Erschöpfung, Abgeschlagenheit, Antriebslosigkeit – Patient*innen, die gerade eine
Tumortherapie durchmachen, kennen diese Symptome nur zu gut. Tumorassoziierte Fatigue
nennt sich dieser Zustand andauernder Müdigkeit ohne vorhergehende Belastung. Ist
man davon betroffen, steht eine ganzheitliche Behandlung an erster Stelle. In der
Physiotherapie gilt es zunächst herauszufinden, wie ausgeprägt die Müdigkeit der Patient*innen
ist. Dafür dienen zahlreiche Assessments bzw. Selbsteinschätzungsbögen ([TAb], S. 34). Nur so können Therapierende die körperliche Aktivität individuell anpassen.
Anschließend stehen ein individuell angepasstes Ausdauertraining, Krafttraining und
Maßnahmen wie Yoga oder Qi Gong im Vordergrund. Patient*innen ausreichend aufzuklären
erhöht dabei entscheidend den Therapieerfolg. Absolute Kontraindikationen hingegen
gibt es in der onkologischen Therapie nicht. Patient*innen sollten generell nicht
überfordert werden, da dies die Fatigue verstärken könnte.
Physische und emotionale Erschöpfung
Physische und emotionale Erschöpfung
Von tumorassoziierter Fatigue spricht man immer dann, wenn die Müdigkeit in Zusammenhang
mit einer Krebserkrankung oder deren Therapie auftritt. Expert*innen zufolge zeigt
sich bei bis zu 90 Prozent der Patient*innen, die sich in einer Chemotherapie befinden,
und bei bis zu 93 Prozent der Patient*innen in einer Radiotherapie diese bleierne
Müdigkeit (engl.: Cancer-related Fatigue, CrF) [1], [2]. Im Jahr 2000 definierte Gregory Curt sie als „signifikante Müdigkeit, erschöpfte
Kraftreserve oder erhöhtes Ruhebedürfnis, disproportional zu allen kürzlich vorangegangenen
Anstrengungen“ [3]. Doch es gibt auch frühere Definitionen. Schon 1998 stellten der Mediziner Dr. David
Cella und sein Team bestimmte Kriterien für die tumorbedingte Fatigue auf, darunter
das folgende [4]: „deutliche Müdigkeit, Energieverlust oder verstärktes Ruhebedürfnis, das in keinem
Verhältnis zu aktuellen Veränderungen des Aktivitätsniveaus steht [5]“. Dabei ist zu beachten: Der Begriff, der ursprünglich aus dem Lateinischen stammt
(fatigatio = Ermüdung), beschränkt sich nicht nur auf die physische Leistungsfähigkeit.
Auch auf geistiger und emotionaler Ebene kann es bei Patient*innen zu einem Erschöpfungszustand
kommen. Man sollte sie daher immer auf allen drei Ebenen untersuchen und andere Krankheitsbilder,
die ähnliche Symptome hervorrufen, ausschließen (zum Beispiel mit der Hospital Anxiety
and Depression Scale, HADS) [5]–[7].
90 % aller Patient*innen mit Krebs, die sich in einer Chemotherapie befinden, sind
dauerhaft müde und erschöpft. Auch Ruhe und Schlaf bringen oft keine Besserung.
TAB. Übersicht über verschiedene Fatigue-Assessments, die in deutscher Übersetzung
vorliegen
Assessment
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Aufbau
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Inhalte
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Brief Fatigue lnventory (BFI)
bit.ly/BFI_deutscheVersion
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10 ltems, eine Dimension
Auswertung:
1–3 mild, 4–6 moderat, 7–10 stark
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physische Fatigue
Zeitraum: heutiger und gestriger Tag
Zeit: 5 Minuten
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Fatigue Functional Impact Scale (FFIS)
bit.ly/FFIS_Fatigue
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8 ltems, 10-Punkte-Likert-Skala
Auswertung:
Je höher die Punkte, desto stärker die Fatigue.
