Nervenheilkunde 2021; 40(11): 919-923
DOI: 10.1055/a-1500-2647
Geist & Gehirn

Gesundheit, Wasser, Meer & Küste

 

Wasser bedeckt mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche. Ohne Wasser gäbe es kein Leben. Der Mensch kann maximal etwa 5 Tage ohne Wasser auskommen. So verwundert nicht, dass Gewässer in der Landschaft die Menschen seit der vorgeschichtlichen Steinzeit anzogen. In historischer Zeit – bei den Sumerern im Zweistromland, in Ägypten am Nil und im antiken Griechenland in Epidauros mit seinen Heilquellen – blieb Wasser das lebensbestimmende Element. Dies zeigt sich auch in den religiösen Praktiken aller Hochkulturen, in denen Wasser im Rahmen ritueller Handlungen (Waschungen, Bäder, Tränke) eine große Rolle spielte. Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in einem schmalen Küstenstreifen am Meer, und etwa 70 % der weltgrößten Städte befinden sich an Meeresküsten. Im Urlaub fahren wir „ans Meer“ – 51 % der europäischen Hotelbetten befinden sich an der Küste, dem touristisch mit Abstand bedeutsamsten Merkmal von Landschaft [6] – Warum ist das so?

Ästhetik: Grün, Blau, Blick

Von den 3 Indikatoren für unser ästhetisches Bewerten von Natur – Grün, Blau und Blick [15] – ist Blau, also das Wasser, zugleich der stärkste aber auch der empfindlichste Indikator. Schlechtes Wetter, Müll und Schmutz beeinträchtigen unser positives Erleben von Gewässern in einem stärkeren Ausmaß als dies bei Begrünung und Blick der Fall ist: Wer mag schon Schaum auf dem Wasser oder Müll im Wasser schwimmen sehen? Zumal dies ein Zeichen für die allgemeine Verschmutzung der Landschaft (und nicht nur des Gewässers) ist, wie wissenschaftliche Studien zeigen konnten [20], [21]. Sehr viele Menschen haben eine oft unbestimmte Sehnsucht für das „hohe“ oder „weite“ Meer, was nicht zuletzt in unzähligen Kulturprodukten verschiedenster Art – Geschichten, Literatur, Musik, Gemälde, Fotografien etc. – seinen Ausdruck findet. Die Gedanken „Meer“ und „Küste“ sind bei den meisten Menschen stark mit den Gedanken „Freizeit“, „Urlaub“ und „Erholung“ verbunden. Dies bedingt eine wechselseitige Verstärkung: Wir reisen an die Küste, weil wir beim Gedanken an sie zugleich an Urlaub und Erholung denken, und wir erholen uns im Urlaub an der Küste, sodass unsere Urlaubserinnerungen von der Küste handeln. Am Meer verläuft die Zeit langsamer, entkommt man der Hektik des Alltags und erlebt eine Weite und Leere – vor allem was menschengemachte Ablenkungen anbelangt. Optisch und akustisch hat das Rauschen der Wellen für die meisten Menschen etwas sehr Beruhigendes. Küsten sind auch nahezu der einzige Ort, an dem sich spärlich bekleidete erwachsene Menschen zwanglos treffen (diese Art der Bekleidung wird sogar erwartet) und sich vollkommen unstrukturiert – wie Kinder! – verhalten können. Auch dies alles schwingt beim Gedanken an Küste und Meer in unseren Köpfen mit, selbst wenn wir nicht bewusst daran denken.

Die Meere liefern uns auch Meeresfrüchte, die – ebenso wie Früchte – sehr gesund sind und am besten lokal frisch verzehrt werden. Eine kürzlich im Fachblatt Nature hierzu publizierte Studie konnte zeigen, dass „blue food“ – proteinreiche Nahrungsmittel aus dem Meer und aus Binnengewässern – sowohl für den Menschen als auch für den Planeten günstiger sind als beispielsweise auf dem Land gezüchtetes Geflügel, der von allen tierischen Proteinquellen für Mensch und Umwelt vergleichsweise geeignetsten Quelle [9]. Schließlich ermöglichen Strände, Wasser und Wellen die verschiedensten körperlichen Aktivitäten, vom Wandern, Sandburgenbauen und Beach-Volleyball über Schwimmen, Schnorcheln oder Tauchen bis hin zum Rudern, Segeln, Wellenreiten oder Kite-Surfen. Meer und Küste sind wichtige Motivatoren für, und Aufforderungen zu, Bewegung, sportlicher Aktivität und intensivem Köperkontakt mit natürlichem Material: Wasser und Sand.


