CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2021; 81(12): 1301-1306
DOI: 10.1055/a-1541-7964
GebFra Science
Statement/Stellungnahme

Empfehlungen der AGG (Sektion Maternale Erkrankungen) zur Myasthenia gravis in der Schwangerschaft

Article in several languages: English | deutsch
Maritta Kühnert
1   Obstetrics, UFK Marburg, Marburg, Germany
,
Markus Schmidt
2   Gynecology & Obstetrics, Sana Kliniken Duisburg GmbH, Duisburg, Germany
,
Bettina Kuschel
3   Frauenklinik und Poliklinik, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München, Germany
,
Ute Margaretha Schäfer-Graf
4   Perinatalzentrum, Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Berlin, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Die Myasthenia gravis ist eine Autoimmunkrankheit mit wechselnder Ausprägung und variabler Kombination von Schwächen der okulären, bulbären, Extremitäten- und respiratorischen Muskelgruppen. Meistens sind junge Frauen in der Reproduktionsphase betroffen. Präkonzeptionelle Planung, Einfluss der Schwangerschaft, präpartales Management, medikamentöse Therapie in der Schwangerschaft, aber auch myasthenische und cholinerge Krise, fetale Überwachung, peripartales Management inklusive Analgesie und Anästhesie unter der Geburt und einer Sectio sowie das neonatale Management und die neonatale Myasthenia gravis werden erläutert und entsprechende Empfehlungen dazu abgegeben.


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Definition, Epidemiologie

Myasthenia gravis (= MG) ist eine Autoimmunkrankheit mit wechselnder Ausprägung und variabler Kombination von Schwäche der okulären, bulbären, Extremitäten- und respiratorischen Muskelgruppen (Atemhilfsmuskulatur). Meistens sind junge Frauen betroffen.

Epidemiologie

  • Inzidenz: 0,2 – 2,0/100 000 Einwohner pro Jahr

  • Prävalenz: 15/100 000 Einwohner

  • Geschlecht: weiblich > männlich (3 : 2)


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Ätiologie

Bei der Myasthenia gravis sind Antikörper gegen Strukturen der postsynaptischen Membran im Bereich der neuromuskulären Endplatte gerichtet. In etwa 85% sind Acetylcholinrezeptor-Antikörper nachweisbar, die gegen den nikotinergen Acetylcholinrezeptor gerichtet sind. In 1 – 10% können Antikörper gegen die muskelspezifische Tyrokinase (= MuSK) oder niedrigaffine Acetylcholinrezeptor-Antikörper oder Antikörper gegen Lipoprotein Receptor-related Protein (LRP4) nachgewiesen werden. Ferner gibt es Patienten mit wahrscheinlicher Myasthenia gravis ohne Antikörpernachweis (= seronegative MG).

Die Wechselwirkung zwischen dem Transmitter Acetylcholin und dessen Rezeptor wird durch Acetylcholinrezeptor-Antikörper verhindert oder erschwert: Der elektrische Impuls kann vom Nerven nicht mehr auf den Muskel übertragen werden (der Muskel wird nicht erregt). Die Anzahl der Acetylcholinrezeptoren verringert sich alle 2 – 3 Tage, da diese durch die Bindung an den Acetylcholinrezeptor-Antikörper durch Immunaktivität abgebaut werden. Dabei zerfällt die Struktur der synaptischen Membran.

Mögliche auslösende Faktoren für eine Myasthenia gravis

Infektionen, extreme Belastungen, Narkosen (mit bei Myasthenie kontraindizierten Substanzen); Medikamente (Antibiotika, Psychopharmaka, Hormonprodukte, Kontrastmittel)


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Klinische Aspekte

Myasthenia gravis ist durch Schwäche und Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur charakterisiert, bedingt durch eine Dysfunktion der neuromuskulären Synapsen. Eine Myasthenia gravis kann in jedem Alter auftreten; bei Frauen ereignet sich die Erstmanifestation meistens in der 2. und 3. Dekade. Bei Lähmungen sind besonders kleine Muskeln betroffen, prinzipiell können aber alle quergestreiften Muskeln betroffen sein. Muskelgewebe ohne motorische Endplatten, wie der Herzmuskel und die glatte Muskulatur, sind nicht von einer Myasthenia gravis betroffen.

