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DOI: 10.1055/a-1549-5166
Forschungsprioritäten in der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland – Eine systematische Analyse von Publikationen der physioscience der letzten 10 Jahre
Research Priorities in Physiotherapy Research in Germany – Systematic Analysis of Publications in physioscience over the Past 10 Years- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Methode
- Ergebnisse
- Diskussion
- Schlussfolgerungen
- Ethische Aspekte
- Zustimmung zur Veröffentlichung
- Verfügbarkeit von Daten und Materialien
- Registrierung
- Finanzielle Unterstützung
- Beiträge von Autor*innen
- Literatur
Zusammenfassung
Hintergrund Forschungsprioritäten können dazu beitragen, Evidenz in den Bereichen zu entwickeln, die für Patient*innen und Kliniker*innen am wichtigsten sind. Forschungsprioritäten werden jedoch in der biomedizinischen Forschung nur unzureichend berücksichtigt.
Ziel Beschreibung der Berücksichtigung von Forschungsprioritäten in der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland.
Methode Analyse von physiotherapeutischen Berichten aus Deutschland, die zwischen 2011 und 2020 in der Fachzeitschrift physioscience publiziert wurden. Für jeden eingeschlossenen Bericht wurde die primäre Forschungsfrage und/oder der Hauptgegenstandsbereich identifiziert und, falls möglich, einem spezifischen Gesundheitszustand zugeordnet. Danach wurde für jeden Bericht geprüft, ob eine gesundheitszustandsspezifische Forschungspriorität (von der James Lind Alliance oder aus wissenschaftlichen Datenbanken) bzw. eine der Top 26 der physiotherapiespezifischen Forschungsprioritäten des britischen Berufsverbandes „The Chartered Society of Physiotherapy (CSP)“ aus 2018 adressiert wurde. Die Datenanalyse erfolgte deskriptiv.
Ergebnisse Es konnten 78 Berichte in die Analyse eingeschlossen werden. Die häufigsten Studientypen waren Übersichtsarbeiten (17/78, 22 %), Beobachtungsstudien (16/78, 21 %) und Umfragen (13/78, 17 %). Für die Analyse der gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten konnten 51 Berichte berücksichtigt werden. In 51 % dieser Berichte (26/51) wurde eine der 10 wichtigsten Forschungsprioritäten des jeweiligen Themengebiets adressiert. In den übrigen Berichten wurde keine gesundheitszustandsspezifische Forschungspriorität berücksichtigt (13/51, 25 %) oder die Priorität gehörte nicht zu den Top Ten (12/51, 24 %).
Für die Analyse der physiotherapeutischen Forschungsprioritäten wurden alle 78 Berichte berücksichtigt. In 21 % dieser Berichte (16/78) wurde eine Top-Ten-Priorität adressiert. In den übrigen Berichten wurde eine weniger wichtige Priorität adressiert (Listenplatz 11–26; 25/78, 32 %) oder das Forschungsthema des Berichts gehörte nicht zu den Top 26 (37/78, 47 %).
Schlussfolgerung Die vorliegende Studie liefert erste Hinweise darauf, dass Forschungsprioritäten in der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland nur unzureichend berücksichtigt werden. Ein erheblicher Teil der Forschung scheint somit an den Bedürfnissen von Patient*innen und Kliniker*innen vorbeizugehen. Die Berücksichtigung existierender Forschungsprioritäten und die Entwicklung nationaler Forschungsprioritäten für die Physiotherapie in Deutschland könnten dazu beitragen, den Nutzen der physiotherapeutischen Forschung für die öffentliche Gesundheit zu vergrößern.
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Abstract
Background Research priorities can help develop evidence in those areas that are most important to patients and clinicians. However, research priorities are insufficiently addressed in biomedical research.
Objective To describe how research priorities are addressed in physiotherapy research in Germany.
Method Physiotherapy reports from Germany that were published between 2011 and 2020 in the journal physioscience were analysed. For each included report, the primary research question and/or main subject area was identified and, if possible, assigned to a specific health condition. For each report, it was then checked whether a condition-specific research priority (from the James Lind Alliance or from scientific databases) or one of the top 26 physiotherapy research priorities of “The Chartered Society of Physiotherapy (CSP)” published in 2018 were addressed. The data were analysed descriptively.
