Zeitschrift für Palliativmedizin 2021; 22(04): 197-201
DOI: 10.1055/a-1508-4835
Forum

Doppelkopf: Annette Riedel und Kurt W. Schmidt

Zoom Image
Annette Riedel
Zoom Image
Kurt W. Schmidt

Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Annette Riedel (AR): Nach einer Zeit als Pflegefachkraft in der stationären Altenhilfe, nach Jahren in der pflegeberuflichen Bildung und Verbandsarbeit bat der Ruf an die Hochschule Esslingen für mich die Chance Lehre, Kontakte mit Studierenden aber auch wissenschaftliche Arbeit miteinander zu verbinden. Einen Schwerpunkt der Lehre bezieht sich auf Themen der Ethik. Im Rahmen der Lehre zur Berufsethik nutze ich stets den Film zur Ethikberatung aus dem Markuskrankenhaus. Kurt, wie bist Du zu Deinem jetzigen Tätigkeitsfeld gekommen?

Kurt W. Schmidt (KS): Ich pendelte zwischen Medizin, Psychologie, Theologie, Literatur- und Geisteswissenschaften, stets auch umgetrieben von der Frage, wie das begründet wird, was in der Medizin getan und erforscht wird. Ich hatte in Heidelberg Evangelische Theologie schon fast zu Ende studiert, als ich als Zweitstudium Humanmedizin aufnahm. Gleich zu Beginn wurde in einer Medizinervorlesung kurz definiert, was aus naturwissenschaftlicher Sicht „Leben“ ist. Punkt! – Und im Ethikseminar bei den Theologen hatte ein ganzes Seminar nicht gereicht, um erschöpfend zu klären, wann Leben eigentlich beginnt. Diese unterschiedlichen Zugänge fand ich spannend und wollte keines dieser Fachgebiete aufgeben. Darin haben mich auch meine akademischen Lehrer bestärkt und mein Doktorvater Dietrich Ritschl hat mich ermutigt, in die USA zu gehen, um Anfang der 1990er-Jahre Einblick in das Berufsfeld „Medizinethik“ am Texas Medical Center in Houston/Texas zu erhalten, zumal es das damals in Deutschland noch nicht gab. Die Evangelische Landeskirche in Hessen und Nassau hat mir dann später angeboten, ein Zentrum für Ethik in der Medizin an einem evangelischen Krankenhaus aufzubauen. Letztlich waren es immer ganz spezielle Menschen, denen ich begegnet bin, die mich für Fragestellungen begeistert und mir weitere Schritte ermöglicht haben. Diesen Menschen bin ich sehr dankbar und fühle mich diesbezüglich als echtes Glückskind.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

KS: Inhaltlich gab es da Unterschiedliches: Arzt, Therapeut, Literatur- und Filmwissenschaftler, Sportler, Darsteller, Kinobetreiber. Wobei ich bezweifle, dass ich von manchen hätte leben können, geschweige denn gut darin gewesen wäre. Rückblickend kann ich sagen, dass die Medizinethik mir die wunderbare Möglichkeit geboten hat, meine verschiedenen Interessen zu nutzen. So konnte ich die Frankfurter Medizinethik-Filmtage ins Leben rufen, um neue Filme, z. T. vor dem offiziellen Kinostart zu zeigen und zu diskutieren, von den Themen Demenz über Sterbehilfe, Sucht und Schwangerschaft. Und natürlich die Entwicklung der Fortbildungsreihe „Was können wir von ›Emergency Room‹ lernen?“ Das hat aber alles letztlich nur funktioniert, weil ich kluge Menschen und inspirierende Kooperationspartner*innen aus den verschiedensten Disziplinen an meiner Seite hatte.

AR: Ich bin froh, dass Du all die Alternativen nicht umgesetzt hast, sonst wären wir uns nicht begegnet. Als berufliche Alternative war für mich immer die Gärtnerin im Gespräch, auch Ärztin war eine Zeit lang eine Alternative. Ich bin froh, dass mich der Weg letztendlich in die Bildung geführt hat, auch hier kann ich ein Wachsen beobachten, sowohl bei den Studierenden als auch bei mir selbst, ein Wachsen an neuen und veränderten Herausforderungen, ein Wachsen angesichts neuer Themen und Diskurse in der Pflegewissenschaft und Ethik, ein Wachsen am und im Miteinander – jeden Tag und in jeder Begegnung. Das ist ein großes Geschenk!

