Einleitung
Vor dem Sieg der Chemotherapie über das krankmachende Mykobakterium gab es als wirksame
Methode, schwere Formen der Lungentuberkulose zu behandeln, eigentlich nur die komplikationsreichen
Methoden der Kollapstherapie. Scheinbar ungefährlicher und weniger aufwändig erschien
die Anwendung von Röntgenstrahlen, mit denen bereits kurz nach ihrer Entdeckung (1895)
Hauterkrankungen und v. a. Entzündungsherde auf des Körpers Oberfläche und in seinem
Innern erfolgreich therapiert wurden. Was lag also näher als der Versuch, auch die
tuberkulösen Infiltrate und ihre Hohlräume (Kavernen) zu bestrahlen?
An die Möglichkeit, die von Tuberkulose befallenen Herde mit Röntgenstrahlen narbig
zu umschließen und zum Einschrumpfen zu bringen, vielleicht auch die sehr widerstandsfähigen
Bakterien in ihnen direkt zu schädigen, war bereits Ende des 19. Jahrhunderts gedacht
worden [1]
[2]
[3]
[4].
Erste Schritte in der Strahlentherapie der Tuberkulose
Erste Schritte in der Strahlentherapie der Tuberkulose
Lortet und Genoud bestrahlten seit 1896 mit Tuberkelbakterien geimpfte Meerschweinchen.
Schon einige Wochen später sah man auf der bestrahlten Inokulationstelle deutliche
Narbenbildung. Die unbestrahlten Kontrolltiere wiesen dagegen lokale Knoten, Abszesse
und regionale Lymphknotenschwellung auf [5]
[6].
1898 bestrahlten Jean Bergonié und K. Tessier Meerschweinchen nach intrapleuraler,
intraperitonealer und intratrachealer Applikation tuberkulösen Materials. Ein Einfluss
auf die Tuberkelbakterien wurde nicht festgestellt. Es fiel aber eine deutliche Sklerosierung
der erkrankten Pleurablätter und eine narbige Verdickung des Peritoneums auf. Die
Beobachtung dieser Strahlenwirkung veranlasste sie schon damals, auf die Gefahr einer
sklerosierenden Lungenschädigung hinzuweisen. Tessier beobachtete einen später verstorbenen
Patienten, bei dem die Bestrahlung einer Lungentuberkulose im Spitzengebiet infolge
unzureichender Einstellung eine massive tuberkulöse Lymphknotenschwellung am Hals
erfasst hatte. Bei der Autopsie zeigte sich die Schwellung eingeschrumpft und durch
Narben ersetzt. Auch er sah in dieser erheblichen Sklerosierungsreaktion eine Gefahr
für das weit sensiblere Lungengewebe [7]
[8].
Die wenig überzeugenden ersten Ergebnisse führten vorübergehend zu einem Stillstand
der Versuche an der Lunge, bis in den Jahren kurz vor dem 1. Weltkrieg de la Camp,
Küpferle und Bacmeister in Freiburg erneut das Experiment am Tier und schließlich
auch am Menschen aufnahmen. Angeregt dazu wurden sie durch die erfolgreichen Bestrahlungen
von entzündlichen Erkrankungen – einschließlich der Eileiter-Tuberkulose – in der
Freiburger Frauenklinik (Krönig und Gauss), die bald ihre Nachahmer fanden [9]
[10]
[11].
Einer fast zeitgleich ausprobierten Niedrigdosis-Therapie mit Radium (Szendeffy) war
nur eine kurze Lebensdauer beschieden.
Radiumtherapie („Dioradin“)
Radiumtherapie („Dioradin“)
Die Anwendung von Radiumsalzen in Verbindung mit Jod, gemischt mit Menthol, Alkohol,
Methylenblau oder Äther, intramuskulär oder subkutan injiziert, unter dem Namen „Dioradin“
bekannt geworden, erregte in den Jahren 1911 und 1912 allgemeines Aufsehen. Die Erfolgszahlen
waren relativ gering und die heilende Wirkung (?) des Medikaments trat nur bei Patienten
der Stadien I und II (nach Turban) ein.
