,
Sprechen, Lachen, Singen, Küssen, Schminken, Rasieren und Schlafen bis hin zu Beeinträchtigung
des sozialen Lebens und Störungen der Selbstwahrnehmung [3], [4].
Je nach Versorgungsstufe – d. h. in der Allgemeinpraxis, in einer Klinik oder Spezialklinik
– werden Zahnärzte und andere medizinische Professionen wie z. B. Neurologen unterschiedlich
oft mit den verschiedenen Formen von Mund- und Gesichtsschmerz konfrontiert.
Klassifikationssysteme
Aufgrund der Komplexität von Mund- und Gesichtsschmerzen existieren mehrere internationale
Klassifikationssysteme, die mehr oder weniger auch orofaziale Schmerzen berücksichtigen.
Am bekanntesten sind:
-
die Klassifikation der ‚International Association for the Study of Pain‘ (IASP)
-
die ‚International Classification of Headache Disorders‘ (ICHD-3) der IHS
-
die Klassifikation der ‚American Academy of Orofacial Pain‘ (AAOP)
-
die ‚(Research) Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disordersʼ ((R)DC/TMD) vertreten
durch das ‘International Network for Orofacial Pain and Related Disorders Methodologyʼ
(INfORM)
Andere weitverbreitete Einteilungen sind die Klassifikationen nach Jeffrey Okeson
oder Joanna Zakrzewska [5], [6] ([Tab. 1], [Tab. 2]).
Tab. 1 Ausschnitt der Klassifikation von Mund- und Gesichtsschmerzen nach Okeson mit vier
Beispielen [5].
Achse 1 = physikalische Bedingungen
|
Achse 2 = psychologische Zustände
|
1 Der neurovaskuläre Schmerz wird bei Okeson auch unter dem Unterpunkt „viszeral“ aufgelistet.
|
somatisch
|
neuropathisch
|
affektive Störungen
|
Angststörungen
|
somatoforme Störungen
|
andere Störungen
|
oberflächlich
|
tief
Beispiele:
-
muskuloskelettal:
-
Muskelschmerz
-
Kiefergelenkschmerz
-
viszeral:
|
episodisch
Beispiele:
|
anhaltend
|
Tab. 2 Klassifikation von Mund- und Gesichtsschmerzen nach Zakrzewska [6].
dentoalveolär/oral/mukosal
|
muskuloskelettal
|
neurovaskulär
|
1 Dentininfraktur: unvollständige Frakturen und Risse im koronalen Dentin (Zahnbein),
die bis in die Pulpa (Zahnmark oder Zahnnerv) und das Wurzeldentin reichen können.
2 Kieferhöhlenentzündung. 3 systemische Gefäßentzündung (Vaskulitis), die v. a. bei älteren Menschen die Schläfenarterien
befällt; Synonyme: Riesenzellarteriitis (RZA), Morbus Horton, Horton-Magath-Brown-Syndrom.
4 Trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen (TAK) sind eine Gruppe attackenartiger,
einseitiger Kopfschmerzen im Bereich des Trigeminusnervs, die mit autonomen parasympathischen
Symptomen im Kopfbereich, wie z. B. Augentränen oder laufender Nase, einhergehen.
5 Die Glossopharyngeusneuralgie imponiert mit anfallsweise auftretenden Schmerzen am
Gaumenbogen, die u. a. beim Schlucken, lautem Sprechen oder Gähnen auftreten. Schmerzausstrahlung
in Zunge, Kieferwinkel und Halsregion; Synonyme: Collet-Sicard-Syndrom,
Weisenburg-Sicard-Robineau-Syndrom etc. 6 Beim Burning-Mouth-Syndrom bestehen Missempfindungen, Schmerzen und Brennen an der
Zunge und in der Mundhöhle. Die Beschwerden sind nicht durch andere Erkrankungen oder
ärztliche Befunde erklärbar. 7 neuropathischer Dauerschmerz der Zähne.
|
|
|
-
primärer Kopfschmerz:
-
neuropathischer Schmerz:
-
episodisch:
-
anhaltend:
-
neuropathischer Trigeminusschmerz
-
postherpetische Neuralgie
-
‚Burning-Mouth-Syndrome‘ (BMS)6
-
andere:
|
ICOP-Klassifikation
Angesichts der Divergenz der angeführten Klassifikationssysteme versuchte die ‚Orofacial
and Head Pain Special Interest Group of the IASP‘ (OFHP SIG) in Kooperation mit der
IHS, der AAOP und INfORM, eine erste einheitliche internationale Klassifikation von
Mund- und Gesichtsschmerzen zu formulieren [7].