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

AR: Ich stehe meist um fünf Uhr auf, im Frühjahr und im Sommer gerne auch früher, um den Gesang der Vögel bei geöffnetem Fenster in vollen Zügen zu genießen. Der noch frühe Morgen ist für mich die schönste Zeit am Tag. Ich genieße diesen morgendlichen Start mit einem Tee und dem Blick in die Zeitung, denke mich in den Tag und starte so voller Vorfreude in das Kommende.

KS: Fünf Uhr kommt bei mir derzeit nur einmal in der Woche vor, um an diesem Tag rechtzeitig in der Klinik zu sein. Wobei ich in puncto „Aufwachen“ den philosophischen Einsichten Jürgen von Mangers nur zustimmen kann, bzw. seiner Kultfigur Adolf Tegtmeier aus „Gehlsenkiehrchen“: ›Wer mit 60 morgens aufwacht und ihm tut nichts weh, der ist tot.‹ Wobei wir schon bei der nächsten Frage wären …

AR: Können wir die nächsten beiden Fragen nicht zusammennehmen? Leben bedeutet für mich …? Sterben bedeutet für mich …?

KS: Gute Idee. Leben und Sterben gehören schließlich zusammen und sind verflochten. Wie Theorie und Praxis: zu Beginn habe ich mein Leben nur nach vorne gelebt, in die Zukunft hinein. Und dann kommt der Punkt, ab dem ich das Leben, die Gegenwart, zunehmend vom Ende her betrachtet habe. Der Zeitpunkt, ab dem das geschieht, ist sicher individuell und nicht zwingend, denn ich kann diese Betrachtungsweise auch wegschieben. Doch wenn man den Gedanken zulässt, dass das Leben endlich ist, gewinnt jeder Augenblick diesen einmaligen Wert und diese Bedeutung, auch wenn mir das natürlich nicht ständig bewusst ist. Im Studium hat mich Martin Heidegger an dem Punkt überzeugt: Die Besonderheit des Menschen besteht in seiner Fähigkeit des „Vorlaufens zum Tode“. Weil ich um meine Endlichkeit weiß, erhält die Gegenwart ihre besondere Qualität. Und daraus entsteht die „Sorge“.

Da bin ich auch ganz bei Martin Luther und seinem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ aus dem Jahr 1519.[1] Dies ist vor 500 Jahren geschrieben, als Vorbereitung auf das Sterben, sehr eindrücklich, sehr tröstend, aus der Frühzeit der Reformation: zum einen gilt es, seine irdischen Dinge in Ordnung bringen – „sein Haus zu bestellen“, ich würde heute sagen, dazu gehört auch meine Vorsorgevollmacht und meine Patientenverfügung, wenn nötig ein Testament –, dann die geistlichen Dinge zu regeln, also die Beziehung zu seinen Mitmenschen in Ordnung zu bringen, was auch bedeutet, denen zu vergeben, die einen beleidigt haben und jene um Vergebung zu bitten, denen man selbst Unrecht getan hat. Mir fällt da die Abschiedsrede eines Ruheständlers ein, der genau das gemacht und mich damals stark beeindruckt hat. Ok, so lange muss man damit auch nicht warten. Aber kurz gesagt, „das Zeitliche segnen“, alles das, was vergänglich ist, in Gottes Hand geben. Es geht um Irdisches und Geistliches und Spirituelles. Denn der dritte Punkt, den Luther in seinem Sermon anspricht, ist, das Sterben als solches nicht spirituell zu überhöhen. Wir sollen im Leben Gott darum bitten, dass wir in der Sterbestunde unseren Glauben nicht verlieren. Luther sagt sogar, wir sollen Gott im Sterben daran erinnern, dass wir da sind und können darauf vertrauen, dass er uns hört. Der ganze Text zeigt, dass Luther das Sterben nicht romantisieren will. Das kann ein leidvoller Prozess sein, keine Frage. Er vergleicht es mit dem Bild der Geburt: So wie wir bei der Geburt durch eine enge Pforte aus der Mutter Leib ins Leben kommen, so bedeutet Sterben das irdische Leben durch die enge Pforte des Todes wieder zu verlassen. Sterben kann schwer sein. In diesem Sinn geht es auch für mich in der Palliativmedizin nicht um ein „schöner Sterben“ oder „wunscherfüllende Medizin“. Luther war davon überzeugt, dass das Abschiednehmen im Leben eingeübt sein muss, denn wer erst im Sterben damit anfängt, sich mit der Endlichkeit und dem Tod zu beschäftigen, der droht von den Schrecken des Todes fortgerissen zu werden. Im theologischen Sinn ist Leben für mich also stets auch Sterbevorbereitung. Wie es mir selbst dann ergehen wird? Ich habe keine Ahnung. In Sachen meines eigenen Sterbens bin ich Laie.