Es existieren 2 Formen:

  • okular (limitiert auf die Augenlider und die extraokulare Muskulatur) und

  • generalisiert (okular, bulbär, Extremitäten- und Atemhilfsmuskulatur).

Mehr als 50% der Patienten zeigen okulare Symptome mit Ptosis (Lidschwäche) und/oder Diplopie (Doppelbilder), 15% haben bulbäre Symptome wie Kauschwäche, Dysphagie und Dysarthrie. Weniger als 5% haben nur eine Unterschenkelmuskelschwäche.

Bei Befall der respiratorischen Muskulatur kann es zu einer respiratorischen Insuffizienz und Atemversagen im Sinne einer myasthenischen Krise kommen. Viele Patienten mit Acetylcholinrezeptor-(AChR-)Antikörper-positiver Myasthenia gravis haben Thymusabnormalitäten (in 60 – 70% Hyperplasien und in 10 – 12% Thymome), auch als „paraneoplastische“ Myasthenia gravis bezeichnet.


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Diagnostik

  1. körperliche Untersuchung: Belastungstests

  2. pharmakologische Testung: Edrophoniumtest (= früher Tensilontest): nach Gabe eines Cholinesterasehemmers Besserung der myasthenen Symptomatik

  3. Labor: Basisdiagnostik; Anti-AChR-AK: in 85% positiv, in 50% bei okularer Myasthenie, in 90% bei generalisierter; MuSK-AK, LRP5-AK, Agrin-AK sind nur in 15% positiv (seronegative Formen gibt es trotz V. a. Myasthenia gravis)

  4. elektrophysiologische Diagnostik: Serienstimulation, Einzelfaser-EMG

  5. Bildgebung: CT oder MRT-Thorax (Frage: Thymom?)

AGG-Empfehlung

Bei Schwäche und Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur und charakteristischen okularen/bulbären Symptomen sollte an eine Myasthenia gravis gedacht werden. Als Basisdiagnostik sollen Anti-AChR-Antikörper bestimmt werden, die in 85% der Fälle positiv sind.


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Therapie

Die Therapie erfolgt symptomatisch mit Acetylcholinesterasehemmern. Diese verbessern die neuromuskuläre Erregungsübertragung, hemmen das Enzym Acetylcholinesterase und dadurch den Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt.

In seltenen Fällen kommt Methotrexat zum Einsatz.


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Einfluss einer Schwangerschaft auf eine Myasthenia gravis

Es gibt multiple Effekte auf den Verlauf einer Myasthenia gravis [1], [2], die vom präkonzeptionellen Status der Erkrankung abhängig sind. Frauen, die vor der Schwangerschaft gut eingestellt waren, können davon ausgehen, dass die Myasthenia gravis stabil bleibt. Nur ein kleiner Anteil zeigt post partum eine Verschlechterung [3] der zuvor bestandenen Symptome.

Das 1. Trimenon und die akute postpartale Periode sind die Zeiten mit dem höchsten Risiko für eine Exazerbation [4]. Das Mortalitätsrisiko für die Mutter ist generell umgekehrt proportional zur Dauer der Erkrankung: das höchste Risiko besteht im ersten Jahr nach Ausbruch der Myasthenia gravis.


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Präkonzeptionelle Planung bei Myasthenia gravis

Es empfiehlt sich dringlich, bereits bei der präkonzeptionellen Beratung und Planung ein multidisziplinäres Management von behandelnden Neurologen und Perinatalmedizinern mit Erfahrung in der Behandlung von Hochrisiko-Schwangerschaften und frühzeitige präpartale Einbindung der Anästhesie vorzuhalten [3], [4], [5]. Es sollte die Sicherheit der Therapie besprochen werden, speziell die Vermeidung oder Einstellung mit teratogener Medikation (z. B. Methotrexat) und die möglichen Auswirkungen auf den Schwangerschafts- und Erkrankungsverlauf. Eine eventuell erforderliche Thymektomie sollte erst nach einer Schwangerschaft erfolgen [3].

Initial müssen präkonzeptionell oder zu Beginn einer Schwangerschaft mit Myasthenia gravis untersucht werden:

  • die durchschnittliche motorische Kraft,

  • der respiratorische Status mit pulmonalen Funktionstests.

  • Der kardiale Status sollte mittels eines EKG evaluiert werden, da in seltenen Fällen fokale myokardiale Nekrosen bei MG beschrieben werden.