Inhalt
Die im Vorjahr publizierte ‚International Classification of Orofacial Pain‘ (ICOP)
ist außerordentlich umfassend. Sie deckt alle Arten von Schmerzen ab, die auf dentoalveoläres
Gewebe, orofaziale Muskeln und die Kiefergelenke zurückzuführen sind. Gleichzeitig
berücksichtigt die ICOP auch Verletzungen und Erkrankungen des Trigeminusnervs, Gesichtsschmerzen,
welche eine gewisse Ähnlichkeit mit Kopfschmerzen haben, und schließlich auch die
idiopathischen Arten orofazialer Schmerzen.
Aufbau
In ihrem Aufbau folgt die ICOP den gleichen Prinzipien wie die internationale Klassifikation
von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) der IHS [1]. Zwei ihrer Grundkonzepte sind die Unterscheidung zwischen chronischen, d. h. länger
als drei Monate dauernden, primären und sekundären orofazialen Muskel- und Kiefergelenkschmerzen
sowie die Einordnung der Schmerzfrequenz anhand operationalisierter Kriterien in „sporadisch“,
„häufig“, „sehr häufig“ und „anhaltend“.
Domänen
In der ICOP werden orofaziale Schmerzen in sieben Bereiche unterteilt. Jede Domäne
wird ausführlich beschrieben, kommentiert und bietet zumeist auch diesbezügliche diagnostische
Kriterien unterschiedlicher Spezifität.
Merke
ICOP-Einteilung orofazialer Schmerzen
-
orofaziale Schmerzen, welche auf eine Dysfunktion der dentoalveolären und anatomisch
verwandten Strukturen zurückzuführen sind
-
myofasziale orofaziale Schmerzen
-
orofaziale Schmerzen aus den Kiefergelenken (TMJ)
-
orofaziale Schmerzen auf Grund einer Läsion oder Erkrankung der Hirnnerven
-
orofaziale Schmerzen, die primären Kopfschmerzen ähneln
-
idiopathische orofaziale Schmerzen
-
psychosoziale Beurteilung von Patienten mit orofazialen Schmerzen
Beispiel In der ICOP werden pulpitische Schmerzen unter der Zahlenfolge 1.1.1 kodiert und
als „Schmerzen, die durch eine Läsion oder Störung der Zahnpulpa verursacht werden“
definiert. Hierfür gelten folgende diagnostische Kriterien:
-
jeder Schmerz in einem Zahn, der Kriterium C erfüllt
-
klinische, labortechnische, bildgebende und/oder anamnestische Hinweise auf eine bekanntermaßen
Pulpaschmerz auslösende Läsion, Krankheit oder ein Trauma
-
Nachweis der Kausalität durch folgende zwei Charakteristika:
1. die Schmerzlokalisation entspricht der/den Stelle(n) der Läsion, Krankheit oder
des Traumas
und
2. eine/beide Aussage/n trifft/treffen zu:
a) der Schmerz entwickelte sich in zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten der Läsion,
der Krankheit oder des Traumas, oder der Schmerz führte zu dessen/deren Entdeckung
b) der Schmerz wird verstärkt durch einen physikalischen Reiz, der auf den betroffenen
Zahn einwirkt
-
die Symptomatik ist nicht besser durch eine andere ICOP-Diagnose erklärbar
Im Anschluss werden die verschiedenen Ursachen der Pulpaschmerzen als Unterpunkte
aufgelistet – bspw. „Pulpaschmerz aufgrund einer Überempfindlichkeit“, „Pulpaschmerz
aufgrund einer Pulpitis“ etc. Die ICOP ist äußerst detailliert, so dass manche Schmerz-Untergruppen
durch bis zu sieben Unterpunkte kodiert werden.