Und bis dahin gilt es das Geschenk des Lebens zu genießen und sich an der Schöpfung zu erfreuen. Und für die Beschäftigung mit der Endlichkeit gibt es die Kunst, die Literatur, die Malerei, die Musik, das Theater, das Kino. Da wird doch ständig gestorben und Abschied genommen. Bei George Bernard Shaw habe ich gerade die eindrückliche Abschiedsszene in „The Doctor’s Dilemma“ gelesen: Der lebenslustige Künstler Louis liegt im Sterben und mehrere Ärzte, die sich um ihn bemüht hatten, sind in seinem Atelier versammelt, zusammen mit seiner Ehefrau Jennifer. Und zu ihr sagt er auf dem Sterbebett: „Ich mag keine Witwen. Versprich mir, dass Du nie Witwe sein wirst.“ Seine Frau ist verwirrt und irritiert. Was soll das denn heißen? Wenn ihr Mann tot ist, wird sie Witwe sein. Doch der sterbende Louis erläutert es ihr: „In Italien zeigte man auf Dante und sagte: ›Das ist der Mann, der in der Hölle war.‹ Ich will, dass man auf Dich zeigt und sagt: ›Das ist die Frau, die im Himmel war.‹ War es nicht der Himmel, Liebling, – manchmal?“ – Das ist doch toll geschrieben als Abschiedszene für ein Ehepaar, findest Du nicht?

AR: Ja, das ist eine wunderbare Abschiedsszene. Ich musste gleich an ein Ehepaar denken, das ich in der Zeit, als ich als Altenpflegerin in einem Wohnstift tätig war, begleitet habe. Für beide war weniger das Sterben das Problem, es hatte für sie nichts Beängstigendes, sie hatten ein erfülltes und glückliches gemeinsames Leben. Es war der Moment des Sterbens – wer von beiden zuerst stirbt. Die Vorstellung, dass einer von beiden ohne die/den anderen weiterleben muss, war für die beiden unvorstellbar. Das Miteinander, das Füreinander, das die beiden gelebt (und mir ein Stück vorgelebt) haben, war so eindrücklich, dass diese Sorge für mich nachvollziehbar war. Erst viel später habe ich einen Text von Rainer Kunze gefunden, der genau das zum Ausdruck bringt: „Bittgedanken Dir zu Füßen“ – und das mir in späteren Situationen immer wieder eingefallen ist: „Stirb früher als ich, um ein weniges früher – Damit nicht Du den Weg zum Haus allein zurückgehen musst.“

Bei beiden Fragen muss ich an meine ehrenamtlichen Begleitungen im Hospiz denken. Auch im Hospizalltag sind Leben und Sterben nicht zu trennen. Sterben geschieht mitten im Leben … Und … aus jeder Begleitung nehme ich etwas für mein Leben mit, insbesondere dieses, jeden Tag zu genießen, die Qualität des Augenblicks zu erfassen. – Im Sinne von Erich Kästner: „Lebe das Leben und denk an den Tod.“ Sterben bedeutet für mich ein Prozess, der noch einmal Vieles aufleben lässt, begleitet von Lebenstrauer und Sterbenstrauer. Es kann für alle Beteiligten und Betroffenen ein sehr schmerzlicher Weg sein, dann, wenn man das Gefühl hat, es ist jetzt nicht der richtige Augenblick, nicht jetzt! Was ein „gutes Sterben“ ist – ist so individuell wie die persönliche Vorstellung von einem guten Leben. Ich versuche das zu verinnerlichen und in den Begleitungen zu erinnern.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

