Schlüsselwörter
Hyposmie - Ageusie - Epidemiologie - SARS-CoV-2 - Anosmie
Key words
anosmia - hyposmia - ageusia - epidemiology - SARS-CoV-2
Grundlagen: Anatomie und Physiologie der Chemosensorik
Grundlagen: Anatomie und Physiologie der Chemosensorik
Unter dem Begriff der
Chemosensorik
oder auch
chemische Sinne
wird die Sinneswahrnehmung chemischer Substanzen aus der Umgebung zusammengefasst.
Diese Wahrnehmung erfolgt in komplexer Vielfalt und Interaktion über den Riech- und
Geschmackssinn. Dabei werden Substanzen an Rezeptoren gebunden und Signale über die
entsprechenden Hirnnerven weitergeleitet.
Der Riechsinn erfüllt eine Reihe grundlegender Funktionen, die im Alltag häufig nur
un- oder unterbewusst wahrgenommen werden [1]. Hierzu zählen insbesondere:
-
Nahrungsaufnahme mit Appetitanregung durch Aroma – aber auch Warnfunktion (Verdorbenes,
Gift)
-
Wahrnehmung von Gefahren (z. B. Brandgeruch, Gestank)
-
Interpersonelle und soziale Kommunikation (z. B. Wohlgeruch, Parfüm; Körpergerüche,
Schweiß)
Bei der komplexen Geruchs- und Geschmackswahrnehmung beim Essen und Trinken wirken
Eindrücke aus 3 Sinneskanälen zusammen:
-
Olfaktorisches System
(mehrere Millionen olfaktorische Rezeptorneurone, die jeweils einen von beim Menschen
etwa 380 verschiedenen funktionellen Rezeptoren exprimieren [2]; N. olfactorius, Bulbus olfactorius)
-
Gustatorisches System
(N. facialis, N. glossopharyngeus, N. vagus), 5 Geschmacksqualitäten: süß, sauer,
salzig, bitter, umami (z. B. Glutamat)
-
N. trigeminus
(Schärfe von z. B. Peperoni, Senf; Konsistenz, Prickeln von Kohlensäure; Temperatur)
Riecheindrücke sind komplex, weil durch das Ansprechen verschiedener Rezeptoren eine
beinahe unbegrenzte Vielzahl unterschiedlicher Erregungsmuster im Bulbus olfactorius
entstehen können, die die Qualität von Düften kodieren. Riecheindrücke entstehen,
indem Gerüche entweder beim Schnüffeln von außen zur Riechschleimhaut gelangen; beim
Essen und Trinken jedoch über den Rachen (retronasal). Hierdurch kann gerade beim
Essen und Trinken die Diskriminierung von Störungen des Riechens bzw. Schmeckens unscharf
und schwierig sein [3].
Störungen der Chemosensorik
Störungen der Chemosensorik
Zu z. T. erheblichen Beeinträchtigungen der Riechfunktion (und Schmeckfunktion) kommt
es mit fortschreitendem Alter. Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen, insbesondere
dem idiopathischen Parkinson-Syndrom und Demenzen, sowie bei fronto-orbitalen Schädel-Hirn-Traumata
kommen Riechstörungen besonders häufig vor. Weiterhin sind virusvermittelte Infekte
als Ursachen einer postviralen Anosmie bekannt. Schließlich können z. B. im Rahmen
der chronischen Rhinosinusitis entzündliche Veränderungen oder mechanische Verlegungen
im Bereich der Nase und ihrer Nebenhöhlen zu Riechstörungen führen [3].
Postvirale Anosmien
Riechstörungen in der Folge viraler (grippaler) Infekte der oberen Atemwege sind als
postvirale Anosmien seit langem bekannt. Bednar 1930 beschrieb eine Anosmie nach Influenza [4]. Schaupp vertiefte die Thematik später [5]. Postvirale Anosmien wurden in der Folge nach Infektionen mit einer Reihe von Erkältungsviren,
u.a. Adeno- und Rhinoviren, beschrieben [6], [7].