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physische und mentale Fatigue
Zeitraum: letzter Monat
Zeit: 2–3 Minuten
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Wu Cancer Fatigue Scale (WCFS)
bit.ly/CRF_Fatigue
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16 ltems, 5-Punkte-Likert-Skala
Auswertung:
Je höher die Punkte, desto stärker die Fatigue.
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kognitive, physische und emotionale Fatigue
Zeitraum: letzter Tag
Zeit: 2–3 Minuten
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Multidimensional Fatigue Symptom lnventory – Short Form (MFSI-SF)
bit.ly/MFSI-SF_Fatigue
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30 ltems, 5-Punkte-Likert-Skala
Auswertung:
Je höher die Punkte, je stärker die Fatigue.
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kognitive, physische und affektive Fatigue
Zeitraum: letzte 7 Tage
Zeit: 5 Minuten
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Revised Piper Fatigue Self-Report Scale (PFS)
bit.ly/PFS_Fatigue
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22 ltems NRS-Skala
Auswertung:
0 keine Fatigue, 1–3 mild, 4–6 moderat, 7–10 stark
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zeitliche, sensorische, affektive und kognitive Fatigue
Zeitraum: Momentaufnahme
Zeit: 5 Minuten
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Fatigue Severity Scale (FSS)
bit.ly/FSS_Fatigue
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9 ltems, 5-Punkte-Likert-Skala
Auswertung:
Mittelwert höher als 4 gilt als erhöhte Fatigue.
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Schwere der Fatigue, Distress und ADL
Zeitraum: letzte 7 Tage
Zeit: 3–8 Minuten
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European Organization for Research and Treatment Quality of Life Questionnaire Fatigue
Scale (EORTC QLQ-C30)
bit.ly/EORTCQLQ-C30_Fatigue
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9 Multi-Item-Skalen
Auswertung:
Die 5 Funktionsbereiche sind so auszuwerten, dass eine höhere Punktzahl ein besseres
Funktionsniveau darstellt.
Für die symptombezogenen Fragen gilt ein höherer Wert für mehr Symptome.
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physisch, rollenbehaftet, kognitiv, emotional und sozial, Müdigkeit, Schmerzen und
Übelkeit und Erbrechen, Gesundheit und Lebensqualität. Mehrere Einzelpunkt-Symptommaßnahmen
sind ebenfalls enthalten.
Zeitraum: während der letzten Woche
Zeit: 11–12 Minuten
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Ursachen sind vielfältig
Die Ursachen der tumorassoziierten Fatigue sind multifaktoriell. Der Krebs selbst
beeinflusst viele Prozesse im Körper, darunter den Stoffwechsel und hormonelle Regelkreise,
und auch das Immunsystem leidet unter dem Tumorwachstum. Zudem kann die Tumortherapie
selbst, also Maßnahmen wie die medikamentöse Therapie, die Chemo- oder Radiotherapie,
eine Fatigue auslösen oder verstärken [2]. Hinzu kommen die genetische Disposition, begleitende somatische oder psychische
Erkrankungen und verhaltens- oder umweltbedingte Faktoren. Daraus ergibt sich eine
breite Palette möglicher Ursachen und Einflussfaktoren.
Art und Ausprägung der Beschwerden schwanken
Art und Ausprägung der Beschwerden schwanken
Im Alltag zeigt sich die Fatigue auf unterschiedliche Weise. Patient*innen fühlen
sich oft schwach, erschöpft, müde und ausgelaugt. Andere haben müde Beine und Arme
oder sie haben Mühe, sich zu konzentrieren [2]. Fatigue hat viele Gesichter und macht es Erkrankten umso schwerer, damit umzugehen.
Verlässliche Labor- und Funktionstests, die Fatigue messbar machen, gibt es keine.
Ein Selbsteinschätzungsfragebogen scheint die sinnvollste Methode zu sein, Fatigue
zu erfassen [8]. Nutzen können ihn neben Therapeut*innen auch Ärzt*innen. Dabei gibt es viele unterschiedliche
Bögen, die in verschiedene Bereiche gegliedert sind und verschiedene Dimensionen beinhalten.