Es begann schon mit einem „Koryphäenstreit“: Ein Arzt aus London, C. Wall hatte 10
Patienten mit Dioradin behandelt und die von S. Bernheim (Paris) postulierte direkte
Einwirkung der Therapie auf die Koch-Bazillen und ihre Toxine bestritten. Bernheim,
ein Anhänger der Methode bei Patienten I. und II. Grades, kritisierte die Auswahl
der Patienten Walls, die überwiegend zu der schwerkranken Gruppe III mit meist ausgedehnten
Infiltrationen und Kavernen zählten. Wels aus New York behandelte Patienten des III.
Grades wie Wall. Von 30 Tuberkulösen erfuhren etwa ein Drittel zumindest subjektive
Besserung. Bernheim versprach, in wenigen Wochen über mehr als 500 günstige Beobachtungen
aus eigenem und auch fremdem Krankengut liefern zu können und führte eine große Anzahl
internationaler Experten an, die seine Meinung teilten [12]
[13].
Die Dioradinbehandlung erfuhr so weltweite Aufmerksamkeit, sogar in der Laienpresse.
Die Laibacher Zeitung vom 27. 10. 1911 berichtet unter dem Titel „Ein Radiumserum“:
„Budapest, 26. Oktober. Nach den Aufklärungen, die Professor Szendeffy über das neue Radiumsalz namens Dioradin
gab, ist es die Verbindung eines löslichen Radiumsalzes mit Jod-Menthol. Seit mehreren
Monaten wurden unter amtlicher Kontrolle Versuche mit dem Heilmittel bei Tuberkulose
und Kinderscharlach vorgenommen, bei welchen eine günstige Wirkung und ein erheblicher
Rückgang der Mortalitätsziffern beobachtet wurden.“
Der Chirurg A. Stoney aus Dublin berichtet 1913 über 15 Patienten, die er bis 1912
behandelt hatte. Nur ein Patient hatte Lungentuberkulose. Die Zahl seiner Lungenpatienten nennt er so geringfügig, dass es sich nicht lohne,
darüber zu sprechen. Die Patienten litten unter Haut-, Gelenk-, Knochentuberkulose,
Genital-Tbc und Lymphdrüsen-Tbc. Die Therapie bestand im Wesentlichen aus chirurgischen
Maßnahmen [14].
Lipliawski mahnt in seinem Werk über Radiumelemente bereits 1914 zur Vorsicht und
nennt mehrere Forscher, die eine Einwirkung des Radiums auf Tuberkel-Bakterienkulturen
nicht bestätigen konnten. Selbst die „Erfinder“ Szendeffy und Augustin mussten dies
zugeben, trotz der von ihnen im Kaninchen- und Meerschweinchen-Versuch beschriebenen
angeblich günstigen Wirkung [15].
Der in kurzer Beobachtungszeit mit geringer Patientenzahlen angefachte, durch gläubige
Ärzte, Scharlatane, pharmazeutische Firmen und sogar durch eine Aktienauflage ausgelöste
Rummel ließ wie beim Tuberkulin-Skandal binnen Kurzem wieder nur Enttäuschte zurück.
Und P. Lazarus sprach in seinem Lehrbuch der Strahlentherapie dem Mittel jegliche
Wirkung ab, allein schon wegen seiner geringen Dosierung [16].
Röntgentherapie der Lungentuberkulose
Röntgentherapie der Lungentuberkulose
Der Erfolg einer Strahlentherapie in der Gynäkologie, bereits vorliegende Ergebnisse
bei der Behandlung der „chirurgischen Tuberkulose“ (Tuberkulose der Haut, der Lymphdrüsen
und des knöchernen Skeletts)[1], eine besseren Dosismessung und verfeinerte Technik ergaben zwangsläufig den nächsten
Schritt, das Verfahren auch bei der Lungentuberkulose erneut zu überprüfen [8] ([Abb. 1] und [Abb. 2]).
Abb. 1 Lymphknotentuberkulose am Hals.
Abb. 2 Nach Bestrahlung.
Bacmeister und Küpferle bestrahlten seit 1913 in Tiefentechnik Kaninchen, die sie
vorher mit Lungentuberkulose infiziert hatten. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen
[11]:
-
Keine Einwirkung in entscheidendem Maße auf die Tuberkelbazillen[2].
-
Bei Anwendung harter filtrierter Röntgenstrahlen lässt sich eine beginnende, experimentell
bei Kaninchen gesetzte Lungentuberkulose unterdrücken, eine bereits entstandene heilen.
-
Getroffen wird durch die Röntgenstrahlen das tuberkulöse Granulationsgewebe, das geschädigt
und in Narbengewebe umgewandelt wird.
