Einleitung
Während die Negativ-Druck-Ventilation, insbesondere über Kürass-Respiratoren und „Eiserne
Lungen“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Beatmungs-Landschaft geprägt
hat, markierte die Polio-Epidemie mit Schwerpunkt in Kopenhagen im Jahre 1952 einen
Wendepunkt der Beatmungstechnik [1]. Damals erfolgte erstmalig nach Tracheotomie die Positiv-Druck-Ventilation über
einen längeren Zeitraum, wobei hier insbesondere manuell über sog. „Ambu-Bags“ im
24-h-Schichtdienst beatmet worden ist. In der Folge hat sich insbesondere, beginnend
in den 1960er- und 1970er-Jahren, die moderne Intensiv- und Beatmungsmedizin mit der
Entwicklung technisch komplexer Beatmungsgeräte zur Anwendung einer Positiv-Druck-Beatmung
etabliert [1].
Heute wird eine Positiv-Druck-Beatmung sowohl in der Akutmedizin als auch in der Langzeitanwendung
im Sinne einer außerklinischen Beatmung eingesetzt [2]
[3]
[4]. Je nach Schwere der Grunderkrankung, Art des Beatmungszugangs und dem Grad der
Beatmungsabhängigkeit ist der pflegerische Aufwand mitunter sehr heterogen. Hier kann
nicht selten eine nicht-invasive Beatmung (NIV = non-invasive ventilation) komplett
selbstständig vom Patienten durchgeführt werden, während eine invasive Beatmung über
ein Tracheostoma i. d. R. eine vollständige Versorgung durch einen intensivmedizinischen
Pflegedienst voraussetzt [3]
[5].
Über die Initiative „WeanNet“ der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin
e. V. (DGP) sind kürzlich Ergebnisse des Weaning-Registers publiziert worden [6]. Danach werden über 20 % der Patienten, die wegen Schwierigkeiten bei der Entwöhnng
vom Respirator in Weaning-Zentren verlegt werden, bei Nichtentwöhnbarkeit tatsächlich
zur Fortsetzung einer invasiven Beatmung über ein Tracheostoma in die außerklinische
Weiterversorgung verlegt. Hinzu kommen vergleichbare Patienten, die über andere Weaning-Zentren
oder direkt von Intensivstationen unter Umgehung spezialisierter Weaning-Zentren in
eine außerklinische Weiterversorgung verlegt werden, obwohl in bis zu 80 % der Fälle
eine Entwöhnung in einem spezialisierten Weaning-Zentrum sekundär möglich wäre [7]. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund der Jahrestherapiekosten für die invasive
außerklinische Beatmung von bis zu 300 000 Euro pro Patient problematisch [6]. Auf der anderen Seite besteht nicht nur ein zunehmender ökonomischer Druck, sondern
insbesondere auch ein pflegerischer Fachkräftemangel, welcher die aktuellen Versorgungsstrukturen
begrenzt [8].
Um dieses Thema umfassend zu beleuchten und auch die sektorenübergreifende Bedeutung
hervorzuheben, sind Daten zu der Anzahl der betroffenen Patienten unabdingbar. In
der Tat stehen epidemiologische Zahlen zur außerklinischen Beatmung in Deutschland
nur unzureichend zur Verfügung, welche jedoch für eine sachgerechte Diskussion zur
bedarfsgerechten Planung von Versorgungsstrukturen unerlässlich sind. Insbesondere
sind Angaben zur Hospitalisierung wegen Einleitungen und Kontrollen einer außerklinischen
Beatmung sowie die Dokumentation der regionalen Verteilung der Patientenströme essenziell
zur dezidierten und bedarfsgerechten Planung und Steuerung von für die Langzeitbeatmung
spezifischen Versorgungsstrukturen. Entsprechend bestand das Ziel dieser Arbeit in
der Darstellung der Fallzahlen unter Berücksichtigung der Unterschiede auf Bundesländerebene
sowie der Charakterisierung der Fälle hinsichtlich der Altersstruktur und des Beatmungszuganges
(invasive vs. nicht-invasive Beatmung) in dem Zeitraum zwischen 2008 und 2019. Die
vorliegende Arbeit baut damit auf einer Voranalyse auf, die sich auf Daten bis 2018
ohne weitere Differenzierung auf Bundeslandebene bezieht [9].