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Gesunde Küsten: Vom Kaiserbad zum Massentourismus

Die Nutzung von Meer und Küste, um die Gesundheit zu verbessern sowie zur Prävention von, oder Rekonvaleszenz nach, bestimmten Erkrankungen hat eine lange Geschichte, die eng mit der Geschichte von Seebädern verbunden ist. Schon vor über 80 Jahren erschien im britischen Fachblatt Lancet eine Arbeit zur Geschichte des Gedankens der heilenden Wirkungen des Meeres und der britischen Seebäder, deren ältestes im Jahr 1796 gegründet wurde. Weitere folgten, und ebenso wie sich manche britischen Städte im vorletzten Jahrhundert in „Baumwollfabriken“ (Lancashire) oder „Eisenwarenfabriken“ (Birmingham) verwandelten, verwandelten sich andere Städte (Brighton) parallel dazu in Wellnessfabriken. Der Aufenthalt in einem Seebad war für lange Zeit ein Privileg der Reichen. „Die empfindlichen kränklichen Kinder und die Invaliden aus den großen Städten sowie vor allem die geschwächten Arbeiter in den überfüllten Fabriken sahen das Meer oder die grüne Natur nur selten,“ schreiben die Autoren der Lancet-Arbeit kritisch [5]. John Robertson, ein Chirurg aus der Industriestadt Manchester, der die gesundheitlichen Folgen unsäglich schwerer Arbeit unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen beschrieb und das Leid der Betroffenen vermindern wollte, gründete daher im Jahr 1837 das erste Erholungsheim für – heute würden wir sagen – sozial schwache Familien, was zunächst von anderen britischen Industriestädten und später europaweit an Küsten industrialisierter Länder nachgeahmt wurde.

Auch in Deutschland wurde der Aufenthalt am – und das Baden im – Meer von Ärzten propagiert, was im Jahr 1793 zur Gründung des ersten deutschen Seebads Doberan an der Ostsee führte – durch den Herzog zu Mecklenburg, Friedrich Franz, auf Empfehlung des Arztes Samuel Gottlieb Vogel. Nur ein Jahr später beginnt der Kurbetrieb im nahen Heiligendamm und nochmal 3 Jahre später (im Jahr 1797) wurden auf der ostfriesischen Insel Norderney vom Landarzt Dr. von Halem die ersten Badeanlagen an der Nordsee aufgebaut. Im darauffolgenden Jahrhundert entstanden an Nord- und Ostsee sehr viele der noch heute bekannten und beliebten Seebäder: Travemünde (1802), Warnemünde (1805), Föhr (1819), Helgoland (1826), Westerland auf Sylt (1855), Ahrenshoop (1880), Zingst und Wustrow (beide 1881) auf dem Darß, Binz (1884) auf Rügen sowie Zinnowitz (1864), Heringsdorf (1879) und Bansin (1890) auf Usedom. Die Tatsache, dass die letzten 3 genannten Orte auch „Kaiserbäder“ genannt werden, macht deutlich, dass auch hierzulande das Baden am Meer im vorletzten Jahrhundert (und weit bis in das letzte Jahrhundert hinein) ein Privileg der Wohlhabenden war ([ Abb. 1 ]).

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Abb. 1 „Alles außer Palmen“, titelte vor einigen Jahren schon die Bild-Zeitung über den Strand der Ostseeinsel Hiddensee, an dem sich schon vor 100 Jahren Künstler, Schauspieler, Wissenschaftler, Schriftsteller und einige Esoteriker erholten und vor allem auch trafen, nachdem vor etwa 100 bis 120 Jahren die Infrastruktur in Form einiger kleinerer Hotels geschaffen worden war. Quelle: ©Autor

