Patienten wollen über das Risiko einer Fazialisparese aufgeklärt werden
Patienten wollen über das Risiko einer Fazialisparese aufgeklärt werden
In den Medien, insbesondere in den sozialen Medien, werden von den Bürgern und Patienten
sehr kontroverse Diskussionen über die Impfung gegen SARS-CoV-2 geführt. Es häufen
sich Beschreibungen zum Auftreten einer akuten Fazialisparese nach der Impfung, und
unsere Patienten fragen gehäuft nach dem Risiko. Daher sollten HNO-Ärztinnen und -Ärzte
sorgfältig über das Thema aufklären können. Hier stellen wir die Fakten zusammen.
Fallberichte zum Auftreten einer akuten Fazialisparese nach Impfung gegen SARS-CoV-2
Fallberichte zum Auftreten einer akuten Fazialisparese nach Impfung gegen SARS-CoV-2
Es gibt Fallberichte, die das seltene Auftreten einer Fazialisparese in zeitlichem
Zusammenhang mit der Gabe von mRNA-Vakzinen gegen SARS-CoV-2 beschreiben: In einer
Phase-III-Studie mit dem BioNTech/Pfizer-Impfstoff wurden die Daten von knapp 38 000
Probanden einbezogen, die über 2 Monate nach der zweiten Gabe (21 Tage nach der ersten
Gabe) nachbeobachtet wurden. In diesem Zeitraum gab es insgesamt 4 Fälle einer Fazialisparese
in der Gruppe der Geimpften und keinen Fall in der Placebo-Gruppe [1]. In der Zwischenauswertung einer weiteren Studie mit über 30 350 Probanden zum Moderna-Impfstoff
wurden 3 Fälle von Fazialisparese in der Impfgruppe dokumentiert und ein Fall in der
Placebo-Gruppe [2]. Nachbeobachtet wurde durchschnittlich 7 Wochen nach der zweiten Gabe (durchschnittlich
29 Tage nach der ersten Gabe).
Im Detail betrachtet erlitten in der Studie von BioNTech/Pfizer von den insgesamt
18 801 Personen, die den Impfstoff erhalten hatten, innerhalb des Nachbeobachtungszeitraums
von ca. 82 Tagen 4 eine akute Fazialisparese. Die Fazialisparesen traten nach 3, 9,
37 und 48 Tagen nach der Impfung auf. In der Kontrollgruppe mit 18 785 Personen wurde
keine Fazialisparese dokumentiert.
In der Zwischenauswertung des Moderna-Impfstoffs erlitten von den insgesamt 15 180
Personen, die den Impfstoff erhalten hatten, innerhalb des Nachbeobachtungszeitraums
von ca. 78 Tagen 3 eine akute Fazialisparese. In der Kontrollgruppe mit insgesamt
15 170 wurde im gleichen Zeitraum nur ein Fall von einer akuten Fazialisparese dokumentiert.
Beide Studienberichte deuten darauf hin, dass die Impfung im Vergleich zu einer Placebo-Gabe
das Auftreten einer akuten Fazialisparese begünstigt. Werden beide Studien gemeinsam
betrachtet, sind in den ca. 80 Tagen Nachbeobachtungszeit nach der ersten Impfung
in der Impfgruppe 7 Fälle von akuter Fazialisparese aufgetreten, in der annähernd
gleich großen Vergleichsgruppe nur ein Fall. Auch wenn bei diesen seltenen Ereignissen
statistische Aussagen nur vorsichtig getroffen werden können, scheint das Risiko durch
die Impfung um das 7-Fache erhöht zu sein [3]. Für den COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca ist das Auftreten einer Fazialisparese
bislang nicht berichtet worden. Für die anderen weltweit zugelassenen Impfstoffe haben
wir keine Daten zum Auftreten einer Fazialisparese finden können.
Vergleich der Inzidenz der akuten Fazialisparese mit der Inzidenz nach einer Impfung
Vergleich der Inzidenz der akuten Fazialisparese mit der Inzidenz nach einer Impfung
Das Risiko, eine akute idiopathische Fazialisparese zu erleiden, wird aber auch unabhängig
von einer Impfung mit 7–40 Fällen pro Jahr auf 100 000 Einwohner angegeben [4]. Es wurde daher bereits behauptet, die insgesamt 8 Fälle von akuten Fazialisparesen
in der gesamten Studienpopulation von ca. 68 000 Personen seien vergleichbar mit der
spontanen Inzidenz von 7–40 Fällen pro 100 000 Einwohnern pro Jahr [5]. Diese Überlegung berücksichtigt aber nicht, dass in den beiden Studien nur die
Hälfte der Personen, d. h. 33 982 Menschen, geimpft wurde und die Beobachtungszeit
nur ca. 80 Tage statt 365 Tage betrug.
Werden die 7 berichteten Fälle von Fazialisparesen in der Impfgruppe mit 33 982 Personen
(18 801 + 15 180) angenommen und auf 100 000 Personen hochgerechnet, wären 20,6 Fälle
von akuter Fazialisparese pro 100 000 Impfungen zu erwarten. Rein statistisch sollten
jedoch maximal 8,8 akute idiopathische Fazialisparesen in 80 Tagen Beobachtungszeit
pro 100 000 Einwohner auftreten, wenn die aufgetretenen Fälle (spontan versus nach
Impfung) als vergleichbar betitelt werden. Das Risiko für eine akute Fazialisparese
scheint also nicht nur im Vergleich zur Placebo-Gruppe, sondern auch in diesem Vergleich
mit anderen Beobachtungsstudien zum zufälligen Auftreten von akuten idiopathischen
Fazialisparesen vor COVID-19 um mindestens das 2,3-Fache erhöht zu sein (im Zeitraum
80 Tage nach den Impfungen).
Es ist lange bekannt, dass eine akute Fazialisparese nach bestimmten Impfungen auftreten
kann
Es ist lange bekannt, dass eine akute Fazialisparese nach bestimmten Impfungen auftreten
kann
Wie dargelegt gibt es also deutliche Hinweise darauf, dass die SARS-CoV-2-Impfung
das Risiko für eine akute Fazialisparese erhöht. Dies ist aber auch für andere Impfstoffe
bekannt. Lähmungen des Gesichtsnervs wurden bereits als unerwünschtes Ereignis nach
Impfungen gegen andere Erreger beschrieben, darunter Influenza, Hepatitis B, Polio,
Diphtherie-Tetanus-Pertussis und azelluläre Pertussis sowie Masern-Mumps-Röteln [6].
Möglicherweise ist das Risiko für das Auftreten einer akuten Fazialisparese durch
eine SARS-CoV-2-Infektion erhöht
Möglicherweise ist das Risiko für das Auftreten einer akuten Fazialisparese durch
eine SARS-CoV-2-Infektion erhöht
Aber auch wenn eine Impfung eine Fazialisparese auslösen kann, muss bei der Nutzen-Risiko-Abwägung
der Impfung beachtet werden, dass auch die Infektion mit SARS-CoV-2 selbst möglicherweise
das Auftreten einer Fazialisparese begünstigen kann.
In einer italienischen Studie stiegen die Fälle von akuten Gesichtsnervenlähmungen
im Zeitraum zwischen dem 27. Februar 2020 und dem 3. Mai 2020 in einer Region in Norditalien,
die zu der Zeit ein Corona-Hotspot war, im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr
2019 um über 60 % [7]. 2019 gab es 22 Fälle, 2020 dann 38 Fälle. In einer türkischen Studie konnten bei
24,3 % von insgesamt 41 während der Pandemie erkrankten Patienten mit Fazialisparese
Antikörper gegen SARS-CoV-2 im Blut nachgewiesen werden [8]. Somit wurde die Fazialisparese womöglich durch eine Coronavirus-Infektion ausgelöst.