Häufig sind postvirale Anosmien mit nasalen Symptomen vergesellschaftet: Schnupfen,
Niesen, Rhinorrhoe, Kongestion, Obstruktion. Eine Riechstörung bis zur Anosmie im
Rahmen von viralen Atemwegsinfekten kann insofern eine reine Begleiterscheinung des
Infekts mit einer mechanischen Verlegung der Atemwege sein. Pathophysiologisch kommen
auch ein direkter Virus-Befall der Sinneszellen mit resultierender Funktionsstörung
und Apoptose sowie mögliche Folgen einer Immunreaktion in Frage. Bei SARS-CoV-2 geht
die Riechstörung – anders als bei den meisten respiratorischen Viren – überwiegend
nicht mit Symptomen einer Rhinitis einher, sodass vor allem direkte schädigende Effekte
des Virus auf olfaktorische Rezeptorneurone diskutiert werden.
Neurotropismus von Coronaviren
Neurotropismus von Coronaviren
Coronaviren sind neurotrop und können neuroinvasiv sein [8]. ACE2 ist ein Rezeptor für SARS-CoV-1 [9]. In ACE2-transgenen Mäusen (Expression von humanem ACE2) gelangt SARS-CoV-1 über
den Riechnerv in das Gehirn und führt dort zu neuronalem Zelltod ohne relevante Entzündungsreaktion
sowie zum Tod der Tiere [10]. Allerdings gibt es nur einen einzigen Fallbericht einer anhaltenden Anosmie bei
einer jungen Frau nach SARS durch SARS-CoV-1 [11].
Auch SARS-CoV-2 gelangt über den Oberflächenrezeptor ACE2 in Zellen und benötigt zur
Membranfusion die Wirtsprotease TMPRSS2 (Transmembrane Protease Serine Subtype 2)
[12]. Daneben scheint nach vorläufigen Daten auch ein Eintritt des Virus über Neuropilin
1 (NRP-1) in olfaktorische Epithelzellen und in das Gehirn möglich [13]. So kann eine Riechstörung bei Covid-19 Ausdruck einer direkten Schädigung durch
SARS-CoV-2 auf Ebene des Riechepithels oder der Riechbahn sein [14] – oder aber eine weiterreichende Invasion des ZNS über die Riechbahn in das ZNS
anzeigen, wie das für andere Viren bereits gezeigt wurde [15]. SARS-CoV-2 wurde in Autopsien im menschlichen Gehirn nachgewiesen [16]. Daten über eine mögliche längerfristige Persistenz im ZNS und ggf. längerfristige
Folgen beim Menschen liegen bislang nicht vor.
Störungen der Chemosensorik bei Covid-19
Störungen der Chemosensorik bei Covid-19
Die ersten Berichte von Covid-Patienten beschrieben ab Anfang 2020 zunächst schwer
betroffene, meist intensiv- und beatmungspflichtigen Patienten aus China [17], [18], später Italien [19] und Deutschland [20]. Erstmals führten Mao et al. neurologische Symptome bei stationären Covid-19-Patienten
an, darunter bei 11 von 214 Patienten (5 %) Riechstörungen [21]. Kurz darauf beschrieb die Straßburger Gruppe ausführlich neurologische Symptome
bei 84 % der intensivpflichtigen Covid-19-Patienten [22]. Das Spektrum neurologischer Erkrankungen und Komplikationen von Covid-19-Patienten
sowie neurologische Aspekte von SARS-CoV-2 wurden mittlerweile in einer S1-Leitlinie
zusammengefasst [23]. Erste neuropathologische Untersuchungen von Patienten, die an Covid-19 verstorben
sind, zeigen bei einem Großteil Veränderungen wie Astrogliose (86 %) und entzündliche
T-Zell-Infiltrate (79 %). Bei der Hälfte der Fälle wurde SARS-CoV-2 in Hirnnerven
sowie im kaudalen Hirnstamm nachgewiesen [24].
Mildere Erkrankungsverläufe rückten erst im März 2020 vermehrt in den Blickpunkt.
Nach zunehmend häufigeren anekdotischen Berichten über Riechstörungen in der ersten
Märzhälfte brachte ein Interview mit dem Virologen Streeck, Institut für Virologie
des Universitätsklinikums Bonn, in der FAZ vom 16.03.2020 [25] das Thema an die breite Öffentlichkeit: Bei zwei Drittel seiner Heinsberger Patienten
bestehe eine Riechstörung. Die kurze wissenschaftliche Originalmitteilung hierzu folgte
erst deutlich später [26]. Kurz nach der ersten deutschen Pressemitteilung folgte ein Bericht aus Südkorea
[27], mit der Angabe von 15 % Riech- und Schmeckstörungen bei 3191 Patienten. Binnen
weniger Tage reagierten v.a. die HNO-Fachgesellschaften weltweit mit Empfehlungen
(z. B. in Großbritannien [28]: 21.03.2020). Aus dem Iran wurde ebenfalls noch im März eine Serie mit 10069 ambulanten
Patienten berichtet, von denen 48,2 % eine Anosmie angaben, davon 76,2 % mit plötzlichem
Beginn. Bei 83,4 % der Patienten mit Anosmie wurde auch eine Ageusie angegeben [29].