Kritische Würdigung
Von den inhärenten Leitprinzipien einer Klassifikation erfüllt die ICOP die biologische
Plausibilität, die Vollständigkeit, die gegenseitige Ausschließlichkeit der Elemente
und größtenteils auch die Zuverlässigkeit. Allerdings bleibt die Einfachheit der Nutzung
für jeden, der im Bereich der Zahnmedizin oder Neurologie tätig ist, teilweise unbefriedigend.
Die Sinnhaftigkeit der Einteilung nach Schmerzfrequenz müsste sich auch für nicht-kopfschmerzassoziierte
Schmerzen bewähren. Folglich scheint die ICOP primär für Lehr- und Forschungszwecke
nützlich zu sein. Im klinischen Alltag wird dieses detaillierte Werk eine effiziente
Diagnosestellung vermutlich kaum unterstützen.
Ausblick
Prävalenz Ein wertvolles Element, was die ICOP und auch jede andere, zukünftige Klassifizierung
zweckdienlicher für die Diagnostik gestalten könnte, wären Informationen zur Prävalenz
jeder aufgelisteten Entität. Die Erwähnung der Häufigkeit des Auftretens einer bestimmten
Form orofazialer Schmerzen ließe sich bspw. in Form des Mittelwerts ausgewählter Studien
realisieren. Das Wissen über die Prävalenz würde eine zielgerichtete Differentialdiagnostik
erheblich erleichtern. Ein Kliniker, der weiß, wie häufig ein bestimmtes Krankheitsbild
auftritt, kann sein differentialdiagnostisches Handeln entsprechend ausrichten. Hiervon
profitieren würden nicht nur alle medizinischen Professionen in sämtlichen Versorgungsstufen
von der hausärztlichen Allgemeinpraxis bis hin zur Spezialklinik, sondern v. a. auch
Patienten mit orofazialen Schmerzen.
Datenquellen Die besten Datenquellen, um Prävalenzen zu ermitteln, sind Stichproben in wissenschaftlichen
Untersuchungen. Die in die Studien eingeschlossenen Probanden repräsentieren hierbei
entweder die gesamte Bevölkerung oder aber Patienten der ersten beiden Versorgungsstufen,
d. h. in Allgemeinpraxen und Kliniken.
Prävalenz orofazialer Schmerzen
Prävalenz orofazialer Schmerzen
Für orofaziale Schmerzen liefert die wissenschaftliche Literatur diverse Daten aus
bevölkerungsrepräsentativen Stichproben. Diese geben Aufschluss über die Häufigkeit
des Auftretens verschiedener Schmerzen. Im Folgenden werden besonders relevante Untersuchungen
angeführt, die zeigen, wie oft die einzelnen Formen orofazialer Beschwerden apparent
werden. Durch dieses Procedere soll sich gleichzeitig herauskristallisieren, welche
orofazialen Krankheitsbilder gerade für die Physiotherapie relevant sind.
Im Jahr 2015 berichteten Orapin Horst et al. von der Universität in San Francisco
über eine 16,1%ige Jahresprävalenz orofazialer Schmerzen unter jenen Patienten, die
niedergelassene Zahnärzte konsultierten [8]. Von diesen Patienten litten 9,1% unter dentoalveolären Schmerzen sowie 6,6% unter
muskuloskelettalen (CMD-)Schmerzen. Alle übrigen Formen des Gesichtsschmerzes waren
hingegen äußerst selten [8].
Ein ähnliches Bild zeichnet die Untersuchung von Anne McMillan et al. von der Universität
Hong Kong [9]. In der Studie aus dem Jahr 2006 wurden die häufigsten mit Gesichtsschmerz assoziierten
Symptome in der allgemeinen Bevölkerung aufgelistet. Die Untersuchung ergab, dass
einschießende Schmerzen als Zeichen neuropathischer Schmerzen am weitaus seltensten
auftraten [9]. Mehrere epidemiologische Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen [10], [11], [12], [13].