So gibt es beispielsweise Fragebögen für Patient*innen, die sich in einem frühen Stadium
ihrer Krebserkrankung befinden, und solche, die sich an Patient*innen mit fortgeschrittener
Krebserkrankung richten.
Ein Expertenteam veröffentlichte 2011 eine Übersichtsarbeit über 40 verschiedene Fragebögen
für Patient*innen mit tumorassoziierter Fatigue [9]. Die Frage, welches Instrument die Fatigue am besten erfasst, konnten sie nicht
abschließend klären. Doch am Ende stand die Empfehlung: Der „Brief Fatigue Inventory
(BFI)“ und drei ltems aus der „European Organization for Research and Treatment of
Cancer Quality of Life Questionnaire Fatigue Scale (EORTC QLQ-C30)“ scheinen zwei
optimale Assessments für Patient*innen mit fortgeschrittenem Krebsleiden zu sein.
BFI und FSS sind praktikabel
BFI und FSS sind praktikabel
Welchen Fragebogen man in der Praxis verwendet, hängt auch von den Patient*innen selbst
ab. Viele der Bögen beinhalten mehr als 10 Fragen. Für manche mit ausgeprägter Fatigue
kann dies zu umfangreich sein. Zwei Fragebögen, der „Brief Fatigue lnventory (BFI)“
und die „Fatigue Severity Scale (FSS)“, haben sich im Alltag bewährt ([TAB]). Der BFI beinhaltet 10 Fragen, der FSS lediglich 9, beide sind innerhalb weniger
Minuten ausgefüllt [10]. Bei der FSS können Patient*innen die 9 ltems nach dem Schema „1 = trifft nicht
zu“ bis „7 = trifft voll zu“ beantworten. Die Antworten beziehen sich dabei immer
auf die letzte Woche. Die FSS wurde bereits 1989 von der Neurologin Lauren B. Krupp
entwickelt. Sie diente der Diagnostik bei Patient*innen mit Multipler Sklerose und
systemischem Lupus erythematodes (SLE). Mittlerweile wird er aber auch in anderen
Fachbereichen wie in der Pneumologie und in der Onkologie eingesetzt. Aus dem Fragebogen
der FSS ergibt sich ein Mittelwert, der die Schwere der Fatigue angibt. Ab einem Wert
von 5 ist eine Fatigue vorhanden [10].
Beim BFI beziehen sich die ersten Fragen auf die Fatigue in den letzten 24 Stunden.
Die folgenden Fragen beziehen sich unter anderem auf die allgemeine Aktivität, die
Gehfähigkeit und die Stimmung. Das erste Item wird mit Ja/Nein beantwortet. Die weiteren
9 Items werden auf einer numerischen Skala von 0–10 bewertet. Je höher der Wert, desto
intensiver die Fatigue. Der BFI wurde in den USA entwickelt, ist aber in deutscher
Sprache erhältlich [11].
Fragebögen regelmäßig wiederholen
Fragebögen regelmäßig wiederholen
Falls Patient*innen die Fragen kognitiv nicht ausreichend erfassen können oder ihr
Allgemeinzustand es nicht zulässt, die Fragen zu beantworten, kann es auch sinnvoll
sein, die klassische numerische Ratingskala (NRS) oder die visuelle Analogskala (VAS)
zur Hand zu nehmen, wobei 10 eine sehr ausgeprägte Fatigue und 0 keine Fatigue beschreibt
[10]. Die tumorassoziierte Fatigue wird mit diesen Assessments konkreter und kann Physiotherapeut*innen
erste Anhaltspunkte geben, wie stark die Müdigkeit ausgeprägt ist. So lassen sich
die Angaben miteinander vergleichen und kleinste Verbesserungen darstellen [12]. Der Therapieerfolg wird Patient*innen so deutlicher. Das kann motivierend sein
und die Compliance stärken. Es ist ratsam, ein ausgewähltes Assessment in regelmäßigen
Abständen erneut durchzuführen. In der Rehabilitation ist es sinnvoll, den gewählten
Fragebogen bei Eintritt und bei Austritt durchzuführen. Sind Patient*innen zum Beispiel
drei Wochen in der Rehabilitation, so hat man einen Zeitraum, in dem sich die Fatigue
der Patient*innen sehr häufig schon merkbar bessert. Anschließend kann man den Fragebogen
beispielsweise drei Monate später wiederholen. Sehr oft sieht man dann nochmals eine
deutliche Besserung. Das kann für den Patienten bzw. die Patientin sehr motivierend
sein.
