Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(06): 279-280
DOI: 10.1055/a-1471-8022
Editorial

COVID-19 in Neurologie und Psychiatrie

COVID-19 in Neurology and Psychiatry
 
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    Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel

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    Prof. Dr. med Heinz Reichmann

    Liebe Leserinnen und liebe Leser,

    täglich erfahren wir in den Nachrichten Neues zur Coronakrise und täglich gibt es neue wissenschaftliche Artikel zum SARS-CoV-2 Virus. Zumindest in den letzten 50 Jahren hat kein anderes Krankheitsbild – auch nicht die AIDS Erkrankung oder das Ebola-Virus – ein solches Medieninteresse sowohl in der Laienpresse als auch in der medizinischen Presse gefunden, wie dies für Corona gilt.

    Trotz dieser Überflutung an Informationen bei noch vielen offenen Fragen hat sich das Herausgeberboard der Fortschritte für Neurologie · Psychiatrie darangemacht, Ihnen ebenfalls zu diesem Thema einige interessante Aspekte in einem Themenheft aufzuzeigen. Unser Anliegen war es, im Rahmen von Neurologie und Psychiatrie auf die für unsere Fachgebiete relevanten Facetten dieser Viruserkrankung hinzuweisen. Während wir derzeit noch in der dritten Welle sind, müssen wir langsam bereits an die Folgeschäden dieser Pandemie denken, denn dort wird die psychiatrische und neurologische Expertise von hoher Relevanz sein. Viele psychische Folgeerscheinungen, hervorgerufen durch die Kontaktbeschränkungen, die fehlende Möglichkeit im Schulverband zu lernen, das Eingesperrtsein im Home-Office oder – was besonders die neurologische Leserschaft beschäftigen wird – das Post-COVID-Syndrom, werden uns noch viele Jahre an diese Pandemie erinnern. Zu befürchten ist auch, dass wir ähnlich wie bei der Influenza aufgrund neuer Virusmutanten jedes Jahr Auffrischimpfungen benötigen werden und es jährlich lokale Ausbrüche mit dem COVID-Virus geben wird.

    Im neurologischen Teil unseres Themenheftes haben wir uns zum einen mit der insbesondere initial auftretenden Riechstörung beschäftigt und zum anderen mit der zweiten, sehr häufigen Problematik bei COVID, nämlich Schlaganfällen, auseinandergesetzt. Isenmann et al. haben in ihrer Übersicht zu Störungen der Chemosensorik bei COVID-19 Patienten interessante Einblicke in den Pathomechanismus der Riech- und Schmeckstörungen aufgezeigt. Interessant ist ihre Beobachtung, dass bei jungen Patienten und generell bei Frauen eine Riechstörung eher mit einer günstigen Prognose des Krankheitsverlaufs verknüpft ist. Riechstörungen treten meist früh auf, können aber durchaus auch isoliert oder als Prodromalsyndrom für weitere schwerere Folgeschäden betrachtet werden. Schmeckstörungen sind noch schwierig einzuordnen, da sie sehr häufig auch subjektiv im Rahmen einer Anosmie von Seiten der Patienten beklagt werden. Prof. Streeck aus Bonn war der erste, der in seiner berühmten Heinsberg-Studie zeigen konnte, dass eine Mehrzahl an COVID-Erkrankten Riechstörungen aufweisen. Daraus ist abzuleiten, dass jeder, der in der jetzigen Situation eine Riechstörung bei sich feststellt, daran denken muss, eventuell an COVID erkrankt zu sein. Trotz der nunmehr über ein Jahr andauernden Pandemie konnte die Frage noch nicht geklärt werden, wie viele der Patienten ein normales Riechvermögen zurückgewinnen. Hier wäre sicherlich das Propagieren eines Riechtrainings hilfreich.

    Wie oben erwähnt, haben zerebrovaskuläre Erkrankungen leider einen hohen Stellenwert im Rahmen der COVID-Erkrankung, die ja zu Störungen der Blutgerinnung führt. Siepmann und Barlinn haben in ihrer Übersicht zu zerebrovaskulären Schäden sehr schön herausgearbeitet, dass die Hyperkoagulabilität eben nicht nur in großen Gefäßen, sondern auch mikrovaskulär auftritt und zu vaskulitischen arteriellen Veränderungen und kardiogenen Embolien führt, was wiederum neben einer Schädigung der Herzfunktion zu COVID-19 assoziierten Schlaganfällen führen kann. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Sinus-Venenthrombosen, die unter dem Astrazeneca Vakzin beschrieben wurden, wohl ähnlich wie bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie zu werten sind und ebenfalls für uns Neurologen ein hoch relevantes Krankheitsbild darstellen, das es nicht zu übersehen gilt.

    Die vielfältigen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie einschließlich der Vorkehrungen zur Infektionskontrolle – mit einschneidenden gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen – sowie die erforderliche Vorhaltung ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen für bereits von der Infektion und ihren lebensbedrohlichen Folgen Betroffene mit unmittelbarer Beeinträchtigung ihrer Lungenfunktion, aber auch anderer Organsysteme einschließlich Nervensystem, berühren insgesamt das Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie – in enger Überschneidung mit dem neurologischen Fachgebiet. Dies war der Beweggrund für uns, aus Perspektive beider Fächer das vorliegende Themenheft „COVID-19 in Neurologie und Psychiatrie“ zu gestalten.

    Dreßing, Hosp, Kuehner, Dreßing und Meyer-Lindenberg haben einen grundlegenden Beitrag zu den neuropsychiatrischen Folgen der COVID-19 Pandemie vorgelegt, in dem sie Art und Ausmaß der Beeinträchtigung psychischer Gesundheit und ihre neurobiologischen Grundlagen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Individuelle Folgen der Pandemie und ihre ordnungspolitischen Maßnahmen zur Eingrenzung, wie soziale Isolation und Vereinsamung durch Lock-down oder Quarantäne sowie zeitlich unabsehbare Rücknahme von Einschränkungen, Ängste vor und nach eigener Ansteckung, Sorge um Verlust nahestehender Menschen, oder Verzweiflung über drohenden wirtschaftlichen Ruin, werden in der wechselseitigen Verschränkung ihrer psychosozialen, psychopathologischen und neurobiologischen Manifestationen analysiert und erläutert. Bei stattgehabter Infektion werden als Kurz- oder Langzeitfolge kognitive Defizite sowie ein Fatigue-Syndrom beobachtet und als „Long-COVID Syndrom“ bezeichnet, wobei ursächlich direkte neurotrope und immunvermittelte Effekte, aber auch die Folgen erforderlicher intensivmedizinischer Versorgung diskutiert werden.

    Nischk und Voss haben in einer kleinen deutschen Pilotstudie im Rahmen des COVID-19 Shutdown im Frühjahr 2020 an einer selegierten Stichprobe von psychiatrisch stationär Vorbehandelten und psychisch Gesunden (Selbsteinschätzung) eine Online-Kurzbefragung zu allgemeiner psychischer Symptombelastung und deren Zusammenhang mit adaptiven Veränderungen im funktionalen Alltagsverhalten vergleichend durchgeführt. Während die Vorerkrankten gegenüber Gesunden über signifikant stärkere und zunehmende psychische Belastung berichteten, wiesen sie zugleich signifikant geringere adaptive Anpassungen ihres Alltagsverhaltens an die veränderte Lebenssituation im Rahmen der Corona-Krise auf. Der bidirektionale Zusammenhang zwischen maladaptiver Alltagsbewältigung und höherer Symptombelastung verweist auf verschiedene Optionen therapeutischer Unterstützung, die insbesondere Menschen mit psychischen Vorerkrankungen in Krisenzeiten wie dieser zugänglich gemacht werden müssten. Zu diesen Optionen rechnen zweifelsohne die zunehmend verfügbaren und eingesetzten digitalen Therapieverfahren.

    In diesem Kontext ist die Übersichtsarbeit von Stricker und Lukies zu digitalen Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen in der COVID-19 Pandemie angesiedelt. Der Beitrag gibt einen Überblick über digitale Verfahren und deren differentielle Indikation in Zeiten notwendiger Kontaktbeschränkung – wie unter Pandemiebedingen – zur Behandlung vorbestehender psychischer Störungen, zur Reduktion pandemiebedingter psychischer Beeinträchtigungen, wie z. B. Ängste, Depression, Suizidalität aufgrund sozialer Isolation und Vereinsamung, Bewegungseinschränkung oder wirtschaftlicher Deprivation, sowie zur Überwindung von neuropsychiatrischen Folgeschäden nach durchgemachter Infektion und Intensivbehandlung. Die vielfältigen Optionen, aber auch Herausforderungen und Grenzen beim Einsatz digitaler Behandlungsformen, eröffnen Perspektiven für einen auch künftig weiter steigenden und zunehmend breiteren Einsatz über die Zeit der Pandemie hinaus.

    In der Hoffnung, dass Ihnen dieses aktuelle Themenheft in der für uns alle schwierigen Zeit zusagt, verbleiben wir mit herzlichen Grüßen und wünschen eine interessante Lektüre.

    Ihre

    Heinz Reichmann

    Wolfgang Gaebel


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    Interessenkonflikt

    Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

    Korrespondenzadresse

    Univ.-Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel
    LVR-Klinikum Düsseldorf
    Heinrich-Heine-Universität Medizinische Fakultät Bergische Landstraße 2
    40629 Düsseldorf
    Deutschland   

    Publication History

    Article published online:
    18 June 2021

    © 2021. Thieme. All rights reserved.

    Georg Thieme Verlag KG
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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