Psychiatr Prax 2021; 48(02): 59-61
DOI: 10.1055/a-1347-3349
Editorial

Digitale Phänotypisierung: Segen oder Fluch?

Digital Phenotyping – Blessing or Curse?
Tilman Steinert
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau), ZfP Südwürttemberg
,
Samuel Thoma
2   Immanuel Klinik Rüdersdorf, Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane
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Tilman Steinert
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Samuel Thoma

Stellen Sie sich eine Smartphone-App vor, die mittels GPS-Daten ermittelt, wenn ein Suchtpatient sich seiner Stammkneipe nähert und sofort die zuständige Klinikerin informiert. So kann man intervenieren, bevor der Rückfall eingetreten ist und nicht erst Wochen später mit einem längeren Klinikaufenthalt. Mit dieser verheißungsvollen Einleitung weist ein Autorenteam von Psychiatern und Informatikern aus New York und von der Harvard Universität in Boston in einem kürzlich erschienenen Beitrag in World Psychiatry auf den Quantensprung hin, der sich gerade in der psychiatrischen Behandlung vollziehe [1].

Einer deren prominentester Fürsprecher ist der frühere Direktor des amerikanischen National Institute of Mental Health, Tom Insel. In den vergangenen Jahrzehnten sei es trotz großer Investitionen in die Hirnforschung nicht gelungen, die Primärprävention, Frühintervention und Behandlung psychischer Erkrankungen wesentlich voranzubringen. Diagnostik und Behandlung in der Psychiatrie litten weiterhin unter dem weitgehenden Fehlen objektiver Messungen [2]. Das werde jetzt mittels Smartphone-basierter Techniken möglich und 2050 würden wir voraussichtlich rückblickend feststellen, dass dies die wichtigste Innovation des Jahrhunderts war. Pro Person fallen monatlich geschätzt 65 Gigabyte Daten an [1], weltweit haben über 3 Milliarden Menschen Internetzugang, auch solche, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben [2]. Über Smartphones können drei Typen von Daten generiert werden: Passive Daten, z. B. mittels GPS generierte Bewegungsprofile oder Schlafdaten über Accelerometer, „aktive“ Daten über regelmäßige Selbsteinschätzungen (sog. „ecological momentary assessments“, EMA) und, besonders interessant, Metadaten: Es wird nicht gemessen, was man am Display tippt, sondern wie (Geschwindigkeit, Zeitlatenz zwischen Scrollen und Klicken, Andruckstärke usw.). Eine gute Korrelation mit kognitiver Leistungsfähigkeit und emotionalen Zuständen wurde bereits nachgewiesen. Auf die Ähnlichkeit mit kognitiven Leistungstests wird verwiesen – mit dem Unterschied, dass die „Testdaten“ nicht punktuell in einer künstlichen klinischen Situation erhoben werden, sondern nahezu kontinuierlich in alltagsbezogenen Situationen vorliegen [1] [2] und somit auch ohne zeitliche Latenz sensitiv für Veränderungen sind. Wenn noch die Analyse von Sprach- und Textnachrichten (ebenfalls „passive“ Daten) nach formalen und inhaltlichen Merkmalen hinzukommt und die Datenströme individuell zusammengeführt werden, erweitern sich die Möglichkeiten entsprechend. Kann das funktionieren und praktische Relevanz erreichen? Diese Frage ist im Grunde bereits beantwortet, wenn auch die Generierung entsprechender Evidenz sicher erst am Anfang steht und die nachfolgend genannten Studien jeweils nur ein kleines Spektrum der theoretisch verfügbaren Daten nutzten. Bei Patienten mit Schizophrenie konnte mit einer Analyse passiver Smartphone-generierter Daten gezeigt werden, dass definierte „Anomalien“ der Profile in den zwei Wochen vor einem Rückfall signifikant zunahmen [3]. Allein aus der Analyse von Suchtermen bei Internetrecherchen konnten Rückfälle bei Menschen mit Schizophrenie mit mäßiggradiger Sensitivität vorhergesagt werden [4]. Mit der Nutzung passiver Daten konnte Craving bei Opiatabhängigen in einem Zeitraum von 90 Minuten in der Zukunft vorhergesagt werden [5]. Auch bei depressiven Kindern und Jugendlichen wurde bereits eine Vielzahl Smartphone-basierter Techniken entwickelt, die vorwiegend auf passiven Daten basieren [6]. Ein besonders interessanter Anwendungsbereich für alle genannten Datentypen ist Suizidalität, wobei sich in den so ermöglichten Untersuchungen gezeigt hat, dass die Ausprägung von Suizidalität im Zeitverlauf auch kurzfristig sehr stark variiert, was wiederum Möglichkeiten der unmittelbaren Intervention eröffnet [7] [8]. In Boston wurde bereits eine „Digitale Klinik“ im Echtbetrieb eröffnet, die ausschließlich auf der Nutzung solcher Technologien basiert [9].