Dies hat sich geändert: Der Urlaub am Strand – irgendwo auf der Welt – ist mittlerweile fester und ökonomisch bedeutsamer Bestandteil des „Massentourismus“. Billige Flüge in entfernte Länder mit niedrigen Löhnen machten dies möglich, und nicht alle mit dem Massentourismus am Strand verbundenen Aktivitäten dürften gesund sein. Aus ökologischer Sicht sind das billige Fliegen und die Menschenmassen an den Stränden für den Globus und für dessen Küstenbiotope eine Katastrophe. Und so wurden über Jahrzehnte bis zum Beginn der Corona-Pandemie Billigflüge an überfüllte Strände zum Symbol für die Spannung zwischen der Sehnsucht nach aktiver Erholung in der Natur einerseits und der für Mensch und Erde ungesunden touristischen Realität von Passivität und Konsum andererseits: tags dicht gedrängt in der prallen Sonne die Zeit verdösen und nachts „feiern“. Diese möglichen negativen Folgen des übermäßigen Strand-Tourismus wurden übrigens bereits in dem angeführten Artikel aus dem Fachblatt Lancet vor mehr als 80 Jahren als schädliche Entwicklung vorausgesehen – allerdings nicht in dem tatsächlich eingetretenen Ausmaß.


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Blue Space: Wenige Quellen für Wasser

Im Gegensatz zur reichhaltigen wissenschaftlichen Literatur über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen vom „Grünen“ (Green Space) gibt es nur wenige belastbare wissenschaftliche Quellen zu den positiven Einflüssen von Gewässern auf die Gesundheit. Dies überrascht so sehr, dass es in nahezu allen Übersichten hierzu auch aktiv thematisiert wird [20], [24]. Erwähnenswerte Ausnahmen stellen u. a. die folgenden Studien dar. Die britische Arbeitsgruppe um Benedict Wheeler ging dem Zusammenhang zwischen der Küstennähe des Wohnorts und der allgemeinen Gesundheit anhand von Volkszählungsdaten für England aus dem Jahr 2001 nach. Die Leute beantworteten u. a. die Frage: „Würden Sie Ihren Gesundheitszustand in den letzten 12 Monaten insgesamt als gut bewerten?“ Die Antworten wurden dann mit der Nähe des Wohnortes der jeweiligen Person zur Küste in Zusammenhang gebracht. Die Küstennähe wurde in 5 Bereiche unterteilt: 0–1 km; 1–5 km; 5–20 km; 20–50 km; mehr als 50 km. Weil die Gesundheit bekanntermaßen durch das Einkommen beeinflusst wird [11], [12], wurden die Personen auch nach dem Einkommen in 5 Quintile eingeteilt. Insgesamt zeigte die Studie, dass mit zunehmender Entfernung von der Küste die Gesundheit abnimmt. Der Effekt war in dem Fünftel der Menschen mit dem geringsten sozioökonomischen Status am stärksten ausgeprägt und nahm mit zunehmendem Wohlstand ab. Im wohlhabendsten Fünftel war der Effekt nicht mehr nachweisbar ([ Abb. 2 ]).

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Abb. 2 Die Küste und die Gesundheit in städtischen Gebieten. Veränderung des Prozentsatzes der Bevölkerung von Wohngebieten in verschiedenen Abständen zur Küste, die sich als gesund bezeichnet, im Vergleich zum weitesten von der Küste (Baseline, auf Null standardisiert; nach Daten aus [18])

Dem Einwand, die hier berichteten Effekte seien doch sehr klein, ist klar zu widersprechen. „Nach Bereinigung der Daten um die Effekte von Alter und Geschlecht […] gibt es in England eine offensichtliche Tendenz zu steigender selbstberichteter guter Gesundheit mit zunehmender Nähe zur Küste. Der Unterschied im prozentualen Anteil der Personen, die einen guten Gesundheitszustand angeben, zwischen den städtischen Gebieten im Landesinneren und den Küstengebieten entsprach in etwa dem Unterschied zwischen benachbarten Quintilen der sozioökonomischen Benachteiligung“, kommentieren die Autoren ihre Ergebnisse [18]. Die Auswirkungen des Einkommens auf die Gesundheit sind erstens deutlich und zweitens sehr gut untersucht [11], [12]. Wenn die Bedeutung der Küstennähe für die Gesundheit in der gleichen Größenordnung liegt, so das wichtige Argument, dann ist sie definitiv nicht klein. Dass die Bedeutung der Küstennähe für die Gesundheit mit steigendem Wohlstand abnimmt – reichere Leute sind gesünder und daher weniger auf den „Küsteneffekt“ angewiesen –, passt dazu, dass dies auch für die Begrünung gefunden wurde. Denn auch für das Naturerleben von Wald und Wiese gilt, dass es bei Wohlhabenden einen kleineren Effekt auf die Gesundheit hat als bei Menschen mit geringerem Einkommen. Wer ohnehin schon gesünder ist, kann nicht im gleichen Ausmaß noch gesünder werden wie der sozioökonomisch Benachteiligte mit einer geringeren Gesundheit.

Auch eine belgische Studie mit Daten aus einer großen nationalen Gesundheitsbefragung an knapp 61 000 Personen ergab eine bessere Gesundheit der Menschen, die 0–5 km entfernt von der Küste leben [10]. Eine britische Studie fand heraus, dass der Effekt nicht nur am vermehrten Wassersport liegt, sondern vor allem mit mehr Bewegung an Land zusammenhängt [13]: Am Meer geht man gerne spazieren, laufen oder macht Yoga – und das ist gesund. Eine Übersicht von 35 Studien zum Zusammenhang von Blue Space und körperlicher sowie geistiger Gesundheit fand insgesamt, dass es einen positiven Effekt auf das seelische Wohlbefinden und die körperliche Aktivität gibt [8]. Eine weitere Übersicht zu 33 Arbeiten ergab zusätzlich einen Effekt im Sinne eines stärkeren sozialen Zusammenhalts [3]. Schließlich konnte eine große britische Studie an knapp 26 000 Erwachsenen das bereits angeführte Ergebnis replizieren, dass der Effekt der Nähe zur Küste (weniger als 5 km) auf die Gesundheit vor allem bei einkommensschwachen Teilnehmern zu finden war. Küste und Meer wirken somit ausgleichend auf soziale und die damit verbundene gesundheitliche Ungleichheit [7]. Die Ärzte, die schon vor knapp 200 Jahren Erholungsaufenthalte an der Küste insbesondere für sozial schwache Familien empfahlen, wurden somit durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahre auf eindrucksvolle Weise bestätigt.


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Nähe und Bewegung

Der Abstand des Wohnorts zum Gewässer spielt nicht zuletzt deswegen eine große Rolle für dessen Auswirkung auf die Gesundheit, weil die Wahrscheinlichkeit eines Besuchs des Gewässers exponentiell mit dessen Entfernung vom Wohnort abnimmt. Am deutlichsten ist diese Abnahme bei Flüssen, etwas geringer bei Seen und am geringsten am Meer, wie eine große Studie aus den Jahren 2017 und 2018 mit 15 216 Teilnehmern aus 18 Ländern bzw. Territorien zeigen konnte ([ Abb. 3 ]). Im Vergleich zu Menschen, deren Wohnort mehr als 50 km von der Küste entfernt liegt, war die Wahrscheinlichkeit, dass man im letzten Monat die Küste mindestens einmal pro Woche in der Freizeit zur Erholung aufsuchte, bei einem Abstand der Wohnung von 0–1 km zur Küste auf das 8,4-Fache gesteigert, beim Abstand von 1–5 km auf das 4,7-Fache und beim Abstand von 5–25 km noch auf das 2,2-Fache (jeweils p < 0,001). Sogar bei einem Abstand von 25–50 gab es noch eine signifikante (p < 0,05) Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, zur Küste zu fahren, von 1,4. Beim Abstand von 0–1 km von einem See war die entsprechende Wahrscheinlichkeit 3,1 (p < 0,001) und bei 1–5 km Abstand 1,5 (p < 0,01). Beim Abstand zu einem Fluss war diese Wahrscheinlichkeit nur in bis zu einem km Nähe mit 1,6 (p < 0,01) signifikant erhöht.

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Abb. 3 Die Übersicht zu Daten aus 9 der insgesamt 18 Länder und Territorien – Griechenland, Frankreich, Kalifornien, Spanien, Italien, Großbritannien, Portugal, Queensland (Australien) und Deutschland (nicht im gleichen Maßstab) zeigt jeden einzelnen Datenpunkt, der in die Messungen zum Abstand von Meer, See oder Fluss einging (nach Daten aus [4]).

Bereits im Jahr 1999 befragten Bauman und Mitarbeiter im australischen New South Wales 16 178 Menschen nach ihrer körperlichen Aktivität, um dem Zusammenhang zwischen der geografischen Nähe ihres Wohnortes zur Küste und der Beteiligung an körperlichen Aktivitäten nachzugehen [1]. Der Grad der körperlichen Aktivität wurde anhand von Fragen zur Häufigkeit und Dauer von Spaziergängen, zu mäßigen und zu anstrengenden Aktivitäten in den 2 Wochen vor der Befragung gemessen. Nach Bereinigung um andere demografische Faktoren (Alter, Geschlecht, Beschäftigungsstatus, Bildungsniveau und Geburtsland) war die Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten, die an der Küste wohnten, mehr bzw. längere Spaziergänge (d. h. leichte körperliche Aktivität) machten, um 23 % höher, das Ausmaß ihrer mittleren körperlichen Aktivität war um 27 % höher und starke körperliche Aktivität um 38 % höher als bei Bewohnern des Landesinneren. Jeder dieser Zusammenhänge war auf der 0,05 %-Ebene signifikant.

Diese Ergebnisse verdeutlichen einen Sachverhalt, der an dieser Stelle nochmals ausdrücklich betont sei: Für die gesundheitlichen Effekte von Wasser sorgt nicht einfach nur der Aufenthalt beim Blauen, sondern dessen motivationale Kraft für sportliche Aktivitäten. Und diese haben ganz offensichtlich einen großen Anteil an der Wirkung des Meeres und seiner Küsten auf den Menschen. Wie könnte es sonst sein, dass viele Studien zu den Auswirkungen von „Blue Space“ für sich genommen nur schwache Effekte auf die Gesundheit zeigen, Aktivitäten am Wasser jedoch nach anderen Studien zum Gesündesten gehören, was man tun kann. Menschen spüren dies offensichtlich, ohne dass es ihnen bewusst ist. Dies erklärt auch, warum sich die Lage eines Hauses „im Blauen“ – verglichen mit „im Grünen“ und „mit Blick“ – am stärksten auf seinen Preis auswirkt.


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Küste ist nicht gleich Küste

Schließlich ist für die große Variabilität der Untersuchungsergebnisse zu den gesundheitlichen Auswirkungen von „Blue Space“ noch ein weiterer Gesichtspunkt zu bedenken: Nicht alle Küsten der Meere dieser Welt sind gleich und schon gar nicht gleich gesund. Dies zeigt eine im Jahr 2021 publizierte Studie einer Arbeitsgruppe um Paul Sandifer vom Zentrum für Küsten- und Umweltschutz und menschliche Gesundheit in Charleston, South Carolina [14]. Über Jahre wurden jährlich Daten aus 165 städtischen Gebieten der USA über den allgemeinen Gesundheitszustand sowie Krankheitstage aus dem Behavioral Risk Factor Surveillance System des US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) gesammelt und ausgewertet. Die Selbstauskünfte zur Gesundheit von Bewohnern küstennaher und nicht küstennaher städtischer Gebiete wurden verglichen, wobei die Bewohner der katastrophengefährdeten Region des Golfs von Mexiko eine eigene dritte Gruppe bildeten. Es zeigte sich, dass es keinen allgemeinen gesundheitlichen Vorteil des Wohnsitzes in einem städtischen Küstengebiet gab. Dies lag daran, dass der selbst eingeschätzte Gesundheitszustand der Bewohner der Golfküstenstädte signifikant schlechter war als der von Bewohnern anderer, nicht in der Nähe von Küsten gelegenen Stadtgebiete. Nach Ansicht der Autoren sind hierfür die häufigen Katastrophen durch tropische Wirbelstürme (Sturmschäden und Überschwemmungen) sowie die in der Golfregion herrschenden sozioökonomischen Ungleichheiten verantwortlich. Bei Bewohnern anderer Küsten als der Golfküste zeigte sich hingegen ein positiver Effekt auf die Gesundheit.

Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang noch die Tatsache, dass Überflutungen von Küsten- und Flussregionen zu den für Menschen tödlichsten Naturkatastrophen gehören. An den Flüssen Chinas kam es in den letzten 150 Jahren zu schwersten Flutkatastrophen, wie im Jahr 1887 am Gelben Fluss (dem zweitlängsten in China) mit bis zu 2 Millionen und im Jahr 1931 am Jangtsekiang, dem drittlängsten Fluss der Welt, mit bis zu 4 Millionen Todesopfern. In Deutschland waren nach den beiden Elbhochwassern von 2002 und 2006 Dutzende von Todesopfern zu verzeichnen. Die von Starkregen im Sommer 2021 innerhalb kurzer Zeit in reißende Flüsse verwandelten Bäche in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen forderten mehr als 170 Todesopfer. Ein Tsunami1 forderte am 26. Dezember 2004 im Indischen Ozean mehr als eine Viertel Million Todesopfer. Bei der Sturmflut an der deutschen Nordseeküste im Jahr 1962 kamen 340 Menschen ums Leben.

Halten wir fest: Küsten sind besondere Gebiete und haben einen positiven Effekt auf die Gesundheit. Das Leben an der Küste, am Meer und auch (wahrscheinlich zu einem etwas geringeren Grad) an Binnengewässern ist vergleichsweise gesünder. Dies haben große Studien gezeigt. Die Datenlage zu den Auswirkungen des Wassers auf die Gesundheit des Menschen ist jedoch verbesserungsbedürftig, und die Mechanismen der Effekte sind noch nicht ausreichend untersucht. Der Effekt ist zudem stark kontextabhängig und erscheint fragil, wenn andere, negative Faktoren zum Tragen kommen. Wer sich also vom Wasser angezogen fühlt, kann diesem Gefühl also guten Gewissens nachgehen, oder besser: sich von ihm bewegen lassen. Die Auswüchse des Massentourismus an manchen mediterranen Küsten am Tage und nachts sind jedoch im Hinblick auf den One-Health-Gedanken [16] weder dem Menschen noch dem Globus zuträglich.


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • literatur

  • 1 Bauman A, Smith B, Stoker L et al. Geographical influences upon physical activity participation: evidence of a ‘coastal effect’. Aust N Z J Public Health 1999; 23: 322-324
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  • 7 Garrett JK, Clitherow TJ, White MP. et al Coastal proximity and mental health among urban adults in England: The moderating effect of household income. Health Place 2019; 59: 102200
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  • 16 Spitzer M. Eine Gesundheit. Stuttgart: Schattauer; 2021
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  • 25 White MP, Elliott LR, Gascon M et al. Blue space, health and well-being: A narrative overview and synthesis of potential benefits. Environmental Research 2020; 191: 110169 DOI: 10.1016/j.envres.2020.110169.
  • 26 White MP, Elliott LR, Grellier J. et al Associations between green/blue spaces and mental health across 18 countries. Sci Rep 2021; 11: 8903 DOI: 10.1038/s41598-021-87675-0.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Abteilung für Psychiatrie
Leimgrubenweg 12–14
89075
Ulm
Deutschland

Publication History

Article published online:
02 November 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • literatur

  • 1 Bauman A, Smith B, Stoker L et al. Geographical influences upon physical activity participation: evidence of a ‘coastal effect’. Aust N Z J Public Health 1999; 23: 322-324
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Abb. 1 „Alles außer Palmen“, titelte vor einigen Jahren schon die Bild-Zeitung über den Strand der Ostseeinsel Hiddensee, an dem sich schon vor 100 Jahren Künstler, Schauspieler, Wissenschaftler, Schriftsteller und einige Esoteriker erholten und vor allem auch trafen, nachdem vor etwa 100 bis 120 Jahren die Infrastruktur in Form einiger kleinerer Hotels geschaffen worden war. Quelle: ©Autor
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Abb. 2 Die Küste und die Gesundheit in städtischen Gebieten. Veränderung des Prozentsatzes der Bevölkerung von Wohngebieten in verschiedenen Abständen zur Küste, die sich als gesund bezeichnet, im Vergleich zum weitesten von der Küste (Baseline, auf Null standardisiert; nach Daten aus [18])
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Abb. 3 Die Übersicht zu Daten aus 9 der insgesamt 18 Länder und Territorien – Griechenland, Frankreich, Kalifornien, Spanien, Italien, Großbritannien, Portugal, Queensland (Australien) und Deutschland (nicht im gleichen Maßstab) zeigt jeden einzelnen Datenpunkt, der in die Messungen zum Abstand von Meer, See oder Fluss einging (nach Daten aus [4]).