-
Dadurch kommt es zu fibröser Umwandlung einzelner Tuberkel in der Lunge, bei ausgedehnteren
Prozessen zu Bindegewebsentwicklung in den proliferierenden Randzonen, zu einer Abkapselung
und Abschnürung der Nekrosen durch Narben ([Abb. 3] und [Abb. 4]).
Abb. 3 Tuberkulöse Lunge eines Kaninchens (nach Bacmeister; bearbeitet von K. Aumann).
Abb. 4 Kaninchenlunge nach Bestrahlung (nach Bacmeister; bearbeitet von K. Aumann).
Dem Tierexperiment folgten erste Versuche am Menschen. Die Entwicklung einer mit großen
Hoffnungen verknüpften Methode beschreibt Bacmeister:
„Die Röntgentherapie der Tuberkulose überhaupt hat in den letzten Jahren außerordentliche
Fortschritte gemacht. Drüsen-, Knochen-, Gelenk-, Sehnenscheiden-, Nebenhoden- und
Hauttuberkulosen sind der Strahlenbehandlung zugänglich. Neuerdings scheint auch die
Heilung der Adnextuberkulose des weiblichen Geschlechtsapparates, die bisher noch ausnahmslos mit dem Messer angegriffen wurde, der Röntgenbestrahlung
zugeführt zu werden“
[1]
[9]
[18].
Nach 30 Jahren Strahlentherapie der Lungentuberkulose äußerte er sich vorsichtiger
[19]:
„Ich schicke voraus, daß sie uns eine sehr wertvolle Methode, ja die steuerbarste
Reiztherapie überhaupt geworden ist. Sie ist, falsch angewandt, eine gefährliche Waffe,
sie setzt daher richtige Indikationsstellung und Durchführung für ihren Erfolg voraus.“
Skeptisch beurteilt er die ersten Versuche M. Fraenkels mit der Milzbestrahlung, die
sich später als wirkungslos herausstellen werden:
„Durch schwache und reizende Bestrahlungen der Milz bzw. des lymphatischen Apparates
soll eine Entgiftung des Organismus und eine verstärkte Produktion von Antikörpern
hervorgerufen werden. Ob diese zum Teil auf hypothetischer Basis beruhenden Voraussetzungen
begründet und ob sie praktisch auswertbar sind, steht noch dahin“
[21] ([Abb. 5]).
Abb. 5 A. Bacmeister 1882–1945 [rerif].
Der Radiotherapeut Ivan I. Manoukhin, der nach eigener Ansicht über 1000 Lungenkranke
geheilt haben will, wurde 1922 durch die Milzbestrahlung der tuberkulosekranken Schriftstellerin
Katherine Mansfield literarisch verewigt. Seine Patientin fand keine Heilung, verspürte
aber „eine innere Hitze, vergleichbar den Qualen eines Märtyrers beim Feuertod“
[20].
Gefahren der Radiotherapie der tuberkulösen Lunge (Bacmeister 1921)
Gefahren der Radiotherapie der tuberkulösen Lunge (Bacmeister 1921)
Die Gefahr ergibt sich aus der schwierigen Grenzziehung zwischen geeigneten, bereits
zur Narbenbildung neigenden und den immunbiologisch geschwächten, zum Einschmelzen neigenden exsudativen Formen. Sinn der Behandlung ist es ja nur, die narbige Granulation zu unterstützen,
sie damit zu beschleunigen. Eine Vernichtung von Bakterien oder Reduktion eitrigen
Gewebes war nicht möglich. Im Gegenteil, die Bestrahlung exsudativen Gewebes verschlimmerte den Krankheitsprozess.
„Durch zu starke Beeinflussung des tuberkulösen Gewebes kann es unter Umständen zu
Einschmelzung, Zerfallserscheinungen, Blutungen und Kavernenbildung kommen. Wir können
deswegen Wetterer[3] nicht zustimmen, der sagt, daß es verwunderlich ist, daß bei der Einfachheit und
Ungefährlichkeit des Verfahrens die Röntgentherapie der Lungentuberkulose noch nicht
allgemeine Aufnahme in die Lungenheilstätten gefunden hat“
[21].