Die erste Arbeit, die ein Peer-Review-Verfahren durchlief, wurde Ende März aus Mailand
vorab online publiziert. Mit 31 von 59 berichteten gut die Hälfte der retrospektiv
befragten, inzwischen aus der stationären Behandlung entlassenen Patienten über Riech-
und / oder Schmeckstörungen [30]. Wesentliche Befunde, die sich in späteren Serien und Studien erhärteten, wurden
bereits erkannt: Besonders häufig erleben jüngere Patienten und Frauen Störungen der
Chemosensorik. Eine multizentrische Befragung in Europa fand bei beinahe 90 % von
417 überwiegend leicht betroffenen Patienten Riech- und Schmeckstörungen [31]. In beiden Arbeiten wurde beschrieben, dass bei etwa 12 % der Patienten diese Veränderungen
weiteren Erkrankungssymptomen vorangingen. Dabei ist durchaus bemerkenswert, dass
selbst erkrankte Ärzte die Riechstörung als solche nicht unmittelbar zuordnen konnten
und dann als äußerst eindrucksvoll erlebten [32]. Aus dem Iran wurden in einer kleineren Serie bei fast 100 % der Patienten Störungen
der Chemosensorik berichtet [33]. Ab Anfang April folgte eine Vielzahl von Berichten über chemosensorische Störungen
bei Covid-19. Die Arbeiten sind ausgesprochen heterogen, in der Pandemie wurden z. T.
noch vorläufige und widersprüchliche Daten sehr rasch publiziert. Eine Übersicht –
ohne Anspruch auf Vollständigkeit – findet sich im Zusatzmaterial, Tabelle 1. Auch wenn Details aktuell noch nicht als abschließend geklärt angesehen
werden können, zeichnen sich einige wesentliche Punkte ab:
-
Riech- und Schmeckstörungen sind bei Covid-19 häufig. Bei klinisch gering betroffenen Patienten ohne stationäre
Behandlungs- und Beatmungspflicht kommen sie bei ca. 60–70 % der Patienten vor.
-
Riech- und Schmeckstörungen bei Covid-19 kommen insbesondere bei leichteren Verlaufsformen vor; häufiger bei
vormals Gesunden, bei jungen Menschen; bei Frauen häufiger als bei Männern.
-
Weitere (fakultative) häufige Symptome bei leichten Verlaufsformen der Covid-19-Erkrankung mit Störung der Chemosensorik
können sein: (trockener) Reizhusten, Myalgien, Abgeschlagenheit, Temperatur / Fieber/erhöhter
Ruhepuls
-
Riech- und Schmeckstörungen können erstes (und seltener einziges) Symptom einer Covid-19-Erkrankung sein.
-
Ob eine pathophysiologisch eigenständige gustatorische Störung zusätzlich zu einer Riechstörung oder sogar unabhängig davon auftreten kann, ist noch ungeklärt; einige Autoren vertreten
die Ansicht, dass es sich vielmehr um den subjektiven Eindruck einer (zusätzlichen)
Schmeckstörung handeln dürfte, da bei einer Anosmie neben dem Riechen durch Schnüffeln
auch die retronasale Olfaktion bei der Nahrungsaufnahme beeinträchtigt bzw. ausgefallen
ist [34].
-
Riechstörungen bei Covid-19 sind häufig nicht mit Symptomen einer Rhinitis (Schnupfen, Niesen, Rhinorrhoe,
Kongestion, Obstruktion) vergesellschaftet und unterscheiden sich insofern phänomenologisch
und wahrscheinlich auch pathophysiologisch von anderen postviralen Riechstörungen.
-
Riechstörungen bei Covid-19 sind häufig deutlich ausgeprägt. Parosmien können initial bzw. im Krankheitsverlauf und der Regenerationsphase vorkommen; Phantosmien
sind seltener.