Moderates Ausdauertraining, Yoga und Qi Gong
Moderates Ausdauertraining, Yoga und Qi Gong
Aufgrund der multifaktoriellen Ursachen, die zu einer Fatigue führen, sollte auch
die Therapie auf mehreren Ebenen stattfinden [13]. Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) rät Patient*innen zu einer ausgewogenen
Ernährung, einer guten Schlafhygiene, Entspannungsübungen, einer unterstützenden medikamentösen
Therapie und zu psychoonkologischer und psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus
raten Expert*innen zu angepasster körperlicher Aktivität [14]. Mittlerweile gibt es zahlreiche Untersuchungen, die eine positive Wirkung von körperlicher
Aktivität auf die Fatigue gezeigt haben. Ein moderates Ausdauertraining wie Nordic
Walking und Spaziergänge sind sehr erfolgversprechend und können die Fatigue deutlich
reduzieren. Die Lebensqualuität verbessert sich, und das Training hat einen positiven
Effekt auf die Psyche, stärkt Lungenfunktion und Immunsystem [15].
Aber auch komplementärmedizinische Behandlungsverfahren haben ihren Platz in der Behandlung.
CAM Cancer, ein Teil des Programms vom norwegischen Nationalen Forschungszentrum für
Komplementär- und Alternativmedizin (NAFKAM) informiert regelmäßig über den aktuellen
Forschungsstand in der Komplementärmedizin [16], [17]. Unter anderem finden sich hier mehrere Untersuchungen, die aufzeigen, dass Yoga
und Qi Gong die Fatigue signifikant reduzieren und die Lebensqualität verbessern können
[18]–[20].
Patient*innen gut aufklären
Patient*innen gut aufklären
Ist die Fatigue sehr ausgeprägt und schränkt das tägliche Leben ein, ist die Verzweiflung
oft groß. Patient*innen fragen sich, woher die ausgeprägte Müdigkeit kommt, und sind
verunsichert, wie sie mit den unterschiedlichen Symptomen umzugehen haben. Daher ist
es neben den oben beschriebenen Therapieansätzen wichtig, aufzuklären [18]. Hier geht es nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern vielmehr darum, die
Handlungskompetenz zu steigern. Aufgeklärte Patient*innen haben die Möglichkeit, ihr
Verhalten langfristig zu ändern und wieder mehr Lebensqualität zu erreichen [21], [22].
Mithilfe verschiedener Assessments lässt sich die Schwere der Fatigue genauer einschätzen.
Krebserkrankungen nehmen weiter zu
Krebserkrankungen nehmen weiter zu
Die Physiotherapie spielt eine wichtige Rolle in der Betreuung von Patient*innen mit
einer Krebserkrankung. Vor allem in der Rehabilitation, die häufig im Anschluss an
eine chirurgische Intervention stattfindet, sind Therapierende täglich gefragt. Neben
den physiotherapeutischen Maßnahmen sind sie Ansprechpartner*innen und Begleiter*innen
in dieser schweren Zeit. Dass Physiotherapie auch in Zukunft eine immer größer werdende
Rolle einnehmen wird, zeigen folgende Zahlen: 2020 belief sich die Zahl der Krebserkrankungen
auf circa 19,3 Millionen. Bis 2040 schätzt man, dass die Zahl auf bis zu 30,2 Millionen
steigt [23].