Eine kurze Zusammenfassung ausgewählter Studien zur Prävalenz orofazialer Schmerzen
zeigt folgende Tabelle ([Tab. 3]).
Tab. 3 Zusammenfassung ausgewählter Studien zur Prävalenz orofazialer Schmerzen in der Allgemeinbevölkerung.
Quelle
|
Stichprobe1
|
Land/Region
|
Zeitraum2
|
orofazialer Schmerz
|
dentoalveolär
|
muskulo-ligamentär
|
neuro-vaskulär
|
1 n: Anzahl der Studienteilnehmer; w: weiblich; m: männlich. 2 Angabe des Studienzeitraums in Monaten
|
Aggarwal et al. 2007 [14]
|
-
n = 2505
-
w+m
-
18 – 75 Jahre
-
allgemeine Bevölkerung
|
Großbritannien
|
1
|
7,70%
|
2,28%
|
1,76%
|
0,80%
|
Chung et al. 2004 [15]
|
-
n = 1032
-
w+m
-
55 – 85 Jahre
-
allgemeine Bevölkerung
|
Süd-Korea
|
6
|
42,00%
|
-
ges.: 26,8%
-
w: 26,8%
-
m: 26,8%
-
Zahn
|
-
ges.: 26,2%
-
w: 28,5%
-
m: 23,0%
-
Mund
|
-
ges.: 15,5%
-
w: 16,1%
-
m: 14,8%
-
Kiefergelenk
|
-
ges.: 9,3%
-
w: 9,9%
-
m: 8,5%
-
Gesicht/Wangen
|
-
ges.: 14,2%
-
w: 17,4%
-
m: 10,1%
-
BMS
|
Horst et al. 2015 [8]
|
|
USA (Nordwest)
|
12
|
16,10%
|
9,10%
|
6,60%
|
|
Lipton et al. 1993 [10]
|
-
n = 272
-
w+m
-
20 – 45 Jahre
-
allgemeine Bevölkerung
|
USA
|
6
|
|
-
ges.: 12,2%
-
w: 12,5%
-
m: 12%
-
Zahn
|
-
ges.: 8,4%
-
w: 8,9%
-
m: 7,8%
-
Mund
|
-
ges.: 5,3%
-
w: 6,9%
-
m: 3,5%
-
Kiefergelenk
|
-
ges.: 1,4%
-
w: 1,9%
-
m: 0,9%
-
Gesicht/Wangen
|
-
ges.: 0,7%
-
w: 0,8%
-
m: 0,6%
-
BMS
|
Macfarlane et al. 2002 [11]
|
|
Großbritannien (South East Cheshire)
|
1
|
-
ges.: 25,8%
-
w: 29,8%
-
m: 20,8%
|
|
-
5,7%: Kiefergelenk
-
6,0%: vor dem Ohr
|
-
3,5%: beim Öffnen des Mundes
-
3,8%: beim Kauen
-
9,6%: in und um die Schläfen
|
|
McMillan et al. 2006 [9]
|
-
n = 1222
-
w+m
-
≥ 18 Jahre
-
allgemeine Bevölkerung
|
Hong Kong
|
1
|
-
ges.: 41,6%
-
w: 42,1%
-
m: 40,8%
|
-
ges.: 12,5%
-
w: 11,3%
-
m: 14,3%
-
Zahn
|
-
ges.: 5,0%
-
w: 3,8%
-
m: 6,7%
-
Kiefergelenk
und
-
ges.: 6,9%
-
w: 7,0%
-
m: 6,7%
-
vor dem Ohr
|
-
ges.: 6,1%
-
w: 5,2%
-
m: 7,3%
-
beim Kauen
und
-
ges.: 3,2%
-
w: 2,0%
-
m: 5,0%
-
beim Öffnen des Mundes
|
-
ges.: 3,7%
-
w: 2,8%
-
m: 5,0%
-
brennend
und
-
ges.:1,1%
-
w: 1,0%
-
m: 1,2%
-
einschießend
|
Riley et al. 2001 [12]
|
-
n = 724
-
w+m
-
45 – 96 Jahre
-
allgemeine Bevölkerung
|
USA (Nord Florida)
|
6
|
42,70%
|
-
ges.: 12,0%
-
w: 12,0%
-
m: 11,9%
-
Zahn
|
-
ges.: 15,6%
-
w: 17,8%
-
m: 12,6%
-
Mund
|
-
ges.: 8,3%
-
w: 9,6%
-
m: 6,2%
-
Kiefergelenk
|
-
ges.: 3,1%
-
w: 4,0%
-
m: 1,6%
-
Gesicht
|
1,6%: BMS
|
Schmerzchronifizierung
Das Phänomen der Schmerzchronifizierung ist ein zentraler Aspekt, der v. a. bei der
Diagnose muskuloskelettaler Gesichtsschmerzen zu beachten ist. Diesen Gesichtspunkt
hat die ICOP zwar eingeführt, jedoch spielt der Faktor Zeit – nach dem aktuellen Verständnis