  • Die Schilddrüsenfunktion sollte getestet werden, da es zwischen einer MG und anderen Autoimmunerkrankungen eine Verbindung gibt.

AGG-Empfehlung

Bei Myasthenia gravis sollte bereits präkonzeptionell ein multidisziplinäres Management (Neurologe, Anästhesist, Perinatalmediziner, Neonatologe) angestrebt werden. Die Therapie sollte nur mit in der Schwangerschaft unbedenklichen Medikamenten erfolgen und eine Thymektomie, wenn nötig, nur außerhalb einer Schwangerschaft durchgeführt werden.


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Präpartales Management und Medikation in der Schwangerschaft

Im Falle einer Präeklampsie/Eklampsie ist Magnesiumsulfat kontraindiziert, da es eine schwere myasthenische Krise auslösen kann.

Eine Hypertonie sollte mit α-Methyldopa oder Hydralazin behandelt werden. β-Blocker und Kalziumkanalblocker sollten vermieden werden. Levetiracetam oder Valproinsäure können zur Anfallsprophylaxe eingesetzt werden.

Bei Frühgeburtssymptomen und schwerer Myasthenia gravis oder Krisen erfolgt die Entscheidung nach Gestationsalter und mütterlichem Status (entbinden oder prolongieren).

Infektionen sollten umgehend behandelt werden wegen der Gefahr einer Exazerbation der Myasthenia gravis. Dyspnoe und Husten sollten umgehend abgeklärt werden auf eine mögliche Verschlimmerung der Myasthenia gravis mit Schwäche des Zwerchfells und der Atemhilfsmuskulatur [6] ([Tab. 1]).

Tab. 1 Medikamente, die eine Myasthenia gravis verstärken können (Daten aus [11]).

Stoffgruppen

Substanzen

* Bei einschleichender Dosierung oder bei primär mittleren Dosen ist eine klinisch relevante Verschlechterung selten.

Analgetika

Flupirtin, Morphinpräparate

Antiarrhythmika

Chinidin, Ajmalin, Mexitil, Procainamid

Antibiotika

Aminoglykoside (v. a. Streptomycin, Neomycin, weniger Tobramycin), Makrolide (z. B. Erythromycin), Ketolide (Telithromycin/Ketek), Lincomycin, Polymyxine, Gyrase-Hemmer (Levofloxacin, Ciprofloxacin, Prulifloxacin), Sulfonamide; Tetrazykline, Penicilline nur in besonders hoher Dosierung

Antidepressiva

Substanzen vom Amitriptylin-Typ

Antikonvulsiva

Benzodiazepine, Carbamazepin, Diphenylhydantoin, Ethosuximid, Gabapentin

Antimalariamittel

Chinin, Chloroquin und Analoge

Antirheumatika

D-Penicillamin, Chloroquin, Etanercept

β-Blocker

Oxprenolol, Pindolol, Practolol, Propranolol, Timolol – auch bei topischer Anwendung als Augentropfen

Botulinum-Toxin

Kalziumantagonisten

Verapamil, Diltiazem, Nifedipin und Verwandte

Diuretika

Azetazolamid, Benzothiadiazine, Schleifendiuretika

Glukokortikoide*

transiente Verschlechterung bei Behandlungsbeginn mit hohen Dosen

Interferone

Interferon-α (Einzelfälle)

Lithium

Lokalanästhetika

Procain (Ester-Typ), die heute verwendeten Substanzen vom Amid-Typ sind unproblematisch

Magnesium

hohe Dosen als Laxanzien

Muskelrelaxanzien

Curare-Derivate, wegen erhöhter Empfindlichkeit initial 10 – 50% der normalen Dosierung wählen

Succhinylcholin sollte grundsätzlich nicht eingesetzt werden, da es nicht mit Pyridostigmin antagonisiert werden kann

Psychopharmaka

Chlorpromazin, Promazin und Verwandte, alle Benzodiazepine und Strukturverwandte wie Zolpidem, Zopiclon

Statine

mehrere Befundberichte über verschiedene Cholesterinsenker

Diese Liste ist nicht vollständig. Bei jeder Einführung eines neuen Medikaments muss über eine mögliche Verschlechterung der MG aufgeklärt und nach typischen Symptomen und deren Intensität gefragt werden. Allerdings sollte auch klar gewichtet werden, wenn lebensbedrohliche Erkrankungen spezifische Medikation erfordern.