Vorbereitende Maßnahmen
Eine Absicherung gegen die Gefahr, noch frischere, exsudationsbereite Herde im eigentlichen
Narbengebiet vorzufinden, bestand in der Forderung einer 3–4-wöchigen Fieberfreiheit
und Fehlen von Entzündungsparametern im Blutbild. Verlief alles zur Zufriedenheit,
begann Bacmeister mit Quarzbestrahlung („um die Lichtempfindlichkeit zu prüfen“) und ging erst dann zur Röntgenbestrahlung über. Begleitet wurde dies durch eine genaue
Kontrolle von rektaler Temperatur, Blutbild („das weiße Blutbild [soll] die Überwindung der Kampfphase und die Überleitung in die
lymphozytäre Heilphase dokumentieren“) und Blutsenkung [19].
Apparative Ausstattung
Ein von Wetterer vorgeschlagenes Modell war das der Firma Veifa-Werke. Ein stabiles
Stativ war vonnöten, um drehbare Röhre und Bleiglasummantelung an einem langen Holzstab
sicher zu positionieren und störungsfrei am sitzenden Patienten anzuwenden.
Seine Stelle nahm dann ab 1919 mehr und mehr die Bestrahlungsbrücke nach Dessauer
und Warnekros ein, wodurch eine genauere Zentrierung des Strahles ermöglicht wurde.
Zudem konnte die zu bestrahlende Person liegend behandelt werden [8] ([Abb. 6] und [Abb. 7]).
Abb. 6 Apparat für Tiefenbestrahlung, Veifa-Werke (später Siemens-Halske Erlangen).
Abb. 7 Bestrahlungsbrücke nach Dessauer und Warnekros, Hersteller: Veifa-Werke.
Technik der Röntgenbestrahlung
Technik der Röntgenbestrahlung
Siehe [Abb. 8] und [Abb. 9].
Abb. 8 Bestrahlungsfelder der Lunge nach Bacmeister.
Abb. 9 Bestrahlungsfeld und Strahlendosis.
Das Schema der
[Abb. 8] beschreibt Bacmeister folgendermaßen [5]:
„… gibt einen Fall wieder, bei dem die Krankheit so ausgedehnt ist, daß rechts sämtliche
drei Felder, links nur Spitze und Hilusgegend bestrahlt werden. Je nach Sitz der Erkrankung
werden seitliche Felder hinzugenommen.
Es wird in einer Sitzung stets nur ein Feld bestrahlt.
Bei fehlenden oder ganz geringen Reizerscheinungen geben wir 3 Bestrahlungen in der
Woche, bis wir die Seite einmal von vorne und von hinten bestrahlt haben, auf unserem
Schema geben die Zahlen 1–6 die Reihenfolge der Felderbestrahlungen in je einer Sitzung
an. Früher wurde dann dieselbe Seite in gleicher Weise noch einmal durchbestrahlt.
Jetzt gehen wir aber, um eine Überdosierung zu vermeiden, erst auf die andere Seite
über und bestrahlen auch hier von vorne und hinten einmal durch (7–10), jedesmal ein
Feld, 3 Sitzungen in der Woche. Dann erst wird der ganze Turnus wiederholt, zunächst
rechts (11–16) und dann links (17–20).
Die Dosierung schwankt zwischen 4–15 X bei 4 mm Aluminiumfilter (8–30 % der H.E.D.)
Größere Dosen bei der cirrhosierenden und zur Latenz neigenden Lungentuberkulose,
kleinere bei der stationären und langsam progredienten Tuberkulose. Bei Bronchialdrüsentuberkulose
geben wir 10–20 X in einer Sitzung.“
Die Beschreibung zu [Abb. 9]:
„25jährige Patientin, krank seit 5 Jahren. Anfänglich exsudative, geschlossene Tbc
im rechten Obergeschoß, nodöse Herde im linken Spitzen- und Hilusgebiet, ausgedehnte
Pleuraschwarte rechts. Pneumothorax rechts von 1917–1920. 6 Quarzlampen-Bestrahlungen
seit 22. 12. 1921. Beginn der Röntgentherapie 11. 1. 1922 bis 24. 2. 22. Gesamtdosis
94X. Durchschnittliche Dosis 6X“
[6].
Während der Bestrahlungszeit hätte die Patientin „alle Symptome völlig verloren“. Die Entlassung erfolgte am 4. 3. 1922. Seitdem befände sie sich „in völliger Gesundheit“
[21].