Die Vorteile dieser Entwicklung stehen verheißungsvoll am Horizont: 1. Die vermutlich erst am Anfang stehende Nutzung personalisierter Big Data zielt gleich auf den Königsweg der Interventionen, nämlich Primärprävention und Frühintervention mit dem Ziel einer messbaren Verbesserung im Bereich „Global Mental Health“, ein Feld, in dem die Psychiatrie bisher noch relativ wenig Erfolge aufzuweisen hat; 2. der lang gehegte Wunsch der Psychiatrie nach Diagnose und Therapie aufgrund objektivierbarer Daten wird erfüllt; 3. Diagnose und Behandlung erfolgen nicht mehr aufgrund einmaliger subjektiver Befunderhebung in künstlichen Situationen, sondern aufgrund von ökologisch validen kontinuierlich erhobenen Daten; 4. die seit Längerem aus neurobiologischer Sicht artikulierte, bisher aber kaum in Ansätzen realisierte Vision einer „personalisierten“ (individuell spezifischen) und „translationalen“ (grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse in die Routinepraxis übertragenden) Medizin in der Psychiatrie wird unmittelbar wahr [2]; 5. einmal entwickelte Techniken sind problemlos und kostengünstig skalierbar, können das Problem des Fachkräftemangels lösen und bieten erstmals eine realisierbare Lösung auch für die Länder des globalen Südens vor dem Hintergrund der extrem ungleichen Ressourcenverteilung. Und schließlich scheint das Entwicklungspotenzial und Forschungsfeld nahezu unermesslich; Industriepartnerschaften und Drittmittel winken in einem Ausmaß, das das scheinbare Auslaufmodell pharmakologische Forschung weit hinter sich lässt.

Zeitgleich und möglicherweise sogar unabhängig davon hat im DSM-5 die Entwicklung Einzug gehalten, neben der kategorialen eine im Grunde schon sehr lange diskutierte dimensionale Diagnostik parallel einzuführen. Auch in der Forschung gibt es mit den „Research Domain Criteria“ viel beachtete Ansätze, die sich von klinischen Krankheitskategorien verabschieden und sich auf außerklinische Verhaltensweisen und Risikoparameter stützen. Die digitale Phänotypisierung erlaubt es, diese außerklinischen Merkmale ebenfalls dimensional in noch nie dagewesenem Umfang zu erfassen, sodass auch in diesem Feld erhebliche Synergien zu erwarten sind.

Es handelt sich bei der digitalen Phänotypisierung und dieser Nutzung personenbezogener großer Datenmengen nicht um eine Entwicklung, die die Zukunft betreffen könnte. Die Entwicklung hat rasant Geschwindigkeit aufgenommen und ist in manchen Ländern längst Gegenwart. Die Frage, ob „wir“ (wer eigentlich? Psychiaterinnen und Psychiater, Psychologinnen und Psychologen, andere Professionelle im Gesundheitswesen, Betroffene, Angehörige, Kostenträger? Möglicherweise sind die Interessen sehr divergierend) diese Entwicklung wollen, kommt fast schon zu spät. Wichtiger ist, wie wir auf sie reagieren werden.

Es liegt auf der Hand, dass die Vorhersagefähigkeit der Algorithmen sich mit zunehmender Zahl der eingebundenen Datenströme immer weiter verbessern wird. Es ist auch unschwer vorherzusagen, wer dabei die größten Erfolge erzielen wird: Forscherinnen und Entwickler aus Ländern, die bereits jetzt intensiv an der digitalen Überwachung der gesamten Bevölkerung arbeiten, individuelle Freiheitsrechte und Datenschutzbedenken nicht kennen und somit über einen weit überlegenen „Datenschatz“ für prädiktive Modelle aller Art verfügen (vom Suchtrückfall über Suizidversuche und Gewaltbereitschaft bis hin zu Dissidententum). Was ihnen bisher weitgehend fehlt, ist der Zugriff auf das Psychische als Kernbereich der Persönlichkeit schlechthin. „Wir“ (in diesem Fall Psychiatrie als angewandte Wissenschaft mit Industriepartnerschaften) haben uns mit Enthusiasmus auf den Weg gemacht, diese Lücke durch die digitale Psychiatrie zu schließen, wenngleich Aspekte von Ethik und Datenschutz in den einschlägigen Publikationen pflichtgemäß durchaus angesprochen werden [1] [2]. Die mit der digitalen Psychiatrie gepaarte Unterwanderung eines klinischen Krankheitsbegriffs durch den soeben genannten dimensionalen diagnostischen Ansatz bietet vollkommen neue Möglichkeiten, Mitglieder einer Gesellschaft mit Verweis auf bestimmte Risikoprofile in ihrem Alltag zu bewerten, zu behandeln und damit unser aller Lebenswelt zu psychiatrisieren [10].