Bei allen Betroffenen war die Gesichtsnervenlähmung übrigens das einzige Symptom.
Es wurden keine anderen COVID-19-typischen Symptome entwickelt.
Diese beiden Studien zu akuten Fazialisparesen bei SARS-CoV-2-Infektionen ergeben
nur ein unvollständiges Bild, lassen aber vermuten, dass das Risiko für eine akute
Fazialisparese durch eine SARS-CoV-2-Infektion sogar höher ist als durch die Impfung.
„Wie Herpes-simplex-, Gürtelrose- oder Erkältungsviren kann auch SARS-CoV-2 offensichtlich
Fazialisparesen triggern“, schlussfolgerte Professor Dr. Peter Berlit, Generalsekretär
der Deutschen Neurologischen Gesellschaft in einer Presseinformation zu Fazialisparesen
infolge von Corona-Impfungen im April 2021 [5]. In dieser Stellungnahme wird auch davon ausgegangen, dass die Impfung ein möglicher,
aber viel seltenerer Auslöser für das Auftreten von akuten Fazialisparesen sein kann.
Es sei aber kein ursächlicher Zusammenhang nach der aktuellen Datenlage zu vermuten.
Die akuten Fazialisparesen treten also wahrscheinlich als unspezifische Folge auf
die Entzündungsreaktion nach der Impfung auf und nicht als direkte Folge auf den spezifischen
Impfstoff [9].
Wenn jetzt noch berücksichtigt wird, dass die Impfungen zu über 90 % vor den schweren,
möglicherweise tödlichen Verläufen einer COVID-19-Erkrankung schützen, die Fazialisparesen
sich dagegen in der Mehrzahl der Fälle unter der Gabe von Glukokortikoiden komplett
zurückbilden, kann eine klare Impfempfehlung ausgesprochen werden [10].
Impfung bei Patienten, die bereits eine Fazialisparese hatten
Impfung bei Patienten, die bereits eine Fazialisparese hatten
Patienten, die bereits eine Fazialisparese hatten, haben rein statistisch ein leicht
erhöhtes Risiko für eine erneute Fazialisparese [4]. Auch für diese Patienten mit rezidivierender oder chronischer Fazialisparese gilt
die Impfempfehlung. Durch die Behandlungsmöglichkeiten sowohl der akuten Fazialisparese,
aber auch der chronischen Formen, wenn es z. B. zu dauerhaften Schädigungen wie Synkinesien
kommt, sollte die Fazialisparese als behandelbare Impfkomplikation bekannt und bewusst
sein, aber nicht von einer Impfung abschrecken.
Fazit für die Praxis
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Möglicherweise ist das Risiko für das Auftreten einer akuten Fazialisparese nach einer
SARS-CoV-2-Impfung mit einem der beiden zugelassenen mRNA-Impfstoffe leicht erhöht.
Langzeitdaten nach mehr Impfungen sind abzuwarten.
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Viele andere Impfungen sind, wie lange bekannt, mit einem erhöhten Risiko für das
Auftreten einer akuten Fazialisparese assoziiert. Wie immer ist der Nutzen der Impfung
gegen dieses Risiko abzuwägen.
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Möglicherweise ist die akute Fazialisparese aber auch ein Symptom/eine Komplikation
der SARS-CoV-2-Infektion selbst; dann würde die Impfung eher Fälle einer akuten Fazialisparese
verhindern helfen.
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Tritt eine akute Fazialisparese nach einer Impfung auf, sollte die Behandlung dieser
wie sonst auch leitliniengerecht mit Glukokortikoiden erfolgen, wenn keine Kontraindikation
besteht. Die Prognose ist bei Therapiebeginn binnen 48–72 Stunden prinzipiell gut.
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Patienten, die in der Vergangenheit bereits eine Fazialisparese erlitten haben, sollten
sich deshalb nicht von einer Impfung abhalten lassen und gegebenenfalls einen Vektorimpfstoff
einem mRNA-Impfstoff vorziehen.