Ergebnisse
Bacmeister berichtet 1921 über seine Erfahrungen an 1000 Patienten mit günstigem Ergebnis,
insbesondere einer guten Wirkung bei der so gefürchteten Lungenblutung [21]:
In einem 1924 erschienenen Werk publiziert er zusammenfassend die Ergebnisse von pro
Jahr durchschnittlich 440 (1918–1922) behandelter Heilstätten-Patienten, 74 % von
ihnen mit Strahlentherapie.
Ohne sich mit einer Langzeit-Kontrolle des Heilerfolges zu beschäftigen, berichtet
er mit Begriffen wie „latent geworden“ und „wesentlich gebessert (berufsfähig)“ über
etwa 80 % „positiver Erfolge“ durch Radiotherapie in den Jahren 1918–1920 und über
90 % in den Jahren 1921–1922.
Von den Bestrahlungs-geeigneten Patienten mit offener Tuberkulose (31,8 % der Strahlenpatienten)
„verloren während und im Anschluss an die Behandlung 58 % ihre Bazillen“.
Angesichts der von O. Ziegler[4] 1923 mitgeteilten Ergebnisse von 38 % nach Röntgentherapie Tbc-negativ gewordener
Patienten sieht Bacmeister seine Methode als die erfolgreichere an:
„Wir sehen in unserem Ergebnis die günstigere Wirkung unserer Technik, die mit ihren
eintastenden und kleineren Dosen (als die Zieglerschen) bessere Resultate ergibt und
uns erlaubt, noch mehr und schwerere Fälle der Röntgentherapie zu unterziehen.“
Lungenblutung und Strahlentherapie
Lungenblutung und Strahlentherapie
Die gefürchtete Lungenblutung hatte durch die Einführung des künstlichen Pneumothorax
etwas von ihrem Schrecken verloren. Als therapeutische Methode kam hier auch die Strahlentherapie
ins Gespräch, obgleich man ihr nachsagte, dass sie durch ihre Reizwirkung den Zustand
eher verschlimmern könnte. Bacmeister hält dem entgegen, dass wiederum in geeigneten
Fällen mit der Strahlentherapie eine Besserung der Situation erzielt werden kann,
da die im günstigen Fall beschleunigt eintretende Narbenbildung die Blutungsquelle
zu verlöten vermag. Die Rate der Lungenblutungen betrug 1918–1920 etwa 7–8 % und 1921–1922
5,4 %. Neben dieser Abnahme bemerkte er auch von Jahr zu Jahr ungefährlicher ausgehende
Blutungsereignisse, ein Erfolg, den er seiner Methode zuschreibt – natürlich auch
der Wirkung des künstlichen Pneumothorax [1]
[21].
Röntgenbestrahlung bei Lungenkavernen
Strahlentherapie in Kombination mit chirurgischen Methoden
Strahlentherapie in Kombination mit chirurgischen Methoden
Die Überlegungen Bacmeisters bezüglich der Einbeziehung chirurgischer Methoden (Peumothorax,
thorakoskopische Lösung von Adhäsionen, Phrenikotomie und Thorakoplastik) erwähnt
Wetterer 1928 [8]:
„Bacmeister kombiniert die Bestrahlung mit einem totalen Pneumothorax, wenn die Lunge
zwei Monate, bei Fehlen jeden Symptoms einer Progredienz der Tuberkulose, völlig ruhiggestellt
war, um die Sicherheit zu haben, den Ansatz eines vernarbungsfähigen Granulationsgewebe
zu treffen.“
Der Verwachsungsproblematik über breitflächig entzündeten Herden und Verwachsungssträngen,
somit auch ausgespannten Kavernen, konnte seiner Meinung nach die Verkleinerung des
Thorax (Thorakoplastik) entgegenwirken. Voraussetzung war die Tendenz zu guter Schrumpfung
und damit Kompression der Kaverne, ein Hinweis auf die eher narbige und weniger exsudative
Komponente. Und so wäre auch dieser Prozess nach entsprechender Vorbereitung radiologisch
anzugehen [1]
[8]
[21].
Im September 1936 hat Bacmeister auf dem 3. Internationalen Kongress für Lichtforschung
in Wiesbaden über seine Strahlentherapie berichtet, überzeugt davon, dass sie „in
verbesserter und geläuterter Form an Interesse und Bedeutung“ gewinne. Die Grenzen
der Methode sieht er jetzt nicht nur bei den exsudativen Formen der Erkrankung, sondern
auch bei den narbig fixierten älteren Kavernen. Hier finde die chirurgische Therapie
ihre Aufgabe und erst dann, nach „genügender Entspannung“ die Reiztherapie, deren
„am besten steuerbarer Zweig“ die Röntgenbehandlung sei [19].