Autoritäre Staaten werden mit Sicherheit Lösungen mit maximaler zentraler Kontrolle auch dieser Daten anstreben. Die Psychiatrie mit ihren leistungsfähigsten Forscherinnen und Forschern könnte also gegenwärtigen und vor allem auch zukünftigen Diktaturen das Werkzeug zur Perfektionierung der Repression liefern und würde damit zur Gefahr nicht nur für psychisch kranke Menschen, sondern für die Menschheit insgesamt. Die Gefahr liegt also letztlich weniger in der Digitalisierung der Psychiatrie als in der Psychiatrisierung des digitalen und schließlich des öffentlichen Raums.

Gleichzeitig ist die Perfektionierung der digitalen Diagnostik auch das Programm zur Abschaffung der Psychiatrie in der Form, wie wir sie kennen. Im Kern wird die Psychiaterin durch einen Programmierer ersetzt. Bereits heute erscheinen maßgebliche Fachartikel zum Thema Digital Mental Health nicht mehr in psychiatrischen, sondern in technologischen Journals [11]. Mit der Einführung der kriterienorientierten Diagnostik hat sich verstehende Psychopathologie bereits zum Zählen von Symptomen gewandelt. Die Verhaltensbeobachtung der „Störungen des Erlebens und Verhaltens“ (Kapitel V [F] der ICD-10) wurde zumindest nach der Ansicht amerikanischer Experten [2] bereits jetzt weitgehend durch die Zuordnung einer Diagnose aus dem DSM ersetzt. Künftig entfällt möglicherweise auch das, wenn man mittels Machine Learning-Algorithmen aus den digitalen Galaxien Cluster ähnlichen Verhaltens mit ähnlicher Verhaltensprognose und ähnlichem Ansprechen auf (personalisierte digitale) Interventionen extrahiert hat, die dann als evidenzbasierte Syndrome gelten können und zu deren Identifikation im individuellen Fall es keiner Facharztausbildung bedarf. Das macht dann „das System“. Die subjektive Erfahrung der Betroffenen oder auch die therapeutische Begegnung haben dabei nichts mehr zu suchen. In der „Digitalen Psychiatrischen Klinik“ in Boston gibt es auch tatsächlich bereits ein neues Teammitglied: den „digitalen Navigator“ [9] [11]. Vielleicht macht er in absehbarer Zeit die alten überflüssig. Welche Bedeutung werden in einer solchen, möglicherweise hoch effektiven „personalisierten Psychiatrie“ noch persönliche Zuwendung, empathisches Verstehen und differenziertere psychopathologische Kenntnisse, ja überhaupt die eigentliche Person der Betroffenen, haben? Möglicherweise keine.

Was also tun? Die Digitalisierung der Psychiatrie ist nicht aufzuhalten. Doch wir (Professionelle, Betroffene und Angehörige) sollten sie uns sinnvoll aneignen – und zwar mit dem Ziel der sozialen Teilhabe, wie sie in der UN-BRK formuliert ist. Der digitale Raum bietet dabei die besondere Möglichkeit, Kommunikationsschranken und Wissenshierarchien abzubauen und das Verständnis für die vielfältigen Erfahrungen und Bedürfnisse in den unterschiedlichen Versorgungskontexten zu verbessern. Für die Ermöglichung von sozialer und digitaler Teilhabe benötigt die Psychiatrie weder digitale Diagnostik noch Selbstmanagement-Apps. Sie benötigt Betroffene, Angehörige und Professionelle, die sich den digitalen Raum als Teilhabemedium aneignen und sich der digitalen Phänotypisierung widersetzen.


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Torous J, Choudhury T, Barnett I. et al. Smartphone relapse prediction in serious mental illness: a pathway towards personalized preventive care. Word Psychiatry 2020; 19: 308-309
  • 2 Insel TR. Digital phenotyping: a global tool for psychiatry. World Psychiatry 2018; 17: 276-277
  • 3 Barnett I, Torous J, Staples P. et al. Relapse prediction in schizophrenia through digital phenotyping: a pilot study. Neuropsychopharmacology 2018; 43: 1660-1666
  • 4 Birnbaum ML, Kulkarni PP, Van Meter A. et al. Utilizing machine learning on internet search activity to support the diagnostic process and relapse detection in young individuals with early psychosis: Feasibility study. JMIR Ment Health; 2020 [published online first]
  • 5 Epstein DH, Tyburski M, Kowalczyk WJ. et al. Prediction of stress and drug craving ninety minutes in the future with passively collected GPS data. NPJ Digit Med 2020; 3: 26
  • 6 Sequeira L, Perrotta S, LaGrassa J. et al. Mobile and wearable technology for monitoring depressive symptoms in children and adolescents: A scoping review. J Affect Disord 2020; 265: 314-324
  • 7 Kleiman EM, Turner BJ, Fedor S. et al. Examination of real-time fluctuations in suicidal ideation and its risk factors: Results from two ecological momentary assessment studies. J Abnormal Psychol 2017; 126: 726-738
  • 8 Kleiman EM, Turner BJ, Fedor S. et al. Digital phenotyping of suicidal thoughts. Depress Anxiety 2018; 35: 601-608
  • 9 Rodriguez-Villa E, Rauseo-Ricupero N, Camacho E. et al. The digital clinic: Implementing technology and augmenting care for mental health. Gen Hosp Psychiatry 2020; 66: 59-66
  • 10 Beeker T, Thoma S. Die digitale Psychiatrie zwischen User-Empowerment und Psychiatrisierung. Suizidprophylaxe 2019; 3: 82-98
  • 11 Torous J, Wisniewski H, Bird B. et al. Creating a digital health Smartphone App and digital phenotyping platform for mental health and diverse healthcare needs: an interdisciplinary and collaborative approach. J Technol Behav Sci 2019; 4: 73-85

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Tilman Steinert
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau), ZfP Südwürttemberg
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
02 March 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Torous J, Choudhury T, Barnett I. et al. Smartphone relapse prediction in serious mental illness: a pathway towards personalized preventive care. Word Psychiatry 2020; 19: 308-309
  • 2 Insel TR. Digital phenotyping: a global tool for psychiatry. World Psychiatry 2018; 17: 276-277
  • 3 Barnett I, Torous J, Staples P. et al. Relapse prediction in schizophrenia through digital phenotyping: a pilot study. Neuropsychopharmacology 2018; 43: 1660-1666
  • 4 Birnbaum ML, Kulkarni PP, Van Meter A. et al. Utilizing machine learning on internet search activity to support the diagnostic process and relapse detection in young individuals with early psychosis: Feasibility study. JMIR Ment Health; 2020 [published online first]
  • 5 Epstein DH, Tyburski M, Kowalczyk WJ. et al. Prediction of stress and drug craving ninety minutes in the future with passively collected GPS data. NPJ Digit Med 2020; 3: 26
  • 6 Sequeira L, Perrotta S, LaGrassa J. et al. Mobile and wearable technology for monitoring depressive symptoms in children and adolescents: A scoping review. J Affect Disord 2020; 265: 314-324
  • 7 Kleiman EM, Turner BJ, Fedor S. et al. Examination of real-time fluctuations in suicidal ideation and its risk factors: Results from two ecological momentary assessment studies. J Abnormal Psychol 2017; 126: 726-738
  • 8 Kleiman EM, Turner BJ, Fedor S. et al. Digital phenotyping of suicidal thoughts. Depress Anxiety 2018; 35: 601-608
  • 9 Rodriguez-Villa E, Rauseo-Ricupero N, Camacho E. et al. The digital clinic: Implementing technology and augmenting care for mental health. Gen Hosp Psychiatry 2020; 66: 59-66
  • 10 Beeker T, Thoma S. Die digitale Psychiatrie zwischen User-Empowerment und Psychiatrisierung. Suizidprophylaxe 2019; 3: 82-98
  • 11 Torous J, Wisniewski H, Bird B. et al. Creating a digital health Smartphone App and digital phenotyping platform for mental health and diverse healthcare needs: an interdisciplinary and collaborative approach. J Technol Behav Sci 2019; 4: 73-85

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