AR: Ein großes Ziel habe ich nicht vor Augen, es sind die kleinen Ziele, die mich jeden Tag begleiten. Eines der Ziele, das ich mir für jeden Tag vornehme ist, mich an der Natur, dem Werden zu freuen. So gehe ich jeden Tag einmal durch unseren kleinen Garten und freue mich über das was ist, das Aufblühen, die Igel, die Vögel … Hast Du ein Ziel vor Augen, das dich begleitet?

KS: Vor zwei Jahren hätte ich Dir noch gesagt: Einmal mit dem Rennrad rauf auf den Mont Ventoux in Südfrankreich. 1909 Meter hoch. Und das hat auch viel zu tun mit dem, was Du gerade über das direkte Erleben der Natur gesagt hast. Der Mont Ventoux ist ein unglaubliches Naturerlebnis. Von Bedoin aus sind es mehr als 1600 Höhenmeter mit maximal 14 % Steigung. Für den Radsport einer der Kultberge schlechthin: unten fährst Du morgens los durch Pinienhaine, die Luft ist kühl und frisch, dann wird es lichter, die Sonne kommt durch und es wird heiß und beschwerlich. Und oben auf dem Berg gibt es überhaupt keine Vegetation mehr, nur noch Steine und Geröll, reinste Mondlandschaft und extrem windig. Mons ventosus, windiger Berg. Dieses „Projekt“ habe ich vor zwei Jahren mit meinem Schwager bestritten. War eine schöne Ankunft, oben am Ziel.

Sonst habe ich es stets so gehalten, auch solche Ziele zu haben, die ich hoffentlich nie erreichen werde. Klingt paradox, ist aber auch schön, etwas Unerreichbares vor Augen zu haben. Max Frisch stellt hier – wie ich finde – eine der bewegendsten Fragen in einem seiner berühmten Fragebögen: „Wenn Sie einen Toten sehen: welche seiner Hoffnungen kommen Ihnen belanglos vor: die erfüllten oder die unerfüllten?“

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

KS: Oh, die wichtigste kann ich nicht sagen. Da hängt meine Antwort sicherlich von der jeweiligen Situation und Stimmung ab, in der ich gerade gefragt werde. Und da wir beide uns jetzt gerade im Dunstkreis von Sterben und Tod bewegen, fällt mir der Satz ein: „Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick.“ Das hat Joan Didion, die große amerikanische Journalistin und Autorin, geschrieben in einem der besten Bücher über Trauer, das ich kenne. Sie ist seit 40 Jahren mit ihrem Mann verheiratet und ihr einzigstes Kind Quintana liegt mit einer schweren Sepsis in einem New Yorker Krankenhaus auf der Intensivstation und kämpft um ihr Leben. Die Eltern kommen gerade schwer besorgt aus der Klinik zurück, Joan bereitet in der Küche das Abendessen vor, da hört sie einen dumpfen Schlag. Sie eilt ins Wohnzimmer, da liegt ihr Ehemann, der gerade einen Herzinfarkt erlitten hat und tot zusammengebrochen ist. „Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick.“ Ob man durch eigene Erlebnisse solche Szenen bewusster wahrnimmt und dabei verharrt oder einen die Begegnung mit der Kunst für die Realität sensibilisiert? Und ich denke an den Film „Die Dinge des Lebens“ von Claude Sautet, bestimmt schon 50 Jahre alt, mit ähnlich emotionaler Kraft für die tragische Veränderung in einem einzigen Augenblick. Mit Romy Schneider und Michel Piccoli. Das Glück war geplant und dann zerbricht es jäh. – Sorge macht mir das nicht, eher nachdenklich, weil es auch hier um das bewusstere Leben geht, carpe diem.