über die Schmerzverarbeitung – nur eine untergeordnete bzw. keine Rolle, um Schmerzen
als chronisch zu charakterisieren. Stattdessen gilt die schmerzbedingte Dysfunktionalität
auf anderen Ebenen – im Alltags-, Berufs-, Familien- und Sozialleben – als zuverlässiger
Indikator für eine dysfunktionale Schmerzchronifizierung.
GCPS Die diagnostische Entscheidung darüber, ob ein muskuloskelettaler Gesichtsschmerz
als „akut“, „akut-persistierend“ oder „chronisch-dysfunktional“ einzustufen ist, erfolgt
mithilfe einfacher Fragebögen wie bspw. dem ‚Graded Chronic Pain Status‘ (GCPS) [16]. Diese Ergänzung zur allgemeinen Diagnostik spielt für die therapeutische Entscheidung
eine bedeutende Rolle.
Beispiel Die ICOP beschreibt „primäre myofasziale orofaziale Schmerzen“ als „Schmerzen in
der Kaumuskulatur, mit oder ohne Funktionsbeeinträchtigung, die nicht auf eine andere
Erkrankung zurückzuführen sind“ und unterteilt diesen anschließend in „akuten primären“
und „chronischen primären myofaszialen orofazialen Schmerz“. Leider beschränken sich
die diagnostischen Kriterien auf eine Dauer von mehr als drei Monaten. Dieser Hinweis
ist für die Feststellung einer Chronifizierung jedoch häufig irrelevant und kann zu
einer Fehldiagnose führen, die u. U. eine nicht indizierte Therapie auslöst.
Fazit
Aus der Vielzahl dieser wissenschaftlichen Daten und Informationen können folgende
Schlussfolgerungen gezogen werden:
Merke
Quintessenz
-
In der Allgemeinbevölkerung stellen Schmerzen intraoraler Ätiologie (Zahn- und Mundschmerzen)
die häufigste Form orofazialer Schmerzen dar. Die zweithäufigste Schmerzquelle scheinen
die Kaumuskeln zu sein, gefolgt von den Kiefergelenken. Alle anderen Schmerzen überwiegend
neurovaskulärer Ätiologie sind eher selten. Ausnahmen sind das Burning-Mouth-Syndrome
und verschiedene CMD-assoziierte Kopfschmerzen.
-
Die aktuelle ICOP sollte nur zielführend eingesetzt werden. Sie eignet sich für die
Lehre und für Studien im entsprechenden Bereich, um Schmerzen im Detail zu beschreiben.
-
Bei der Differentialdiagnostik sollte der Kliniker einerseits mit den diagnostischen
Kriterien der entsprechenden Schmerzformen vertraut sein, andererseits sollte er über
deren Prävalenz Bescheid wissen. Folglich sollten in der Praxis zuallererst die vermehrt
auftretenden Schmerzformen ausgeschlossen werden, bevor eher seltene und somit unwahrscheinlichere
Diagnosen gestellt werden.
-
Die diagnostische Entscheidung über eine dysfunktionale Schmerzchronifizierung sollte
Kriterien wie die Funktionalität in Alltag, Beruf und Sozialleben berücksichtigen
und nicht allein auf die Schmerzdauer fokussieren.