Results 78 reports could be included in the analysis. The most common study types were reviews (17/78, 22 %), observational studies (16/78, 21 %) and surveys (13/78, 17 %). For the analysis of condition-specific research priorities, 51 reports were considered. In 51 % of these reports (26/51), one of the 10 most important research priorities in the respective subject area was addressed. In the other reports, no condition-specific research priority was addressed (13/51, 25 %) or the priority was not in the top ten (12/51, 24 %).
For the analysis of physiotherapy research priorities, all 78 reports were analysed. A top ten priority was addressed in 21 % of these reports (16/78). In the other reports, a less important priority was addressed (ranking 11–26; 25/78, 32 %) or the main subject area did not belong to the top 26 (37/78, 47 %).
Conclusion The present study provides first evidence that research priorities in physiotherapeutic research in Germany are addressed insufficiently. Thus, a significant part of research fails to address the needs of patients and clinicians. Taking existing research priorities into account and developing national research priorities for physiotherapy in Germany could help increase the public health benefits of physiotherapy research.
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Schlüsselwörter
Physiotherapie - Forschungsprioritäten - James Lind Alliance - Behandlungsunsicherheit - Evidenzunsicherheit - Patient*innen- und Öffentlichkeitsbeteiligung - Priorisierung - ForschungsagendaKey words
physiotherapy - research priorities - James Lind Alliance - treatment uncertainties - evidence uncertainties - patient and public involvement - prioritization - research agendaEinleitung
Forschungsprioritäten können Forschungsfördernden und Forschenden helfen, Evidenz in den Bereichen zu entwickeln, die für Patient*innen, Angehörige, Pflegende und Kliniker*innen am wichtigsten sind und auch für die Gesundheitspolitik eine hohe Relevanz besitzen. Wenn in der Forschung die offenen Fragen und Evidenzunsicherheiten adressiert werden, die für Patient*innen und Kliniker*innen am relevantesten sind, kann auch die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung besser gestaltet werden [1]. Hierbei können Forschungsprioritäten hilfreich sein und die Forschungsagenda informieren, um dazu beizutragen, die Qualität und den Nutzen von Forschung zu verbessern [2]. Damit können Forschungsprioritäten auch dazu beitragen, den praktischen Nutzen von Forschung zu erhöhen sowie sogenannten Forschungsmüll (Research Waste) zu vermeiden [2] [3].
An der Erstellung von Forschungsprioritäten sollten verschiedene Stakeholder beteiligt sein, wie z. B. Patient*innen, Pflegende, Kliniker*innen, Forschende und Forschungsfördernde [4]. Die Prioritäten (sogenannte Evidenzunsicherheiten) werden dann in der Regel entsprechend ihrer Wichtigkeit geordnet und in einer hierarchischen Liste publiziert. Von den diversen Ansätzen und Frameworks zur Erstellung von Forschungsprioritäten [1] [5] ist der Ansatz der britischen James Lind Alliance (JLA) einer der etabliertesten [4] [6]. Die JLA ist eine Initiative zur Gründung und Entwicklung von Partnerschaften zwischen Patient*innen, Pflegenden und Kliniker*innen zur Bestimmung von Forschungsprioritäten (Priority Setting Partnerships) [7].
Es gibt verschiedene Arten von Forschungsprioritäten. Die gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten sind z. B. für ein Krankheitsbild, einen Gesundheitszustand oder eine bestimmte Personengruppe konzipiert. Von der JLA wurden z. B. Forschungsprioritäten für die Parkinson-Krankheit [8], das Frailty-Syndrom [9] und die Gesundheit von Senior*innen [10] definiert. Die (generischen) professionsspezifischen Forschungsprioritäten gelten innerhalb einer Profession, wie z. B. der Physiotherapie im Vereinigten Königreich (UK) [11] oder der Pflege in der Psychiatrie [12]. Zudem existieren unter anderem institutionelle oder organisationsspezifische Prioritäten [13], die nicht Gegenstand dieses Artikels sind.