AR: „Every day is a school-day“ – ein Spruch der mich seit der Grundschule begleitet, meine Lieblingslehrerin hat diesen formuliert. Damals hat er mich irritiert, heute hilft er mir offen zu sein für all das, was es jeden Tag neu oder erneut zu lernen gilt und er hilft mir auch nachsichtig mit mir und anderen zu sein und die Fehlbarkeit als ein Phänomen zu betrachten, dass zu uns Menschen gehört. Und jede Begleitung als Ehrenamtliche ist eine Lernerfahrung – für das Leben und das Weiterleben: „Kostbarer Unterricht an den Sterbebetten“ nennt es Hilde Domin in ihrem Gedicht „Unterricht“ und weiter „Was wüssten wir ohne sie?“ Für mich kann ich sagen – kostbarster Unterricht, tiefe Lern- und Lebenserfahrungen.

Was würden Sie gern noch lernen?

AR: Sehr gerne würde ich lernen die Stimmen der Vögel zu erkennen und den jeweiligen Vögeln zuordnen zu können. Ich versuche es im Frühjahr am frühen Morgen gemäß dem nach und nach einsetzenden Gesang der Vögel zuzuordnen … aber jedes Frühjahr muss ich es neu lernen … Wo wir wieder bei der vorausgehenden Frage sind … every spring …

KS: Da sind wir wieder ganz nah zusammen – oder auf ganz verschiedenen Seiten, je nachdem, wie Du das siehst: Ich würde gerne die Sprache der Katzen besser verstehen. Soweit ich weiß, sprechen Katzen untereinander nicht, irgendwann in der Evolutionsgeschichte haben sie gemerkt, dass es vorteilhaft ist, sich dem Menschen gegenüber zu äußern. Es gibt schon erste Apps, die mit KI versuchen, die Sprache der Katzen zu entschlüsseln. Du willst das vermutlich nicht hören wollen, zumal frei laufende Katzen der Schrecken der Vogelwelt sind …

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

KS: Im Grunde ist das ein Geben und Nehmen. Zum einen finde ich meine Arbeit sinnvoll und interessant, mit vielen Freiräumen für Kreativität, und zum anderen kommt viel zurück, an Erfahrung, an menschlicher Begegnung, an Bereicherung. Ich weiß nicht mehr, wann mir das Buch des Psychologen Mihály Csíkszentmihályi in die Hände gefallen ist, der das Flow-Erlebnis beschrieben hat. Das war es genau: die Beschreibung von Erfüllung und Zufriedenheit in der Arbeitswelt als gelungene Balance zwischen Herausforderung und Bewältigung, weder überfordert noch unterfordert zu sein.

AR: Das empfinde ich wie Du – es ist ein Geben und Nehmen, jeden Tag neu. Ich habe für mich beschlossen, wenn ich es nicht mehr als freudvoll, spannend und bereichernd empfinde mit den Studierenden in den Austausch zu gehen, dann höre ich auf. Wenn ich mich kraftlos oder erschöpft fühle hilft es mir, die Joggingschuhe anzuziehen oder mit dem Rad in die Natur zu fahren, mich zu erden und aus der Kraft der Natur zu schöpfen, neuen Gedanken Raum zu eröffnen, gerne auch mit einem lieben Menschen an meiner Seite.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

AR: Mit Florence Nightingale (the lady with the lamp), sie hätte letztes Jahr ihren 200. Geburtstag gefeiert (sie wurde am 12. Mai 1820 geboren) – an ihrem Geburtstag im Jahr 2020 feierten wir den Internationalen Tag der Pflege. Sie hat so unglaublich viel für die Pflege getan, sie legte den Grundstein für die Pflege als wichtige Profession im Gesundheitswesen, sie machte deutlich, dass Pflegehandeln eine spezifische Expertise und Kommunikationskompetenz einfordert („Notes of Nursing“). Sie galt als Vorreiterin der Seuchenbekämpfung durch die Einführung von Hygieneregeln und dem Verweis auf das regelmäßige Lüften … vielleicht ist es aktuell so wichtig wie in den letzten Jahren nicht, ihr für ihr Wirken zu danken. Ich würde es ihr gerne selbst sagen … Wen würdest Du gerne treffen?