AGG-Empfehlung

Bei Frauen mit einer Myasthenia gravis ist in der Schwangerschaft zu beachten:

  • Bei Hypertonie sollten keine β-Blocker oder Kalziumkanalblocker eingesetzt werden.

  • Bei Präeklampsie soll kein Magnesiumsulfat eingesetzt werden, da es eine schwere myasthenische Krise auslösen kann. Pulmonale Symptome sollen umgehend abgeklärt und Infektionen behandelt werden.


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Medikamentöse Therapie der Myasthenia gravis in der Schwangerschaft

Acetylcholinesterasehemmer (z. B. Pyridostigmin) sind die Standard-First-Line-Therapie [3]. Eine Dosisanpassung kann in der Schwangerschaft erforderlich sein durch eine erhöhte renale Clearance, das zunehmende maternale Blutvolumen, die verzögerte Magenentleerung und das häufige Erbrechen [6]. Die Dosiserhöhung von Pyridostigmin sollte zuerst über eine Verkürzung des Einnahmeintervalls erfolgen und, wenn die Symptome bestehen bleiben, in der Folge durch Erhöhung der Dosis.

Die i. v. Gabe von Acetylcholinesterasehemmern kann Wehen auslösen und sollte nur unter der Geburt erfolgen [5].

Prednison ist das Immunsuppressivum der Wahl in der Schwangerschaft [3], es kann hierunter zu einer vorübergehenden Verschlechterung der MG kommen.

Azathioprin und Cyclosporin (= second line) sollten nur eingesetzt werden, wenn Acetylcholinesterasehemmer eine Myasthenia-gravis-Exazerbation nicht verhindern können [3]. Diese Substanzen sind relativ sicher. Die Medikation sollte jedoch mit der niedrigst möglichen Dosis erfolgen [1].

Hohe Dosen von Azathioprin und Cyclosporin können Spontanaborte, vorzeitige Wehen, ein niedriges Geburtsgewicht, chromosomale Schäden (kontraindiziert im 1. Trimenon) und eine hämatologische Suppression verursachen [1]. In diesen Fällen muss die hohe Dosis gegen den Benefit, die myasthenischen Symptome zu kontrollieren, abgewogen werden.

Patienten mit Acetylcholinrezeptor-Antikörper negativer Myasthenia gravis, die MuSK-Antikörper positiv sind, haben meistens eine generalisierte Myasthenia gravis und sprechen in der Regel wenig auf Acetylcholinesterasehemmer an. Hier ist eine Therapie mit Prednison, Plasmapherese oder anderen Immunsuppressiva erforderlich. Dieses Vorgehen sollte für Fälle vorbehalten sein, bei denen eine konventionelle Therapie versagt hat und ein zunehmendes respiratorisches Versagen oder eine massive Dysphagie und Schwäche Mutter und Kind gefährdet.

AGG-Empfehlung

Die First-Line-Therapie ist die Gabe von Acetylcholinesterasehemmern, es muss eine Dosisanpassung in der Schwangerschaft erfolgen.

Bei Exazerbation können Azathioprin und Cyclosporin in der niedrigst möglichen Dosierung gegeben werden.

Bei negativen AChR-Antikörpern kann eine Behandlung mit Prednison, Plasmapherese und Immunsuppressoren erforderlich sein.


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Myasthenische und cholinerge Krise

Eine myasthenische Krise = krisenhafte Verschlechterung einer Myasthenia gravis kann entstehen durch:

  • Medikamente mit Einfluss auf die neuromuskuläre Übertragung

  • Fehler bei Verordnung und Einnahme der „Myasthenie“-Medikamente

  • Infektionen und Fieber

  • Narkosen

  • perioperativ (deshalb orale Medikation bis kurz vor OP)

  • idiopathisch

Klinik

Schwere Muskelschwäche mit respiratorischer Insuffizienz und Aspirationsgefahr, häufige Aspirationspneumonien. Das akute Versagen der Atemmuskulatur ist lebensbedrohlich. Faszikulationen.


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Therapie

  • Intensivüberwachung (Sicherung der Atemwege, Vitalfunktionen),

  • i. v. Gabe von Cholinesterasehemmern (Cave: wehenauslösend) oder

  • Plasmapherese und hohe i. v. Gaben von Immunglobulin.