Klinische Diagnostik
In der Pandemie hat ein selbst berichteter plötzlicher Riechverlust bei Patienten
ohne nasale Obstruktion eine Spezifität von 97 % und eine Sensitivität von 65 % für
Covid-19 [35].
Damit sollte eine während der Pandemie neu auftretende Riechstörung / Anosmie (mit
oder ohne subjektivem Eindruck einer zusätzlichen gustatorischen Störung) unmittelbar
Anlass geben zu:
-
Selbst-Isolation/Quarantäne
-
Testung auf SARS-CoV-2 (über telefonische Kontaktaufnahme mit Hausarzt / Gesundheitsamt)
-
Verwendung persönlicher Schutzausrüstung bei professionellem Kontakt mit Betroffenen
Aufgrund der epidemiologischen Bedeutung für die Kontrolle der Ausbreitung von SARS-CoV-2
während der Pandemie sind Anamnese, Kontaktverfolgung, Schutzmaßnahmen für Kontaktpersonen
von besonderer Bedeutung.
Eine ausschließliche Selbstauskunft hinsichtlich Riech- oder Schmeckstörung korreliert
nur eingeschränkt mit objektiven Befunden [36]. Standardisierte Fragebögen können die Diagnosesicherheit erhöhen [37]. Gold-Standard ist die psychophysische Testung, bei der für die Riechfunktion getestet
werden: Riechschwelle (z. B. mit Rosenduft-Verdünnungsreihe), Geruchs-Diskrimination
und Riechstoff-Identifikation (z. B. mit Sniffin` Sticks). Für das Geschmacksempfinden
werden die Qualitäten süß, sauer, salzig, bitter getestet. Einschlägige Arbeiten hierzu
sind in (Online-Supplement, Tabelle 2) zusammengestellt.
Aufgrund des Expositionsrisikos für den Untersucher einerseits und eher geringer individueller
Relevanz für die Patienten andererseits wird man allerdings in der Akutsituation in
der Regel auf die psychophysische chemosensorische Testung verzichten bzw. selbstständig
durchführbare Wegwerf-Testsysteme einsetzen, wie z. B. einen Duftidentifikationstest
(UPSIT Test [38]). Sofern dies (z. B. aus epidemiologischen Gründen und in Situationen, in denen
nicht unmittelbar mittels Rachenabstrich und RT-PCR auf SARS-CoV-2 getestet werden
kann) erforderlich scheint, ist eine Selbst-Testung der Patienten in häuslicher Quarantäne
mit haushaltsüblichen Riechstoffen und nach Anleitung selbst hergestellten Schmecklösungen
möglich [39], [40]
[Abb. 1].
Abb. 1 Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie bei Verdacht auf COVID-19-assoziierten Riechverlust.
Bildgebung
Erste Fallberichte haben mittels konventioneller MRT-Diagnostik zunächst keine spezifische
Pathologie des olfaktorischen Systems bei Covid-19-Patienten mit Riechstörungen nachgewiesen
[41], [42]. Zwischenzeitlich häufen sich Berichte, die entweder eine Schleimhautschwellung
mit Sekret in der Olfactoriusrinne (cCT, cMRT) oder (reversible) Signalveränderungen
in Bulbus und / oder N. olfactorius (MRT) nachweisen [43], [44]. In einer größeren Serie aus New York wurden bei lediglich 4 von 278 Patienten mit
zerebraler Bildgebung Veränderungen im N. / Bulbus olfactorius gesehen [45]. In Einzelfällen wurden auch strukturelle bzw. funktionelle Veränderungen im orbitofrontalen
Kortex beschrieben [46], [47], deren Signifikanz derzeit nicht verlässlich beurteilt werden kann. Arbeiten zu
bildgebenden Befunden sind in (Online-Supplement, Tabelle 3) zusammengestellt. Insgesamt scheinen die – noch sehr heterogenen – bildgebenden
Befunde Hinweise zu geben auf eine mögliche strukturelle Pathologie der Riechbahn,
zumindest bei einem Teil der Covid-19-Patienten mit Riechstörungen. Die Relevanz dieser
Befunde kann derzeit allerdings noch nicht abschließend bewertet werden.
Bei individuellen Covid-19-Patienten mit im Vordergrund stehender Störung der Chemosensorik
ohne weitere fokal-neurologische Symptome wird zerebrale Bildgebung in der Regel nicht
erforderlich sein. Ihren Platz hat sie ggf. im Rahmen der Differential- oder Ausschlussdiagnostik
bzw. zu wissenschaftlichen Zwecken.