Methodik
Als Grundlage der hier dargestellten Daten dienen die Datensätze des Statistischen
Bundesamtes [10], welche gemeinsam mit den dort tätigen Datenmanagern aufbereitet wurden. Aufgrund
des Krankenhausentgeld-Gesetzes [11] sind teil- und vollstationäre Einrichtungen in der Krankenversorgung verpflichtet,
ihre Leistungsdaten anhand der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten
(International Classification of Diseases = ICD) und die erfolgten Eingriffe anhand
der Operationen- und Prozedurenschlüssel (Operation and Procedure Classification System = OPS)
zu übermitteln.
Es wurde die Hauptprozedur 8-716 „Häusliche maschinelle Beatmung über Maske oder Tracheostoma“
und die darauf aufbauenden Prozedurenschlüssel 8-716.0 (Ersteinstellung einer nicht-invasiven
oder invasiven häuslichen Beatmung) und 8-716.1 (Kontrolle oder Optimierung einer
früher eingeleiteten nicht-invasiven oder invasiven häuslichen Beatmung) analysiert
[12]. Zusätzlich erfolgte die Differenzierung der Daten hinsichtlich der Verteilung der
Bundesländer, getrennt für Einleitungen und Kontrollen einer außerklinischen Beatmung.
Des Weiteren wurde eine Analyse der verfügbaren demografischen Daten durchgeführt.
Durch die weitere Gliederung des Prozedurenschlüssels 8-716.0 seit dem Jahr 2017 zur
Differenzierung des Beatmungszuganges in invasive (8-716.01 nach erfolglosem Beatmungsentwöhnungsversuch
und 8-716.02 elektiv oder ohne Beatmungsentwöhnungsversuch) und nicht-invasive Beatmungsformen
erfolgte für die Jahre 2017–2019 eine zusätzliche Analyse, bezogen auf die jeweilige
Verteilung dieser unterschiedlichen Patientengruppen [12].
Statistische Analyse
Für die finale Analyse wurden die zur Verfügung gestellten Datensätze des Statistischen
Bundesamtes der Jahre 2008–2019 verwendet. Die statistische Analyse erfolgte mittels
Sigma-Plot (Version 12.3, Systat Software, Inc., Point Richmond, Kalifornien, USA)
im Sinne einer deskriptiven Datenauswertung. Für die Auswertung der Entwicklung der
jeweiligen Altersstrukturen wurden Intervalle gebildet und diese im zeitlichen Verlauf
analysiert. Die Datenanalyse der Altersverteilung der Fallzahlen erfolgte, dem Datenbankaufbau
entsprechend, anhand von Intervallgruppen von jeweils 5 Jahren. Für die Darstellung
des prozentualen Zuwachses wurden zusätzliche Altersintervalle von 20 Jahren gebildet
und deskriptiv ausgewertet. Zur Berechnung der Inzidenz der Ersteinleitungen wurden
ebenfalls die Daten des Statistischen Bundesamtes verwendet. Die Einwohnerzahlen bezogen
sich hierbei auf die Erhebungen am 31. 12. 2019.
Diskussion
Die vorliegende Arbeit zur Entwicklung der außerklinischen Beatmung in Deutschland
hat sich primär auf die Hospitalisierungen von Patienten zum Zwecke der Einleitung
oder der Kontrolle einer außerklinischen Beatmung konzentriert. Die Hauptergebnisse
lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Erstens zeigt sich zwischen 2008 und 2019 eine Verdopplung der Fallzahlen, die sowohl
zum primären Ziel einer Einleitung als auch einer Kontrolle einer außerklinischen
Beatmung in Deutschland hospitalisiert wurden. Hierbei zeigte sich im Jahr 2019 eine
hohe Zahl an Ersteinleitungen einer außerklinischen Beatmung mit fast 18 000 Fällen
und einer sich hieraus ergebenden Inzidenz der Ersteinleitungen von 21,6 Fällen pro
100 000 Einwohnern.
Zweitens konnte gezeigt werden, dass insbesondere ältere Patienten zunehmend neu auf
eine außerklinische Beatmung eingestellt werden oder eine stationäre Kontrolluntersuchung
erhielten. Hervorzuheben ist hier der Anstieg der Fälle im Alter von über 80 Jahren
bei Ersteinleitung und Kontrolle einer außerklinischen Beatmung, welcher in dieser
Altersgruppe mit einem Anstieg der Fallzahlen von 2008–2019 von +225 % und +392 %
am höchsten war.