Letztere werden mit unterschiedlichen Ergebnissen zur Neutralisierung der pathogenen Antikörper bei der myasthenischen Krise eingesetzt [1], [4].

Eine cholinerge Krise kann bei Überdosierung von Cholinesterasehemmern wie Pyridostigmin entstehen.


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Klinik

Hypersekretion, Bradykardie, Diarrhö, Miosis


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Therapie

Intensivtherapie und Intubation bei nikotinartigen (myasthenische Krise), Atropin bei muskarinartigen Krisen (= cholinerge Krise).

Die Mortalitätsrate liegt bei beiden zwischen 4 – 13%.

AGG-Empfehlung

Bei einer myasthenischen Krise (schwere Muskelkrämpfe, respiratorische Insuffizienz und Aspirationsgefahr) soll intensivmedizinisch überwacht werden. Die Therapie erfolgt mit Cholinesterasehemmern i. v. oder mit Plasmapherese und hohen i. v. Dosen von Immunglobulinen, bei der cholinergen Krise mit Atropin.


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Fetale Überwachung

Präpartal

Auffällige Ultraschallbefunde sind ein Polyhydramnion aufgrund des beeinträchtigten fetalen Schluckvorgangs, verminderte fetale Bewegungen und Atmung werden ebenfalls beschrieben.

Beim neonatalen Syndrom ist das ernsthafteste Symptom eine autoimmun vermittelte fetale Arthrogryposis multiplex congenita, hervorgerufen durch Autoantikörper gegen fetale AChR (Gammauntereinheit). Ein Mangel an generalisierten fetalen Bewegungen und Zwerchfellexkursionen kann selten Gelenkkontrakturen und eine Lungenhypoplasie auslösen. Hier wird ein Zusammenhang mit hohen maternalen AChR-Antikörpern vermutet. Eine Therapieoption wäre die Plasmapherese der Mutter zur Eliminierung zirkulierender plazentagängiger Antikörper (Individualentscheidung).

Das Kardiotokogramm (= CTG) und die Beurteilung des biophysikalischen Profils sind die Mittel der Wahl. In der myasthenischen Krise ist die kontinuierliche CTG-Schreibung ab 23 + 0 SSW (Grauzone nach genauer Aufklärung und Absprache mit den werdenden Eltern) indiziert wegen des hohen Risikos der maternalen und fetalen Hypoxie.

AGG-Empfehlung

Es sollen engmaschig Ultraschalluntersuchungen (3 – 4 Wochen) mit biophysikalischem Profil durchgeführt werden zum Ausschluss eines Polyhydramnions (beeinträchtigtes Schlucken des Fetus), verminderten Bewegungen und einer verminderten Atmung im Sinne eines fetalen Syndroms.


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Peripartales Management

Es empfiehlt sich, peripartal zumindest in der Austrittsphase zwecks besserer Steuerung Cholinesterase-Hemmer über Perfusor statt oral zu verabreichen und dabei bei Bedarf die Dosis zu erhöhen.

Die Gebärende hat aufgrund ihrer Immunschwäche ein höheres Risiko für Infektionen. Eine großzügige Antibiose bei protrahierter Geburt ist zu überlegen.

Geburtshilfliche Anästhesie

Vor der Geburt sollte eine anästhesiologische Vorstellung erfolgen, da Patientinnen mit Myasthenia gravis ein erhöhtes Risiko für eine mechanische Beatmung bei Vollnarkose haben [8]. Bei leichten und moderaten Verläufen ist eine Regionalanästhesie angebracht, bei schwerem und bei beeinträchtigtem respiratorischem oder bulbärem Status die Allgemeinanästhesie. Besonders wichtig ist der Grad der bulbären Dysfunktion und die Schwäche der Atemhilfsmuskulatur.


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Geburtsanalgesie unter normaler Geburt

Die Eröffnungsphase wird durch eine Myasthenia gravis nicht beeinflusst, da der Uterus aus glatter Muskulatur ohne postsynaptische Acetylcholinrezeptoren besteht.

In der Austrittsphase wird die quergestreifte Muskulatur beim Pressen beansprucht und kann leicht ermüden. Exzessive mütterliche Erschöpfung kann auftreten, sodass eine vaginal-operative Entbindung (Vakuum, Forceps) oder in seltenen Fällen eine Sectio notwendig werden kann. Stress und Überanstrengung können in seltenen Fällen eine myasthenische Krise auslösen.