Physiotherapeutische Forschung kann sich grundsätzlich an allen genannten Arten von Forschungsprioritäten orientieren. Mit Blick auf die Gesundheitsversorgung der Gesellschaft, die Erforschung von spezifischen Krankheiten und deren Diagnostik und Behandlung sowie für die Entwicklung der Profession Physiotherapie haben gesundheitszustandsspezifische und professionsspezifische Forschungsprioritäten für die meisten physiotherapeutischen Forschungsprojekte die höchste Relevanz. Diese Analyse fokussiert daher auf die Berücksichtigung dieser beiden Forschungsprioritäten in der physiotherapeutischen Forschung.
Die Berücksichtigung von Forschungsprioritäten in der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland wird bereits seit längerem diskutiert [14] [15]. Im Gegensatz zu anderen Ländern, wie z. B. den USA [16], der Schweiz [17] und im UK [11], existieren jedoch bisher keine (generischen) Prioritäten für die physiotherapeutische Forschung in Deutschland. Die aktuellste generische Liste mit Forschungsprioritäten ist die des britischen Berufsverbands CSP für United Kingdom, die insgesamt 65 Forschungsfragen bzw. Evidenzunsicherheiten aus der Physiotherapie auflistet [11]. Diese 2020 von Rankin et al. [11] publizierte Liste wurde in Kooperation mit der JLA erstellt und zielt darauf ab, Forschungsprioritäten aus allen Bereichen der Physiotherapie abzubilden.
Es gibt deutliche Hinweise, dass Forschungsprioritäten in der biomedizinischen Forschung nur unzureichend berücksichtigt werden [3] [18] [19] [20] [21] [22] [23] [24] [25]. Beispielsweise beschrieben Tallon et al. [19] für den Bereich der Kniearthrose eine fehlende Übereinstimmung zwischen den Forschungsprioritäten von Patient*innen sowie Kliniker*innen und der durchgeführten Forschung: Obwohl Patient*innen und Kliniker*innen Forschung zu Gelenkersatz, Aufklärung und Beratung sowie zur Physiotherapie priorisierten, machten Arzneimittelstudien die überwiegende Mehrheit der veröffentlichten Studien zur Behandlung von Kniearthrose aus. Crowe et al. [18] bestätigten diese fehlende Übereinstimmung in einem umfangreichen Vergleich der Forschungsprioritäten aus 14 Prioritätenlisten der JLA und einer zufällig ausgewählten Stichprobe klinischer Studien. Beispielsweise lagen 59 % der von Patient*innen und Kliniker*innen priorisierten Interventionen in den Bereichen Aus- und Weiterbildung, Ernährung, sozialer Betreuung sowie Psycho-, Physio-, Bewegungs- und Komplementärtherapie, diese wurden jedoch in nur 32 % und 3 % der registrierten nicht kommerziellen bzw. kommerziellen Studien adressiert. Eine systematische Analyse über die Berücksichtigung von Forschungsprioritäten in der Physiotherapie oder der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland wurde bisher nicht durchgeführt.
Die Fachzeitschrift physioscience ist das offizielle Organ der Deutschen Gesellschaft für Physiotherapiewissenschaft und eine der bekanntesten und am verbreitetsten wissenschaftlichen Peer-Review-Fachzeitschriften für Physiotherapie im deutschsprachigen Raum. Die physioscience publiziert Fachartikel aus allen Fachrichtungen der Physiotherapie.
Die vorliegende Studie hat das Ziel, die Berücksichtigung von Forschungsprioritäten in der deutschen physiotherapeutischen Forschung am Beispiel von Publikationen in der physioscience der letzten 10 Jahre zu beschreiben.
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Methode
Bei der Beschreibung dieser systematischen Analyse wurde die PRISMA-Leitlinie sofern möglich berücksichtigt [26].