KS: Ich würde gern den Abend mit Mary Shelley verbringen und mit dem Geschöpf, das sie Victor Frankenstein hat erschaffen lassen. Im Grunde ist das nämlich eine ganz tragische Figur, wenn man ihren Roman liest, den sie als damals 19-Jährige geschrieben hat. Die meisten werden jetzt an das Monster denken, das Boris Karloff in der legendären Verfilmung von 1931 verkörpert hat, und das total steif und ungelenk mit globigen Holzschuhen durch die Gegend stapft, geistig kaum entwickelt und kaum fähig zu sprechen. Doch im Roman ist das Geschöpf hochsensibel, kann lesen und schreiben, bringt sich als Autodidakt alles bei, philosophiert über Gott und die Welt, ist überaus sportlich und gelenkig, fast wie Superman und sucht den Kontakt zu den Menschen, will einfach nur dabei sein – doch weil er so überaus hässlich ist und die Menschen Angst vor ihm haben, wird er ständig ausgegrenzt und verstoßen. Heute würden wir sagen: total gescheiterte Inklusion! Das wäre mal ein Abend am Kaminfeuer mit diesen zwei Personen …

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

KS: Dann würde ich mich bei uns im Wald auf die Lichtung setzen und warten, bis die Fuchsfamilie aus ihrem Bau kommt und mich an dem munteren Treiben erfreuen.

AR: Wie wunderbar, da würde ich mich unsichtbar daneben setzen. Vielleicht sehen wir auch noch einen Wolf … den soll es ja wieder geben, zumindest im Schwarzwald, Spuren habe ich schon gesehen. Ich setze mich unsichtbar auf einen Baumstamm …

AR: Wie können Sie Herrn Dr. Schmidt beschreiben?

Kurt ist in der persönlichen Begegnung unglaublich aufmerksam, wertschätzend und stärkend. Mit seiner zugewandten Art der Interaktion schafft er Vertrauen für eine Tiefe im Gespräch. Mit seiner didaktischen Kompetenz und seiner enormen Expertise im Kontext von Filmen gelingt es ihm, „schwierige“ oder komplexe ethische Themen auf einer für mich ansprechenden und neuen Art zugänglich zu machen. Immer wieder faszinierend und eine große und kostbare Bereicherung!

KS: Wie können Sie Frau Prof. Riedel beschreiben?

Naturverbunden, sportlich, inspirierend und kompetent. Oder lassen Sie es mich so sagen: Sie ist jemand, den man sich als Tischnachbarin bei einem Abendessen wünscht. Das verspricht angenehme Gesellschaft, interessante Gespräche und einen wunderbaren Abend.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

KS: Mit einem Gebet.

AR: Wieder etwas, was uns verbindet – das ist auch meine letzte Tat, dankend für das was war und ist.

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

AR: Diese Frage hat mir noch niemand gestellt. Vielleicht wäre es die Frage danach, was mein Leben zu dem macht, was es für mich aktuell ist: glücklich und erfüllt. Allerdings müsste die fragende Person ein wenig Zeit mitbringen …

KS: Ich bin stets offen für die Frage: Welches Ethikprojekt für die Mitarbeitenden im Krankenhaus wollen Sie denn als nächstes finanziert bekommen? – Ich hoffe, das liest jetzt auch jemand …