Verlauf und Therapie
Der Verlauf von Riech- und Schmeckstörungen bei Covid-19 wird grundsätzlich als günstig
angesehen: Ein Großteil der Patienten berichtet eine vollständige bzw. weitgehende
Besserung binnen 2–3 Wochen. Nach aktueller Datenlage bleiben bei ca. 10–20 % der
Betroffenen relevante Einschränkungen zurück [31], [48]–[50]. Gegenwärtig ist nicht beurteilbar, inwieweit bei diesen Patienten nach Monaten
oder auch Jahren mit einer Erholung zu rechnen ist.
Eine Übersicht über aktuelle Arbeiten zum Verlauf chemosensorischer Störungen bei
bzw. nach Covid-19 findet sich im Online-Supplement (Tabelle 4).
Sofern eine Riechstörung im Rahmen einer Covid-19-Erkrankung sich nicht innerhalb
von 3–4 Wochen wieder weitgehend zurückgebildet hat, sollte diesbezüglich ggf. eine
neurologische und HNO-ärztliche Vorstellung erfolgen, mit Anamnese (u.a. auch hinsichtlich
möglicher konkurrierender / alternativer Ursachen) und Untersuchung, i. d. R. nach
negativem Rachenabstrich. In diesem Rahmen soll eine psychophysische Riech- und Schmecktestung
erfolgen, weiterhin ggf. weitere Diagnostik (ggf. Endoskopie, ggf. Bildgebung, Labor
[51]) [Abb. 1].
Sofern eine Riechstörung länger anhält, kann ein regelmäßiges „Riechtraining“ mit
Duftstoffen versucht werden (zweimal täglich fokussiertes Riechen an 4 Düften für
jeweils 30 Sekunden: Rose, Eukalyptus, Zitrone, Gewürznelke) [51], [52]
[Abb. 1]. Daneben kommt evtl. – mit allerdings geringer Evidenz aus einzelnen Studien – ein
Therapieversuch mit lokalem Vitamin A [53] bzw. oraler Omega-3-Säure in Frage [54]. Im englischsprachigen Raum kommen auch Kortikosteroide, systemisch und / oder topisch
appliziert, zum Einsatz [55].
Stellenwert chemosensorischer Störungen in der Covid-19-Pandemie
Stellenwert chemosensorischer Störungen in der Covid-19-Pandemie
Weitere Diagnostik oder Therapie der Riech- und / oder Schmeckstörung ist in der Pandemie
in der Akutphase in der Regel nicht erforderlich. Bei Bedarf kann eine neurologische
und / oder HNO-ärztliche Mitbehandlung erfolgen. Stationär behandlungsbedürftige Patienten
sollten ggf. niedrigschwellig neurologisch vorgestellt werden, auch mit Blick auf
andere neurologische Symptome, Manifestationsformen und Komplikationen der Covid-19-Erkrankung
[23] in
-
ZNS (insbesondere Enzephalopathie, Meningo- / Enzephalitis, zerebrovaskuläre Erkrankungen),
-
PNS (v.a. Guillain-Barré-Syndrom, Akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuritis)
und der
-
Muskulatur (häufig: Trias aus Myalgien, Fatigue, Hyper-CK-ämie; bei beatmeten Intensivpatienten
ICU-acquired weakness, ein Mischbild aus CIP [critical illness polyneuropathy] und CIM [critical illness myopathy]).
Bei schwer erkrankten, ggf. intensiv- bzw. beatmungspflichtigen Patienten werden Störungen
der Chemosensorik zunächst nicht im Vordergrund stehen und ggf. erst im späteren Verlauf
weitere Aufmerksamkeit erlangen. Bei anhaltenden Riech- und / oder Schmeckstörungen
sollte eine Vorstellung zu weiterer Diagnostik und Therapie im Verlauf erfolgen [Abb. 1].
Bereits früh war in mehreren Studien der Eindruck entstanden, dass Riechstörungen
bei Covid-19 vor allem jüngere Patienten und Frauen betreffen [30]. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse sollte jedoch beachtet werden, dass Ältere
häufig einen Riechverlust nicht bemerken und Frauen dem Riechvermögen generell mehr
Beachtung schenken. Tatsache ist, dass im Vergleich zu anderen Viruserkrankungen bei
Covid-19 deutlich mehr jüngere Patienten vom Riechverlust betroffen sind. In der Vergangenheit
wurden postvirale Riechstörungen vorrangig bei über 50-Jährigen beobachtet [7]. Die olfaktorische Betroffenheit jüngerer SARS-CoV-2-Infizierter wurde kürzlich
in einer größeren Studie mit 949 Patienten bestätigt; hier hatten auch Patienten mit
allergischer Rhinitis oder chronischer Rhinosinusitis ein erhöhtes Risiko, im Rahmen
einer SARS-CoV-2-Infektion eine Anosmie zu entwickeln [50]. Diese Arbeit unterstützt auch bisherige Hinweise, dass eine Riechstörung einen
prognostischen Indikator für einen milderen Verlauf darstellt. Patienten mit einer
Riechstörung wurden seltener stationär behandelt; sie waren seltener intensiv- und
intubationspflichtig und hatten ein geringeres Risiko für ein akutes Lungenversagen
[50].
Es besteht weiterhin Unklarheit über die Ursache ausgeprägter geographischer Unterschiede
in der berichteten Häufigkeit von Riechstörungen bei Covid-19: Der erste Bericht aus
China führte bei 5 % der Patienten Riechstörungen an [21]; aus dem Iran wurden bis zu 100 % berichtet [33]. Die meisten Arbeiten aus Europa und den USA sowie auch Mittel- und Südamerika berichten
um 50 % Riechstörungen (Tabelle 1). Mögliche Gründe für diese Unterschiede können
sein: Die ersten (chinesischen und internationalen) Arbeiten konzentrierten sich auf
schwer betroffene, stationär und intensiv behandlungspflichtige Patienten, die Riechstörung
wurde möglicherweise von Patienten nicht wahrgenommen oder berichtet, von den Ärzten
nicht erfragt; auch kulturelle Aspekte mögen hier eine Rolle spielen. Ob und ggf.
inwiefern daneben echte biologische Aspekte (genetische Varianten auf Seiten des Virus
wie auch der Population) eine Rolle spielen, wird noch zu klären sein (siehe hierzu
[56]).
Eine aktuelle, hochrangig publizierte Studie aus Frankreich mit zusätzlichen Daten
aus Italien und Großbritannien befasste sich mit dem möglichen Zusammenhang zwischen
neu aufgetretenen, subjektiv bemerkten Riech- und Schmeckstörungen und der epidemiologischen
Ausbreitung der Covid-19-Pandemie [57]. Das auf einem Online-Fragebogen basierende Projekt wurde insbesondere in Frankreich
über soziale wie auch klassische Medien beworben. Die Daten des „Global Consortium
for Chemosensory Research survey (GCCR)“ (https: / /gcchemosensr.org/Projekts) gehen in ihrer Aussagekraft und Deutlichkeit bei über 6500 Teilnehmern z. T. weit
über das hinaus, was sich in einer Reihe der hier angeführten Arbeiten (s. Tabellen
1–4) abzeichnet:
-
Es besteht eine enge Korrelation zwischen der Anzahl selbst berichteter Riech- / Schmeckstörungen
einerseits und stationären Aufnahmen in Krankenhäusern und auf Intensivstationen sowie
Todesfällen andererseits (letztere sind „die Spitze des Eisbergs“, deren Basis eine
Vielzahl milder Fälle sind, mit Riech- / Schmeckstörungen als häufige und relativ
spezifische Symptomatik).
-
Die Korrelation ist besser als die mit offiziellen (Regierungs-)Zahlen zur Virus-Ausbreitung,
selbst wenn lediglich selbst berichtete (nicht ärztlich objektivierte) chemosensorische
Störungen berücksichtigt werden.
-
Bereits 5 Tage nach Lockdown-Maßnahmen nimmt die Anzahl selbst berichteter Riechstörungen
in der entsprechenden Region ab.
-
In Ländern mit strikteren Lockdown-Maßnahmen (F, I) nahm die Anzahl selbst berichteter
Riechstörungen schneller ab als in Ländern mit weniger stringenten Maßnahmen (GB).
[N.B.: Dies trifft empirisch auch für Deutschland zu, was aber nicht Gegenstand der
Untersuchung war.]
Daraus schließen die Autoren, dass ein Anstieg der Inzidenz plötzlicher Riech- und
Schmeckstörungen in der Bevölkerung ein guter (möglicherweise der beste verfügbare)
Indikator der Ausbreitung von Covid-19 ist. Auch wenn dies Tests im Einzelfall nicht
ersetzen kann, steht hier offenbar ein gutes ergänzendes Werkzeug zur epidemiologischen
Früherkennung zur Verfügung.
Kernaussagen zu Störungen der Chemosensorik bei SARS-CoV-2-Infektion
Kernaussagen zu Störungen der Chemosensorik bei SARS-CoV-2-Infektion
-
Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann zu Störungen der Chemosensorik führen, mit Par-, Phant-, Hyp- und häufig Anosmie sowie möglicherweise entsprechenden Störungen des Geschmackssinns; ob eine eigenständige,
von der Beeinträchtigung der Riechfunktion unabhängige Störung des Geschmackssinns
auftritt, ist noch ungeklärt.
-
Während der Pandemie ist eine plötzlich neu aufgetretene Riechstörung/Anosmie ohne Kongestion / Obstruktion/Schnupfen sehr wahrscheinlich Ausdruck einer
Infektion mit SARS-CoV-2, insbesondere bei jungen und ansonsten gesunden Menschen.
-
Eine während der Pandemie neu auftretende Riechstörung / Anosmie sollte Anlass geben zu:
-
Selbst-Isolation/Quarantäne,
-
Testung auf SARS-CoV-2 (über telefonische Kontaktaufnahme mit Hausarzt / Gesundheitsamt),
-
Verwendung persönlicher Schutzausrüstung bei professionellem Kontakt mit Betroffenen.
-
Häufige Begleitsymptome (ca. 30–60 %) sind (auch ohne stationären Behandlungsbedarf): (trockener) Husten,
Kopfschmerzen, Myalgien, Abgeschlagenheit.
-
Riechstörungen können anderen Erkrankungssymptomen vorangehen und insofern epidemiologisch
relevant sein (Frühidentifikation neuer „hotspots“).
-
Selbst berichtete Störungen vom Riechen und Schmecken reichen – trotz eingeschränkter Korrelation mit
objektiven Befunden bei psychophysischer Testung – in der Pandemie als Hinweis aus;
falls erforderlich, können Sniffin‘Sticks eingesetzt werden; Patienten in Quarantäne
können sich ggf. selbst nach Anleitung mit im Haushalt vorhandenen Riech- / Duftstoffen
testen.
-
Die Riechstörung bei Covid-19 scheint meist vorübergehend zu sein; ob es regelhaft zu einer vollständigen Restitution kommt, kann noch nicht
abschließend beurteilt werden; die Langzeit-Prognose (auch hinsichtlich einer möglichen
Persistenz des Virus in Riechbahn / ZNS) ist noch ungeklärt.
-
Sollte sich die Riechfunktion nicht binnen 3–4 Wochen wieder normalisieren, wird eine neurologische und ggf. HNO-ärztliche Vorstellung
mit weiterer Diagnostik empfohlen; ggf. kann Riechtraining versucht werden.
Info-Kasten: Begriffe und Definitionen [
58]
Bei den Riechstörungen werden
Hyposmie
(vermindertes Riechvermögen) und
Anosmie
differenziert, wobei die
komplette Anosmie
den vollständigen Verlust des Riechvermögens bezeichnet, wohingegen eine
funktionelle Anosmie
eine ausgeprägte Einschränkung des Riechvermögens bezeichnet, bei der eine geringe,
allerdings nicht alltagsrelevante Restwahrnehmung noch bestehen kann. Als
Parosmien
(früher: „
Kakosmien
“, seltener: „
Dysosmien
“) werden veränderte Wahrnehmungen von Gerüchen bezeichnet, als
Phantosmien
die Wahrnehmung von Gerüchen ohne adäquate Reizquelle („Geruchs-Halluzinationen“). Als
Ageusie
wird ein völliger Verlust des Schmecksinns bezeichnet,
Hypogeusie
bezeichnet eine Minderung desselben. Analog zu den Riechstörungen werden die Begriffe
Parageusie
(früher z. T. auch „
Kakogeusie
“; seltener: „
Dysgeusie
“) für veränderte Schmeckwahrnehmung sowie
Phantogeusie
für Schmeckwahrnehmung ohne adäquate Reizquelle („Geschmacks-Halluzinationen“) verwendet.