Informationsquellen und Auswahlkriterien
Im Januar 2021 erfolgte eine Suche im Online-Katalog der Zeitschrift physioscience (ISSN: 1860–3092), um physiotherapeutische Publikationen aus Deutschland bzw. von deutschen Autor*innen zu identifizieren. Eingeschlossen wurden (a) Berichte aus den Jahrgängen 2011–2020; (b) Berichte aus den Publikationskategorien der physioscience Originalarbeit, Review, Forschungsbericht, Wissenschaftlicher Diskurs, Leitlinien, Fallbericht, Qualitative Forschung, Assessment, Fachwissen, Invited Review, Zweitpublikation und Studienprotokoll; (c) Berichte, deren Erst-, Letzt- oder Korrespondenzautor*in mit einer deutschen Institution affiliiert war oder eine deutsche Korrespondenzadresse angegeben hatte; (d) Berichte über Studien aus einem der folgenden Bereiche der medizinischen Forschung [27] [28]: Grundlagenforschung, klinische Forschung (z. B. randomisierte kontrollierte Studien, Fallstudien, Fallberichte), epidemiologische Forschung (z. B. Beobachtungsstudien), systematische Reviews, qualitative Studien.
Ausgeschlossen wurden Berichte aus den Publikationskategorien der physioscience Editorial, Leserbrief, Kommentar, Forschung und Lehre, Veranstaltungsbericht sowie alle Berichte, die keiner unter (d) genannten Kategorie zuzuordnen waren.
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Datengewinnung, Datendetails und Datenextraktion
Folgende Daten wurden von einer Person (TB) mittels eines standardisierten Erhebungsbogens extrahiert und von einer zweiten Person (CB) unabhängig geprüft: Name der Erstautor*innen und weitere bibliografische Angaben, Publikationskategorie, Studientyp, Zahl der Teilnehmenden/Stichprobengröße, Eigenschaften der Teilnehmenden (Altersgruppe, Gesundheitsproblem), Angaben zur finanziellen Förderung und Angaben zu möglichen Interessenskonflikten. Der Studientyp bzw. das Forschungsdesign und die Eigenschaften der Studienteilnehmenden wurden entsprechend der Kategorien von Coronado et al. 2011 [28] bzw. Jesus et al. 2020 [29] kategorisiert.
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Synthese der Ergebnisse
Kategorisierung anhand gesundheitszustandsspezifischer Forschungsprioritäten
Der gesamte Prozess der Kategorisierung ist im Entscheidungsbaum in [Abb. 1] dargestellt.
1. Schritt (thematische Zuordnung): Für jeden eingeschlossenen Bericht wurde die primäre Forschungsfrage, Hypothese und/oder der Hauptgegenstandsbereich des Berichts identifiziert, basierend auf den Beschreibungen der Autor*innen im Titel, Abstract oder Haupttext. Anhand dieser Informationen wurde jeder Bericht einem spezifischen Gesundheitszustand bzw. einer Krankheitskategorie zugeordnet (sofern möglich). Diese Zuordnung erfolgte, wenn möglich, angelehnt an die Diagnosekategorien der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10).
2. Schritt (Identifizierung von Forschungsprioritäten): Für jeden Bericht wurden entsprechende multidisziplinäre, gesundheitszustandsspezifische Forschungsprioritäten gesucht (Prioritätenliste). Dafür wurden jeweils in chronologischer Reihenfolge 3 verschiedene Quellen und Strategien genutzt:
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Quelle 1: Webseite der JLA (www.jla.nihr.ac.uk) [7] [30], Bereich „Priority Setting Partnerships (PSPs)“. Beispielsweise wurden Berichte aus dem Bereich der Schlaganfallrehabilitation der JLA-Prioritätenliste „Life after stroke“ zugeordnet [31]. Bei Berichten aus dem Bereich der muskuloskelettalen Erkrankungen (MSK; z. B. Kreuzschmerzen), für die es von der JLA keine Liste mit Forschungsprioritäten gab, wurde auf Informationen aus Quelle 2 zurückgegriffen. Für alle anderen Berichte, die keiner JLA-Prioritätenliste zuzuordnen waren, wurde direkt in Quelle 3 gesucht.