Drittens sind die Hospitalisierungen zum Zwecke einer Neueinleitung und einer Kontrolle
einer außerklinischen Beatmung in Bezug auf die Fallzahlen heterogen über die einzelnen
Bundesländer verteilt. Dabei schwankt die Zunahme der Neueinleitungen im Verlauf der
beobachteten 10 Jahre zwischen +14 % und +244 %, während die prozentuale Änderung
der Kontrollen von –3 %–328 % auf Bundeslandebene reicht. Diese Heterogenität zeigt
sich ebenfalls eindrucksvoll anhand der Inzidenzen der Ersteinleitungen, welche mit
40,2 Ersteinleitungen je 100 000 Einwohnern in Mecklenburg-Vorpommern bundesweit im
Jahr 2019 am höchsten waren.
Viertens liegen aufgrund der mittlerweile differenzierten Kodierungs-Möglichkeiten
seit 2017 Daten zur Kontrolle und Einleitung einer außerklinischen Beatmung in Abhängigkeit
vom Beatmungszugang vor. Hier konnte gezeigt werden, dass in Deutschland in dem analysierten
Zeitraum über 1000 Neueinleitungen einer invasiven außerklinischen Beatmung jährlich
erfolgen. Zudem wurden im Jahr 2019 knapp 17 000 Patienten neu auf eine nicht-invasive
Beatmung eingestellt. Bei der Betrachtung der Kontrollen zeigte sich im Gegenzug,
dass der Anstieg der Fallzahlen auf die nicht-invasiv beatmeten Fallzahlen zurückzuführen
ist.
Die aktuellen Ergebnisse haben eine wesentliche Implikation für die zukünftige Ausrichtung
der entsprechenden Versorgungsstrukturen in Deutschland. So konnte grundsätzlich bereits
vor 2 Jahren eine deutliche Zunahme der außerklinischen Beatmung dokumentiert werden
[8]. Im Unterschied zur aktuellen Analyse basierte die damalige Berechnung allerdings
auf dem ICD-Code Z99.1 (Abhängigkeit vom Respirator) [8]. Damit war die Analyse wesentlich unspezifischer, da nicht nur primäre Beatmungseinleitungen
und entsprechende Kontrolluntersuchungen erfasst gewesen sind, sondern auch Hospitalisierungen
aus anderen medizinischen Zielsetzungen. Entsprechend ergaben sich damals höhere Fallzahlen
mit über 86 000 hospitalisierten Langzeit-Beatmungs-Patienten im Jahr 2016 [8]. Die aktuelle Analyse zeigt damit erstmalig zuverlässig die tatsächliche Entwicklung
der Hospitalisierungen zum primären Zwecke der Einleitung oder Kontrolle einer außerklinischen
Beatmung anhand der Dokumentationen im Rahmen des DRG-Systems.
Insbesondere die deutliche Zunahme von Langzeit-Beatmungsfällen von Patienten mit
weit fortgeschrittenem Alter ist bemerkenswert, da in dieser Patientengruppe von einer
hohen Koinzidenz von Komorbiditäten ausgegangen werden muss [13]. So konnte die Analyse vor 2 Jahren bereits zeigen, dass Patienten mit außerklinischer
Beatmung extrem häufig mitunter z. T. sehr schwerwiegende internistische und neurologische
Komorbiditäten aufweisen [8]. Dabei konnten frühere Arbeiten ebenfalls zeigen, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität
insbesondere bei Patienten mit invasiver außerklinischer Beatmung nach Weaning-Versagen
bei einigen Patienten zwar erhalten sein kann, bei anderen Patienten aber so schwer
eingeschränkt ist, dass diese Patienten selbst ihr Leben als nicht lebenswert bezeichnen
[14]
[15]. Dies betrifft insbesondere COPD-Patienten und damit die größte Gruppe der Patienten
mit außerklinischer Beatmung [16].
Es darf aufgrund dieser Zusammenhänge aber in keinem Fall die Schlussfolgerung gezogen
werden, dass ältere Menschen und/oder solche mit substantiellen Komorbiditäten auch
unter den Bedingungen einer invasiven außerklinischen Beatmung nicht auch ein erfülltes
Leben führen könnten. So ist bekannt, dass der berühmte Physiker Stephen Hawking,
der an einer juvenilen Verlaufsform einer Motoneuronenerkrankung litt, 1985 eine schwere
Lungenentzündung hatte, sodass die invasive Beatmung im Sinne eines palliativmedizinischen
Konzeptes beendet werden sollte. Damals verweigerte seine Ehefrau diesen Schritt,
sodass eine invasive außerklinische Beatmung noch für weitere ca. 33 Jahre fortgesetzt
werden konnte [17].
Dennoch zeigt die skizzierte rasante Entwicklung der außerklinischen Beatmung die
drohenden Grenzen des Systems, insbesondere wenn ethische Fragestellungen nicht in
den Vordergrund gerückt werden. Hier wird unsere Gesellschaft in naher Zukunft vor
gewaltigen Herausforderungen stehen, insbesondere wenn die Medizin auf eine Gesundheitsindustrie
reduziert bleibt, deren zentraler Antrieb primär die Erwirtschaftung von Erlösen ähnlich
der industriellen Produktion ist, wie der Medizinethiker Professor Giovanni Maio es
formuliert [18].
Aus diesem Grund muss eine inhaltliche und ethische Ausrichtung der außerklinischen
Beatmung auch die Abläufe in der Intensivmedizin berücksichtigen. So konnten die Auswertung
des großen WeanNet-Registers wie auch die aktuelle Arbeit zeigen, dass der Großteil
der Patienten mit invasiver außerklinischer Beatmung tatsächlich infolge eines Entwöhnungs-Versagens
auf die invasive Langzeitbeatmung eingestellt wird [6]. Hier hat der Pneumologe und Intensivmediziner Professor Tobias Welte in seinem
Editorial zur Analyse des WeanNet-Registers im Deutschen Ärzteblatt klar herausgestellt,
dass die Fehlsteuerung im Bereich der außerklinischen Beatmung zeige, dass es unserem
Gesundheitswesen an einer langfristigen Strategie und einer umfassenden, gesellschaftlichen
Perspektive mangele [19].
Schließlich bedarf es einer Neuausrichtung der Versorgungsstrukturen. So legt die
aktuell gültige Leitlinie zur außerklinischen Beatmung der DGP fest, dass sowohl die
Einleitung als auch die Kontrolle einer außerklinischen Beatmung zwingend unter stationären
Bedingungen zu erfolgen haben [3]. Neuere Arbeiten legen aber nahe, dass sowohl die Einleitung als auch die Kontrolle
einer außerklinischen Beatmung grundsätzlich auch in einem ambulanten Setting möglich
sind [20]
[21]
[22]
[23]. Die meisten Arbeiten mit positiven Resultaten stammen hier aus den Niederlanden
[21]
[22], wo allerdings eine viel engere Verzahnung zwischen dem ambulanten und dem stationären
Sektor des Gesundheitswesens genau die Voraussetzungen erschafft, welche eine hochspezialisierte
ambulante Versorgung der Patienten mit außerklinischer Beatmung über das spezialisierte
Personal des Klinik-Zentrums ermöglicht. Eine erste Arbeit aus Deutschland zeigt aber,
dass dies auch hier möglich sein kann [20] und ambulante Versorgungsstrukturen insbesondere für die Kontrolle einer NIV überdacht
werden sollten. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Reduktion der stationären
Kontrollen invasiv beatmeter Patienten zu diskutieren. Obwohl der Grund für den Abfall
der Kontrollen nicht durch die vorliegende Analyse erhoben werden kann, bleibt zu
hinterfragen, ob die nicht mehr bedarfsgerechte Versorgungsstruktur und zunehmende
Kapazitätsengpässe in spezialisierten Kliniken zu einem Ausbleiben der empfohlenen
Kontrolluntersuchungen geführt haben. Eine individualisierte und sektorenübergreifende
Versorgungsstruktur könnte nicht nur das Leben der Betroffenen erleichtern, sondern
muss auch vor dem ökonomischen Hintergrund von über 45 000 stationären NIV-Kontrollen
in Deutschland pro Jahr Betrachtung finden.
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Zwischen 2008 und 2019 haben sich die stationären Fallzahlen sowohl zur Einleitung
als auch zur Kontrolle einer außerklinischen Beatmung in Deutschland mehr als verdoppelt.
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Mit knapp 18 000 stationären Neueinleitungen und über 49 000 stationären Kontrolluntersuchungen
einer außerklinischen Beatmung jährlich müssen die existierenden Versorgungsstrukturen
überdacht werden.
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Ethische Aspekte müssen insbesondere bei eingeschränkter Lebensqualität, älteren Patienten,
solchen mit schweren Komorbiditäten und Patienten mit invasiver außerklinischer Beatmung
nach erfolglosem Weaning Beachtung finden.
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Es braucht einen Systemwandel im Gesundheitswesen mit langfristiger, ethisch ausgerichteter
Strategie, die sich nicht alleine an der Gewinnmaximierung orientieren darf und die
eine engere Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Medizin erlaubt, um Patienten
mit außerklinischer Beatmung mit hoher Behandlungsqualität versorgen zu können, ohne
die ökonomischen Grenzen des Systems zu sprengen.