Verbreitung der Radiotherapie der tuberkulösen Lunge
Verbreitung der Radiotherapie der tuberkulösen Lunge
Bacmeister fand viele Nachahmer seiner Methode, die mehr oder minder erfolgreich versuchten,
durch Strahlentherapie narbige Heilung zu induzieren.
Von Bacmeister angeregt, versuchte der Thoraxchirurg C. Semb noch Ende der 1930er-Jahre
im norwegischen Ulleval-Sykehus und im Vardasen-Sanatorium, die Kollapstherapie mit
einer Röntgenbehandlung zu kombinieren. Er hoffte, durch die „Ruhigstellung der Lunge“
und durch eine dadurch bedingte Zirkulationsminderung und eingeschränkte bronchiale
Streuung, einen besseren Boden für die Induktion einer Strahlenfibrose vorfinden zu
können. Er dachte auch an die Patienten mit reduzierter Lungenfunktion, denen man
einen operativen Kollaps nicht so radikal gestalten mochte.
1941 schrieb er dann über seine Erfahrungen („sind vorläufig noch bescheidene und unser Urteil kein endgültiges“) nach 2 Jahren Anwendung seiner Kombinationstherapie:
„Die Reaktion auf diese zum Teil kräftige Röntgenbehandlung war eine minimale, indem
es weder zu einer nennenswerten Temperatursteigerung, Pulszunahme oder Erhöhung der
Senkungsgeschwindigkeit kam. In keinem einzigen Falle kam es zu einer Aktivierung,
verbunden mit einer Streuung des Prozesses und klinischer Verschlechterung.
Die Dauererfolge zu beurteilen, ist verfrüht. Nach Tuxen sind unsere vorläufigen Erfahrungen
nach 2 Jahren: Von 7 Fällen mit Restkavernen und Tuberkelbazillen nach Thorakoplastik
wurden 4 als geheilt angesehen, und von 6 schwierigen Fällen, wo die Röntgenbehandlung
kurze Zeit nach der Thorakoplastik gegeben wurde, waren 5 geheilt“
[22].
Resümee
„Nur daß wir überall, wo die Vernarbung einsetzt, diese durch die Röntgenbestrahlung
weiterzutreiben suchen.“
A. Bacmeister 1924
Für die Strahlenbehandlung der Lungentuberkulose gab es nur wenige erfahrene Therapeuten.
Sie war nur in einem ganz eng begrenzten Maß anwendbar, in der Dosierung kompliziert
und der Dosismessung am Ort des Geschehens schwer zugänglich. Ihre Wirkung wurde von
Kennern der Methodik als beachtlich eingestuft, ihre Anwendung mit einer Fülle von
Gebrauchs- und Indikationsanweisungen limitiert. Wesentlich war der Hinweis auf eine
Wirksamkeit bei zu Vernarbung neigenden Prozessen, deren günstiges Fortschreiten durch
vorsichtige Dosierung der Strahlen zu verstärken sei. Kontraindikation war der einschmelzende
exsudative Prozess.
Schließlich geriet sie in ihrer Bedeutung gegenüber einer aufstrebenden Chirurgie,
die gelegentlich noch von einer Kombination mit Strahlentherapie Gebrauch machte,
und gezielter Chemotherapie völlig in den Hintergrund, ja eigentlich auch in Vergessenheit:
In einer 2012 erschienenen Arbeit über die Strahlentherapie nichtmaligner Erkrankungen
findet sich im historischen Abriss und im Literaturverzeichnis nur noch ein kleiner
Hinweis auf die Strahlentherapie der Lungentuberkulose [23]. Das einst so enthusiastisch von Dermatologen und Gynäkologen begonnene, von Bacmeister
so hoffnungsvoll inaugurierte und in ein Gesamtkonzept der „Reiztherapie“ integrierte
Verfahren wird nur noch nebenbei erwähnt:
Neben dem medikamentösen Experiment mit Goldsalzen war somit eine weitere Stütze der
damaligen Tuberkulosetherapie weggebrochen. Chirurgie und Heilstätte sollten folgen.
Der Siegeszug der Chemotherapie brachte ein einstmals umfangreiches Gebäude zum Einsturz.