Es sollte primär eine vaginale Geburt angestrebt werden [3]. Eine primäre Sectio ist nicht indiziert. Sie sollte bei den üblichen geburtshilflichen Indikationen durchgeführt werden, jedoch auch bei starker mütterlicher Erschöpfung erwogen werden.

Neuroaxiale Verfahren sind Methode der Wahl zur Schmerztherapie unter der Geburt bei Myasthenia gravis, da sie den Bedarf an systemischen Opioidgaben reduzieren und dadurch die Einschränkungen bei Patienten mit respiratorischen Störungen vermindern helfen.


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Sectio

Leitungsanästhesien (SPA, PDA) werden bei Sectio oft nicht toleriert, da sie schnell in einer sensorischen und motorischen Blockade enden können. Bei Sectio ist ein Mitt-Thorax-Level der Anästhesie erforderlich, das oft die akzessorische Atemmuskulatur einschränkt. Aus diesen Gründen wird häufiger eine Vollnarkose notwendig. Bei schweren bulbären oder respiratorischen Einschränkungen sollte primär eine Vollnarkose erwogen werden.

AGG-Empfehlung

Eine anästhesiologische Vorstellung sollte vor der Geburt erfolgen, um insbesondere den Grad der bulbären Dysfunktion und den respiratorischen Status einzuschätzen.

AGG-Empfehlung

Eine vaginal-operative Geburt oder eine Sectio sollte bei akuter mütterlicher Erschöpfung in der Austrittsphase erwogen werden, um eine myasthenische Krise zu vermeiden.

Eine Vollnarkose sollte hier großzügig indiziert werden.

AGG-Empfehlung

Wegen der Immunschwäche sollte bei protrahierter Geburt eine großzügige Antibiotikagabe erfolgen.


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Neonatales Management – neonatale Myasthenia gravis

Die Entbindung sollte wegen der notwendigen neonatologischen postpartalen Überwachung in einem Perinatalzentrum Level 1 oder 2 stattfinden.

Alle Kinder von Müttern mit Myasthenia gravis sollten von einem Pädiater überwacht werden zum Ausschluss einer transienten neonatalen Myasthenia gravis [4]. Respiratorische Probleme, Trinkschwäche und schwacher Muskeltonus können Stunden nach der Geburt auftreten und bis zu 3 Monaten persistieren.

Eine vorübergehende neonatale Myasthenia gravis entwickeln 10 – 20% der Kinder von Müttern mit Myasthenia gravis durch transplazentaren Übergang von IgG-Acetylcholinrezeptor-Antikörpern (AChR-Ak). Bei maternalen Antikörpern gegen MuSK oder unbekannten Antikörpern tritt eine neonatale Myasthenia gravis seltener auf.

Bislang gibt es keine Korrelation zwischen neonataler Myasthenia gravis und dem maternalen AChR-Ak-Titer [9]. Auch die Dauer der maternalen Erkrankung und der Medikation sind nicht mit dem Auftreten einer neonatalen Myasthenia gravis assoziiert [10].

Mit einem späteren Auftreten der Myasthenia gravis beim Kind muss nicht gerechnet werden.

Das Wiederholungsrisiko für eine nächste Schwangerschaft bei Z. n. einem Kind mit transienter neonataler Myasthenia gravis beträgt etwa 75%.

Auch beim Stillen können Autoantikörper in den ersten Tagen über das Kolostrum übertragen werden, danach sind sie nicht mehr in der Muttermilch messbar. Stillen ist unter Glukokortikoidtherapie erlaubt, unter Azathioprin, Cyclosporin und Methotrexat nicht [4].

AGG-Statement

Postpartal sollte eine pädiatrische Überwachung zum Ausschluss einer transienten neonatalen Myasthenia gravis, die klinisch durch Trinkschwäche, respiratorische Probleme und schwachen Muskeltonus auffällt, erfolgen.


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Conflict of Interest/Interessenkonflikt

The authors declare that they have no conflict of interest./Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Maritta Kühnert
Universitätsklinikum Gießen-Marburg, Standort Marburg
Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Baldingerstraße
35033 Marburg
Germany   

Publication History

Received: 18 June 2021

Accepted after revision: 29 June 2021

Article published online:
08 December 2021

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