Zur Person Annette Riedel

Prof. Dr. Annette Riedel, geb. 20.11.1967 in Stuttgart

Ich lebe in Stuttgart in der Nähe vom Fernsehturm, dem Wahrzeichen der Stadt. Aufgewachsen bin ich mitten in der Stadt – im Talkessel – mit meinem Zwillingsbruder. Nach dem Abitur zog ich für ein soziales Jahr in ein Wohnstift für ältere Menschen. Dort verdichtete sich mein Wunsch, eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu beginnen. Diese absolvierte ich von 1988 bis 1990 in Tübingen. Die damaligen Anleiterinnen in den Praxiseinsätzen prägen mich noch heute. Parallel zu meiner Pflegetätigkeit in einem Wohnstift in Freiburg begann ich mit dem Studium der Sozialpädagogik. Meine erste Stelle nach dem Studium war die 8-jährige Leitung einer Altenpflegeschule in Heilbronn. Parallel dazu studierte ich Gerontologie. Meine nächste berufliche Stelle war für 8 Jahre das Diakonische Werk Württemberg (in Stuttgart) – als Referentin für stationäre Altenpflege. 2006 nahm ich an einer Qualifizierung für Ehrenamtliche in der Lebens- und Sterbensbegleitung teil und begleitete von da an Sterbende und ihre An- und Zugehörigen. Bis heute führe ich regelmäßig ethische Fallbesprechungen in Hospizen durch und schaue mit großem Respekt auf die hohe Professionalität und den achtsam-reflektierten Umgang mit komplexen ethischen Fragestellungen. 2007 schloss ich meine Promotion an der Universität in Heidelberg ab und seit 2008 bin ich mit großer Freude Professorin in den Pflegestudiengängen an der Hochschule Esslingen, mit den Lehrschwerpunkten Pflegewissenschaft und Ethik. Parallel dazu machte ich einen Master in Palliative Care, eine große Bereicherung für mich.

Mir ist besonders wichtig, regelmäßig in der hospizlichen und pflegerischen Praxis präsent zu sein, im Austausch mit den Praktiker*innen zu sein. Dies sowohl in unterschiedlichen Formaten der Fort- und Weiterbildung (insbesondere zu Themen Begleitung in der letzten Lebensphase und im Kontext der Ethik) wie auch im Rahmen partizipativer Forschungsprojekte – zuletzt zum Thema Palliative Care in der stationären Altenhilfe und aktuell zu moralischem Belastungserleben in der Langzeitpflege – aber auch im Rahmen meiner 2019 abgeschlossenen Habilitation (Universität Osnabrück), in der ich mit stationären Hospizen partizipativ eine Ethikleitlinie zum Thema Palliative Sedierung entwickelt habe. Seit dem Jahr 2020 bin ich Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Zur Person Kurt W. Schmidt

Dr. theol. Kurt W. Schmidt, geb. 1959 in Bad Homburg

Nach dem Abitur Zivildienst im Krankenhaus, Studium der Evangelischen Theologie in Frankfurt und Heidelberg. Regelstudienzeit? Damals glücklicherweise eine Unbekannte. Vielmehr volles Ausschöpfen der akademischen Freiheit, sprich: Besuch von Lehrveranstaltungen auch ganz anderer Fakultäten. Beeindruckt und geprägt von meinen akademischen Lehrern wie Ritschl und Gerigk. Dann im Zweitstudium Humanmedizin, jedoch nicht zu Ende, erst einmal evangelische Theologie abgeschlossen, Vikariat in Worms und dann in die USA ans Texas Medical Center in Houston/Texas zu Tristram Engelhardt Jr., der damals das für mich aufrüttelnste und verstörenste Buch zur Bioethik geschrieben hatte. Von der ersten Minute an freundschaftliche Aufnahme und prägende Verbindung. Von dort aus für fünf Jahre nach Bad Oeynhausen im Bereich Technikfolgenabschätzung bei Kurt Bayertz. Dann Mitte der 1990er-Jahre Ordination zum Pfarrer und Entwicklung des Pilotprojekts Medizinethik der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Karl-Martin Schönhals, ein erster Mitdenker der Medizinethik in Deutschland, hatte dazu die geniale Idee. Daraus sind dann 25 Jahre geworden mit breitem Aufgabenspektrum: Leitung des Ethik-Komitees, Moderation von Fallbesprechungen, Palliativ-Board, Weiterbildung in Mediation mit Schwerpunkt Interkulturalität, Lehrbeauftragter bei den Humanmedizinern in Frankfurt und an der Professur für Strafrecht an der Universität Gießen, zuerst bei Gabriele Wolfslast, dann bei Bernhard Kretschmer. Im Jahr September 2020 dann die Ehre, neben Dr. Bernd-Oliver Maier und Michaela Hach einer der drei Tagungspräsidenten bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin sein zu dürfen.



Publication History

Article published online:
30 June 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany