Einleitung
Hämophilie A, B (HA, HB) und das von Willebrand-Syndrom Typ 3 (VWS Typ 3)
sind seltene angeborene Blutungsneigungen (IBD: Inherited Bleeding disorders).
Abhängig von der Restaktivität der Faktoren VIII bzw. IX erfolgt
eine Einteilung in den entsprechenden Schweregrad (schwer [<1%],
moderat [1–5%], leicht [> 5%]). Das von
Willebrand-Syndrom wird in einen quantitativen Defekt (Typ 1, milde Form; Typ 3,
schwere Form) oder einen qualitativen Defekt (Typ 2) des von Willebrand Faktors
(VWF) unterteilt. Insbesondere IBD-Patienten mit einer schweren Form
benötigen lebenslang eine regelmäßige Substitution des
entsprechenden Gerinnungsfaktorkonzentrats (Prophylaxe), während leichte und
moderate Formen überwiegend eine sogenannte Bedarfsbehandlung bei Auftreten
von Blutungen erhalten [1 ]
[2 ]. Klinische Outcomes und Lebensqualität
hängen wesentlich mit einer regelmäßigen Therapie und
Betreuung durch ein Hämophiliezentrum zusammen [3 ]
[4 ]
[5 ]
[6 ].
Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Reduktion von Neuinfektionen mit SARS-CoV-2
können zu sozialer Distanzierung und Isolation beitragen [7 ]. Diese Maßnahmen gehen einher mit
Einschränkungen in der medizinischen und pflegerischen Versorgung, beim
Zugang zu Apotheken und Medikamenten oder mit der Absage von Arztterminen, sowie dem
Verschieben von planbaren Operationen zur Rekrutierung medizinischen Personals auf
Anweisung des Bundesministeriums für Gesundheit [8 ]
[9 ]
[10 ]. Isolation und Distanzierungsmaßnahmen können zu
verstärkter psychischer Belastung in der Allgemeinbevölkerung
führen. Vor allem bei Patienten mit chronischen Erkrankungen können
zusätzliche Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit ihrer Krankheit
und der notwendigen Versorgung und Therapie auftreten [11 ]
[12 ]
[13 ]
[14 ].
Für IBD Patienten spielt die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung
in den Hämophiliezentren während der Coronakrise eine große
Rolle [10 ]
[15 ]
[16 ]. Bisher liegen nur Daten von
IBD Patienten und Eltern von Kindern mit einer angeborenen Blutungsneigung zum
Einfluss der COVID-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit vor [17 ]. Zur medizinischen Versorgung von IBD Patienten
gibt es bisher noch keine Publikationen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die
Auswirkungen der Coronakrise auf die Gedanken, Sorgen und Erfahrungen von IBD
Patienten in Bezug auf die medizinische Versorgung in Deutschland zu erfassen.
Methode
Während des „Lockdowns“ in Deutschland
(22.03.2020–04.05.2020) wurde ein ad-hoc entwickelter Fragebogen an alle
registrierten Patienten mit HA, HB und VWS Typ 3 oder deren Eltern (IBD Gruppe) aus
fünf deutschen Hämophiliezentren (3 Hämophiliezentren im
Kliniksetting, 2 Hämophiliezentren im niedergelassene Setting)
verschickt.
Der ad-hoc Fragebogen (Zusatzmaterial) bestand aus 2 Teilen mit hauptsächlich
geschlossenen Fragen. Teil 1: klinische und demographische Daten der Patienten (13
Fragen), Teil 2: Wahrnehmungen (3 Fragen), Gedanken (7 Fragen),
Ängste/Gefühle (9 Fragen), Sorgen (9 Fragen) und Erfahrungen
bezüglich der medizinischen Versorgung während der Pandemie (9
Fragen). Für eine Vergleichbarkeit mit der Allgemeinbevölkerung
haben wir Fragen aus 2 repräsentativen Umfragen integriert. Drei Fragen der
Umfrage vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) (21. April [18 ] und 28. April 2020 [19 ]) und eine Frage aus der Online-Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks
(MDR) (2.–3. März 2020) [20 ]. Es
gab keine Altersbeschränkungen für das Ausfüllen des
Fragebogens, der postalisch an die entsprechenden Familien versandt wurde. In der
Regel füllten Eltern den Fragebogen für ihre minderjährigen
Kinder aus, wohingegen volljährige Patienten den Fragebogen selbst
beantworteten.
Datenanalyse
Die deskriptive Datenanalyse wurde mit dem SPSS-Programm Version 25 (Statistical
Package for Social Science; IBM® ) unter Verwendung von
Kontingenztabellen für kategoriale Variablen und Stichprobenstatistiken
für kontinuierliche Variablen durchgeführt. Die Daten werden als
Mittelwert±Standardabweichung, Median und Spannbreite
(Minimum–Maximum) oder Anzahl und Häufigkeit entsprechend ihrer
Verteilung dargestellt. Auf die Darstellung von Missing Data wurde verzichtet,
da sie für alle Variablen unter 5 % lagen und daher keine
Konsequenzen auf die Ergebnisse haben [21 ].
Alle Analysen wurden für die gesamte Studienpopulation (Gesamtanalyse)
der IBD-Gruppe (Patienten/Eltern von Kindern mit IBD)
durchgeführt und klinische Daten separat für die Altersgruppen
(pädiatrische vs. erwachsene Patienten) ausgewertet. Unterschiede
hinsichtlich Gedanken in Bezug auf COVID-19, Sorgen bzgl. Lieferschwierigkeiten
der Faktorkonzentrate und einer möglichen COVID-19 Erkrankung, sowie
Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung wurden für klinische
Subgruppen (HA vs. HB vs. VWS Typ 3; schwere vs. leichte/moderate Form
der Erkrankung; Bedarfsbehandlung vs. Prophylaxe; plasmatische vs. rekombinante
Faktorkonzentrate; Komorbiditäten ja vs. nein) berechnet.
Subgruppenunterschiede wurden mit dem Pearson-Chi-Quadrat (χ2)-Test
für kategoriale Variablen oder mit dem Student’s T-Test
für kontinuierliche Variablen analysiert; p-Werte <0,05 wurden
als signifikant angesehen [22 ]
[23 ].
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle patientenbezogenen Daten wurden entsprechend der ethischen Standards der
Helsinki-Erklärung von 1964 und ihrer späteren
Änderungen und nach Good Clinical Practice (GCP) erhoben. Ein Ethikvotum
war aufgrund des anonymen Studiendesigns nicht notwendig (Ethikkommission der
Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität
München, 20–431 KB).
Ergebnisse
Insgesamt wurden 586 Fragebögen verschickt, 11 waren nicht zustellbar. 355
Fragebögen wurden zwischen dem 16.04.2020 und dem 06.06.2020
ausgefüllt zurückgeschickt (61,7% Rücklaufquote,
Spannbreite über die Hämophiliezentren
54,2–73,3%).
Abb. 1 Rücklauf COVID-19 Umfrage.
Zehn Prozent der Teilnehmer hatten den Fragebogen erst nach dem
„Lockdown“ ausgefüllt, allerdings ergaben sich hier keine
signifikanten Unterschiede in den Antworten ([Abb.
1 ]).
Abb. 2 Gedanken im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus im
Vergleich der IBD-Gruppen.
Demografische und klinische Daten
Von 355 Fragebögen wurden 200 Fragebögen von IBD Patienten
(56,3%) ausgefüllt, darunter 25 Kinder (Alter: 10–17
Jahre) und 175 Erwachsene; 155 Fragebögen wurden von Eltern von IBD
Patienten (43,7%) beantwortet, darunter 3 von Eltern erwachsener
Patienten (Alter: 18–24 Jahre). Das Durchschnittsalter der erwachsenen
Patienten (n=178) lag bei 42,90±17,3 Jahren (Spannbreite
18–79), das der pädiatrischen Patienten (n=177) bei
8,62±5,0 Jahren (Spannbreite 0,25–17) und das der Eltern bei
40,71±7,0 Jahren (Spannbreite 23–63). Der Großteil der
von Eltern beantworteten Fragenbögen wurde durch Mütter
ausgefüllt (87,7%).
Die klinischen Daten des Patientenkollektivs sind in [Tab. 1 ] dargestellt; signifikante Unterschiede
zwischen pädiatrischen und erwachsenen Patienten ergaben sich
für den Schweregrad (χ2 =13,590,
p=0,001), das Behandlungsregime (χ2 =33,112,
p<.0001), die Produktklasse (χ2 =10,178,
p=0,038) und das Vorhandensein von Komorbiditäten
(χ2 =55,227, p <0,0001).
Tab. 1 Soziodemografische und klinische Daten von IBD-Patienten
nach Altersgruppen (n=355).
Variablen
Gesamt (n=355)
Kinder (n=177)
Erwachsene (n=178)
p-Wert
N
%
N
%
N
%
Befragte
Eltern / Betreuer
155
43,7
152
58,9
3
1,7
Patienten
200
56,3
25
14,1
175
98,3
Geschlecht
männlich
328
92,9
164
93,2
164
92,7
n.s.
weiblich
25
7,1
12
6,8
13
7,3
Gerinnungsstörung
Hämophilie A
262
73,8
127
71,8
135
75,8
n.s.
Hämophilie B
63
17,7
34
19,2
29
16,3
VWD, Type 3
30
8,5
16
9
14
7,9
Schweregrad
mild
87
24,6
38
21,5
49
27,7
0,001
moderat
38
10,7
10
5,6
28
15,8
schwer
229
64,7
129
72,9
100
56,5
Behandlungsschema
Bedarfsbehandlung
100
28,6
33
18,9
67
38,3
0,0001
Prophylaxe
224
64
134
76,6
90
51,4
abwechselnd
22
6,3
4
2,3
18
10,3
Immuntoleranzinduktion
4
1,1
4
2,3
0
–
Produkt
plasmabasiert
88
26
33
19,4
55
32,7
0,038
rekombinant
170
50,3
97
57,1
73
43,5
Nicht-Gerinnungsfaktorbasierte Therapie
14
4,1
6
3,5
8
4,8
mehrere Produkte
1
0,3
1
0,6
0
–
unbekannt
65
19,2
33
19,4
32
19
Komorbiditäten
Ja
116
32,7
25
14,1
91
51,1
0,0001
Quarantäne wegen COVID-19
Ja
11
3,1
4
2,3
7
4
n.s.
COVID-19 Test
Nein
340
97,4
174
98,9
166
96
n.s.
Ja, Rachenabstrich
9
2,6
2
1,1
7
4
Ja, Bluttest
0
0
0
–
0
–
Krankenhausaufenthalt wegen COVID-19
Ja
0
–
0
–
0
–
n.s.
* Fehlende Daten werden nicht aufgelistet,
signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen sind fett gedruckt; n.s.:
nicht signifikant.
Gedanken, Sorgen und medizinische Erfahrungen der Gesamtgruppe
Fast alle Befragten (92,1%) machten sich Gedanken in Zusammenhang mit dem
neuen Coronavirus; hauptsächlich fragten sie sich, was passiert, wenn
sie COVID-19 positiv getestet werden (71,3%). Bei mehr als der
Hälfte (66,3%) löste die aktuelle Situation mit dem
neuartigen Coronavirus ziemlich/sehr starke Gefühle aus; wobei
sie am häufigsten das Gefühl hatten, der Situation ausgeliefert
zu sein (19,1%). Die Hälfte (50,3%) machte sich bezogen
auf das Coronavirus ziemlich/sehr starke Sorgen; 20,9% waren
besorgt, COVID-19 zu bekommen. Der Großteil (65,3%) der
Befragten hatte Erfahrungen hinsichtlich der medizinischen Versorgung
während der Coronakrise gemacht; 52,8% berichteten, dass
Arzttermine verschoben oder abgesagt (45,2%) wurden [17 ]. Signifikante Unterschiede
bezüglich des Versorgungssettings (K: Kliniksetting, N: niedergelassenes
Setting) zeigten sich für verzögerte Medikamentenversorgung (K:
2,5 vs. N: 13,6 %; χ2 =9,630,
p=0,002), verschobene Arzttermine (K: 61,2 vs. N: 41,4 %;
χ2 =8,938, p=0,003), abgesagte Arzttermine
(K: 52 vs. N: 36,2 %; χ2 =5,428,
p=0,020) und abgesagte Termine für Vorsorgeuntersuchungen (K:
38,1 % vs. N: 21,4 %; χ2 =5,414,
p=0,020).
Subgruppenanalysen
[Tab. 2 ] zeigt COVID-19 assoziierte Gedanken
und Sorgen sowie Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung während
des „Lockdowns“, sowie Unterschiede für klinische
Subgruppen.
Tab. 2 Gedanken, Sorgen und Erfahrungen mit medizinischer
Versorgung für verschiedene klinische Subgruppen der IBD
Gruppe.
IBD Gruppe %
Schweregrad
Art der Behandlung
Produktklasse
Komorbiditäten
Schwer %
Leicht/moderat %
Bedarf %
Prophylaxe %
Plasmatisch %
Rekombinant/NGF %
Ja %
Nein %
Gedanken (ja)
wegen Blutgerinnungsstörung zur Risikogrupppe
gehörend
54,2
55
53,2
54,5
53,1
61,4
49,2
54,8
54
adäquate Versorgung bei Blutung
48,6
49,3
46,7
42,9
50
50,6
46,7
51,8
47
Bei Notfall ins Krankenhaus gehen
50,4
49,3
52,5
52,6
47,8
52,3
44,3
50,4
50,4
Anpassung der Therapie während Coronakrise
19,6
21,5
16,3
20,2
17,9
18,4
18,9
22,1
18,4
Übertragung von COVID-19 durch plasmatische
Produkte
19
18
21,1
19,4
17,9
25,3
14,1
23,7
16,8
was passiert, wenn man COVID-19 bekommt
71,3
69,7
74,8
74,5
69,5
71,8
71,4
76,3
68,9
wie es weiter geht, wenn man COVID-19 positiv getestet
wird
68,7
65,5
75,2
76
64,7
70,5
65,9
76,7
64,9
Sorgen (ziemlich/sehr unzufrieden)
Lieferschwierigkeiten von Produkten für IBD
18,9
23,8
9,9
7,2
23,9
16
20,8
19,3
18,7
COVID-19 zu bekommen
20,9
22,1
18,9
16,5
22
25,2
16,4
32,5
15,2
Erfahrungen mit medizinischer Versorgung (ja)
Arzttermine abgesagt
45,2
42,9
46,3
47,4
44,9
35,8
47,2
50,7
42,4
Arzttermine verschoben
52,8
52,6
53,2
51,6
52,6
50,8
54,6
47,5
55,6
Medikamentenversorgung verzögert
7,1
5,3
11,7
8,7
6,8
12,5
4
2,7
9,6
Geplante operative Eingriffe verschoben
14,5
15,4
12,8
14,3
14,7
14,7
12,1
16,3
13,5
Physiotherapiebehandlung
38,7
44,8
24,4
25
39,6
37,5
44,4
54,2
28,6
Termine zur Vorsorgeuntersuchung abgesagt
31,4
31,1
31,6
32
30,6
33,3
28,7
31
31,6
Hämophilie-Zentrum schlechter erreichbar
9
11,5
3,2
4,3
10,4
9,8
6,6
5,6
10,9
Betreuung während Coronakrise
(ziemlich/sehr gut)
Hämophilie-Zentrum
83,1
82,8
83,5
82,3
83,4
85
83,6
77,6
85,7
Hausarzt/Kinderarzt
65,8
62,4
71,9
68,2
65,4
65
68
61,8
67,7
IBD: Blutgerinnungsstörung (inherited bleeding disorder); NGF:
Nicht-Gerinnungsfaktor basierte Therapie fett geschriebene Zahlen
bedeuten signifikante Unterschiede zwischen den Subgruppen.
Form der IBD
Im Vergleich der verschiedenen Blutungsneigungen machte sich die IBD-Gruppe mit
VWS Typ 3 signifikant mehr COVID-19 assoziierte Gedanken: ob man wegen seiner
Blutungsneigung zur Risikogruppe gehört
(χ2 =8,986, p=0,011), ob bei einer Blutung
weiterhin eine adäquate Versorgung erfolgt
(χ2 =7,397, p=0,025), und ob COVID-19 durch
plasmatische Produkte oder Blutplasma übertragen werden kann
(χ2 =18,115, p <0,0001) ([Abb. 2 ]).
Keine Unterschiede ergaben sich hinsichtlich der Erfahrungen mit medizinischer
Versorgung, Sorgen über Lieferschwierigkeiten von Medikamenten und
darüber, COVID-19 zu bekommen sowie der Betreuung seitens des
Hämophiliezentrums und des Hausarztes.
Schweregrad der IBD
Die IBD-Gruppe mit einer schweren Form der angeborenen Blutungsneigung zeigte
keine Unterschiede im Vergleich zu der mit einer leichten/moderaten Form
in Bezug auf COVID-19 assoziierte Gedanken sowie auf die Betreuung durch das
Hämophiliezentrum und den Hausarzt. Hingegen machten sich schwer
Betroffene signifikant mehr Sorgen über Lieferschwierigkeiten von
Medikamenten (F=7,311, p <0,0001); jedoch machten sie sich im
Vergleich zu den Betroffenen mit einer leichten/moderaten Form nicht
mehr Sorgen, COVID-19 zu bekommen. Unterbrechungen von physiotherapeutischen
Behandlungen wurden signifikant häufiger von Patienten mit einer
schweren Form berichtet (χ2 =5,483, p =
0,019).
Art der Behandlung
Die IBD-Gruppe mit Bedarfsbehandlung machte sich signifikant mehr Gedanken
darüber, wie es weitergeht, wenn sie COVID-19 positiv getestet werden
(χ2 =4,048, p=0,044); die prophylaktisch
behandelte IBD-Gruppe hingegen machte sich signifikant mehr Sorgen über
Lieferschwierigkeiten von Medikamenten (F=10,012, p<0,0001). Es
traten keine Unterschiede auf hinsichtlich der Erfahrung mit medizinischer
Versorgung, der Betreuung durch den Hausarzt oder das Hämophiliezentrum
und Sorgen, COVID-19 zu bekommen.
Produktklasse
Die IBD-Gruppe, die mit einem plasmatisch-hergestellten Faktorenkonzentrat
behandelt wurde, machte sich im Vergleich zur Gruppe mit rekombinanten
Faktorkonzentraten oder einer „Nicht-Gerinnungsfaktor basierten
Therapie“ signifikant mehr Gedanken darüber, ob COVID-19 durch
plasmatische Produkte oder Blutplasma übertragen werden kann
(χ2 =5,045, p=0,025). Eine
Verzögerung in der Medikamentenversorgung trat in der plasmatisch
behandelten Gruppe signifikant häufiger auf
(χ2 =4,209, p=0,040). Hinsichtlich der Sorgen
über Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente und COVID-19 zu bekommen,
sowie der Betreuung durch ihren Hausarzt oder ihr Hämophiliezentrum
zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zur IBD Gruppe, die mit
rekombinanten Faktorkonzentraten oder einer „Nicht-Gerinnungsfaktor
basierten Therapie“ behandelt wurde.
Komorbiditäten
In der IBD-Gruppe mit einer Komorbidität (z. B. Hepatitis-
oder/und HIV-Infektion, Asthma, Hypertension) gaben signifikant mehr
Befragte an, sich darüber Gedanken zu machen, wie es weitergeht, wenn
sie oder ihr Kind COVID-19 positiv getestet werden
(χ2 =5.121, p<0,024) und sich Sorgen zu
machen, COVID-19 zu bekommen (F=0,375, p<0,0001). Zudem wurden
im Vergleich zur IBD-Gruppe ohne Komorbiditäten vermehrt
physiotherapeutische Behandlungen unterbrochen
(χ2 =9,942, p<0,002). Keine Sorgen traten im
Zusammenhang mit Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente und der Betreuung durch
den Hausarzt oder das Hämophiliezentrum auf.
Diskussion
Insgesamt haben 355 Patienten und Eltern von Kindern der IBD-Gruppe ohne
nachweisliche COVID-19 Erkrankung an der Umfrage teilgenommen. Die
Rücklaufquote von 61,7% lag höher als die durchschnittliche
Rücklaufquote von Fragebogen-basierten Studien (55,6%) [24 ]. Bezüglich der Verteilung von
Hämophilie A und B, der Schweregrade und der Verwendung von plasmatischen
oder rekombinanten Produkten ist unsere IBD-Kohorte mit der vom Deutschen
Hämophilie-Register (DHR) vergleichbar und somit repräsentativ
(Daten Paul-Ehrlich-Institut für 2018) [25 ].
Von Mackensen et al. haben bereits die Ergebnisse der gesamten IBD-Gruppe zu
Gedanken, Sorgen und Erfahrungen mit medizinischer Versorgung während der
Coronakrise publiziert [17 ]. In der vorliegenden
Publikation stehen hingegen die Subgruppenunterschiede im Fokus.
VWS-Patienten machten sich signifikant häufiger COVID-19 assoziierte Gedanken
als Hämophilie-Patienten. Schwer betroffene sowie prophylaktisch behandelte
Patienten machten sich mehr Sorgen bzgl. Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente.
Bei Patienten mit schwerer Form und solchen mit Komorbiditäten wurden zudem
physiotherapeutische Behandlungen signifikant häufiger unterbrochen.
VWS-Patienten und solche, die mit plasmatischen Produkten behandelt wurden, machten
sich signifikant mehr Gedanken darüber, ob COVID-19 durch plasmatische
Produkte oder Blutplasma übertragen werden könnte. Patienten mit
einer Bedarfsbehandlung und solche mit Komorbiditäten machten sich
signifikant häufiger Gedanken darüber, wie es weitergeht, wenn sie
COVID-19 positiv getestet werden; letztere machten sich zudem auch häufiger
Sorgen, COVID-19 zu bekommen.
Obwohl sich 83,1% ziemlich gut von ihrem Hämophiliezentrum betreut
fühlten, machten sich 18,9% große Sorgen über
Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente, lediglich 9% berichteten
Einschränkungen in der Erreichbarkeit ihres Hämophiliezentrums [17 ]. Im Gegensatz dazu waren italienische
Hämophilie-Patienten ziemlich besorgt über die
regelmäßige Versorgung mit ihren Faktorenkonzentraten und deren
Herstellungsprozess während der COVID-19 Pandemie (60,9%), und
schätzten die Unterstützung und Verfügbarkeit der
Mitarbeiter ihres Hämophiliezentrums als sehr wichtig ein [26 ]. Härter et al. berichteten, dass am
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf während des
„Lockdowns“ 11,8% der elektiven Operationen zugunsten der
Fokussierung auf operative Eingriffe bei Notfällen und von Tumorpatienten
verschoben oder abgesagt wurden; dies ist vergleichbar mit den Erfahrungen unserer
IBD Kohorte (14,5%) [17 ]
[27 ].
Durch die Lieferung von Faktorenkonzentraten zum Patienten nach Hause sowie die
Ausweitung telemedizinischer Behandlungsangebote könnte die medizinische
Versorgung gewährleistet und das Infektionsrisiko durch Vermeidung von
häufigen Krankenhausbesuchen auch im Rahmen weiterer
„Lockdowns“ und Krisen erfolgreich reduziert werden [17 ]
[28 ]
[29 ].
Adhikari et al. konnten nachweisen, dass telefonische
Telephysiotherapie-Interventionen (TPT) zu einer signifikanten Verringerung der
Schmerzen bei Patienten mit Problemen des Bewegungsapparates führen [30 ]. TPT kann somit als praktikable und wirksame
Behandlungsoption angesehen werden, die es Physiotherapeuten ermöglicht,
weiterhin ambulante Leistungen mit einem hohen Maß an Patientenzufriedenheit
zu erbringen [31 ].
Um lange Wartezeiten und damit verbundene negative Folgen (z. B. Zunahme von
Schmerzen, Blutungen, Bewegungseinschränkungen) zu vermeiden,
könnten notwendige elektive Eingriffe unter Einhaltung entsprechender
Hygienemaßnahmen durchgeführt werden [32 ]. Allgemein gelten für Patienten mit IBD dieselben
präventiven hygienischen Maßnahmen wie für die
Allgemeinbevölkerung [33 ].
Wie in unserer Studie gezeigt wurde, machte sich ein Großteil der
IBD-Patienten Gedanken darüber, was passiert, wenn sie COVID-19 bekommen
oder wie es weitergeht, wenn sie COVID-19- positiv getestet werden. Darüber
hinaus sind die Auswirkungen von COVID-19 auf den Gerinnungsprozess von IBD
Patienten bisher nicht geklärt. Daher sollte bei COVID-19 infizierten
IBD-Patienten eine strikte Überwachung von FVIII und VWF erfolgen, um eine
angemessene Behandlung direkt zu etablieren [34 ].
Zusätzlich sollten bei stationären Aufenthalten ausreichende
Informationen über COVID-19 zur Verfügung gestellt und
psychologische Unterstützung für Patienten und deren Familien
angeboten werden [33 ].
Aufgrund historischer Virus-Skandale mit plasmatischen Produkten ist es
verständlich [35 ], dass sich Patienten,
die mit solchen behandelt werden (17,8% der Hämophilie-Patienten,
100% der VWS Patienten) mehr Gedanken darüber machen, ob eine
Übertragung von COVID-19 über plasmatische Produkte oder Blutplasma
möglich ist. Eine Aufklärung der Patienten über
unterschiedliche Übertragungswege der Viren und die Sicherheit von
Blutprodukten ist unabdingbar. Die Aufklärung sollte nicht nur über
die behandelnden Ärzte, sondern auch über die
Patientenorganisationen erfolgen, wobei von-Willebrand-Patienten sich hier
offensichtlich nicht so gut vertreten sahen. Möglicherweise machten sie sich
aufgrund von fehlender Information deutlich mehr Gedanken über Infektionen
und ihre medizinische Versorgung.
Limitationen
Um unmittelbar mit der Umfrage während des „Lockdowns“
beginnen zu können, wurde ein anonymes Studiendesign gewählt. In
Bezug auf Vollständigkeit der klinischen Daten wäre es
vorzuziehen, diese direkt aus Patientenakten in den Hämophiliezentren zu
erfassen, da Patienten häufig diese Fragen nicht angemessen beantworten
können; wie z. B. in unserer Befragung 19,2% der
Befragten angaben, dass sie nicht wissen, welche Art von Produkt (z. B.
plasmatisch, rekombinant) sie verwenden und 4,8% gar keine Angabe hierzu
machten. Eine weitere Limitation besteht darin, dass nur 5 Zentren an der
Umfrage teilgenommen haben. Da wir die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie
während des „Lockdowns“ in Deutschland bewerten wollten,
wurden nur diejenigen Zentren einbezogen, die bereit waren, die
Fragebögen kurzfristig postalisch an ihre Patienten zu versenden. Da
unsere Daten aber aus einigen der größten
Hämophiliezentren stammen und mit der DHR-Kohorte vergleichbar waren,
können unsere Ergebnisse als repräsentativ für deutsche
IBD Patienten angesehen werden, sind jedoch für die deutsche
Allgemeinbevölkerung oder andere ethnische Bevölkerungsgruppen
nicht verallgemeinerbar.
Empfehlungen
Da Isolationsmaßnahmen und Einschränkungen elektiver Termine und
Interventionen sich negativ auf die medizinische Versorgung von IBD Patienten
auswirken und wahrscheinlich in den kommenden Monaten zu weiteren Sorgen und
Bedenken führen können [36 ],
sind zusätzliche Untersuchungen zu den Auswirkungen von COVID-19, nach
Beendigung des „Lockdowns“, und im weiteren Verlauf notwendig.
Da IBD Patienten kein höheres COVID-19-Infektions-Risiko zu haben
scheinen [37 ], ist die Sicherstellung der
medizinischen Versorgung im Rahmen der Grunderkrankung sowie eventueller
Komorbiditäten zu gewährleisten. Hier sollte insbesondere eine
Notfallversorgung bei Blutungen garantiert sein. Aufgrund personeller
Engpässe während der COVID-19 Pandemie im Kliniksetting sowie
aus infektionshygienischer Sicht könnten Routineuntersuchungen sowie
Physiotherapie vermehrt als Telemedizin-basierte Sprechstunde etabliert und
angeboten werden.