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Quelle 2: Die Referenzliste des Scoping Reviews von Bourne et al. 2018 [32], in dem insgesamt 49 Berichte zum Thema Forschungsprioritäten für muskuloskelettale Erkrankungen beschrieben sind, wurde durchsucht, um passende Listen mit Forschungsprioritäten aus dem MSK-Bereich zu identifizieren. Existierten mehrere potentiell geeignete Listen, wurde die aktuellste Liste herangezogen oder die Liste, die aus Sicht der Forschenden am geeignetsten war (z. B. Kreuzschmerz: Prioritätenliste von Costa et al. 2013 [33]). Diese Auswahl folgte keinem formalen Prozess, basierte aber auf der impliziten Berücksichtigung von Kriterien wie z. B. der Qualität der Methodiken und der Beteiligung von Patient*innen und anderen Stakeholdern bei der Erstellung der Prioritätenliste.
A priori konnten so folgende MSK-spezifische Forschungsprioritäten identifiziert werden: Arthrose (Jaramillo et al. 2013 für Übersichtsarbeiten [34]; Gierisch et al. 2014 für alle anderen Publikationstypen [35]), Kreuzschmerz (Costa et al. 2013 [33]), rheumatoide Arthritis (MacDermaid et al. 2020 für Hand-Therapie [36]; Ota et al. 2008 für pädiatrische Rheumatologie [37]), Osteoporose (Giangregorio et al. 2014 [38]), Erkrankungen von Fuß und Knöchel (Digiovanni et al. 2006 [39]).
Konnte keine gesundheitszustandsspezifische Prioritätenliste identifiziert werden (z. B. für Schultererkrankungen), wurde eine allgemeine Prioritätenliste für MSK-Erkrankungen herangezogen („internationale Liste für Forschungsprioritäten für Promotionen im Bereich der MSK-Physiotherapie“ von Rushton et al. 2010 [40]).
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Quelle 3: Für Berichte zu nicht muskuloskelettalen Erkrankungen und Gesundheitszuständen, für die in Quelle 1 (JLA) keine passenden gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten identifiziert werden konnten (z. B. Adipositas), wurde mit Hilfe von PubMed und Google Scholar nach geeigneten Forschungsprioritäten gesucht. Die Suche erfolgte mit Schlagworten zum Themenkomplex „Forschungsprioritäten“ (basierend auf der Syntax von Bourne et al. [32]) in Kombination mit Schlagworten und MeSH-Begriffen zum entsprechenden Gesundheitsproblem (z. B. „adiposity“).
Konnte einer Erkrankung bzw. einem Gesundheitszustand keine genau passende Liste mit Forschungsprioritäten zugeordnet werden, wurde versucht, eine adäquate Prioritätenliste zu finden (ggf. mit einem breiteren Fokus). So wurde beispielsweise ein Bericht über „Effekte von Spiegeltherapie auf die motorische Funktionsfähigkeit bei einem Kind mit Hemiparese“ [41] den Forschungsprioritäten der JLA zum Thema „Childhood Disability“ [42] zugeordnet. Konnte keine passende bzw. adäquate Prioritätenliste gefunden werden, war für diesen Bericht kein Abgleich mit einer Prioritätenliste möglich.
Eine Übersicht der verwendeten Listen mit gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten ist in [Tab. 1] aufgeführt. Eine genaue Beschreibung der Listen ist im Zusatzmaterial 1 (doi:10.1055/a-1549-5166) beschrieben.
Titel der Liste mit Forschungsprioritäten |
Land[ 1 ] |
Jahr |
Autor*innen (Lokalisation der Liste im Bericht) |
Beteiligung James Lind Alliance |
Anzahl der Prioritäten |
Anzahl der Berücksichtigungen |
Berichte, in denen die entsprechenden Forschungsprioritäten adressiert wurden[ 2 ] |
Amputation Research in Canada |
Kanada |
2020 |
Hitzig 2020 (Table 6) |
Nein |
11 |
1 |
Ranker 2020 |
Childhood Disability |
UK |
2014 |
Morris 2011, Morris 2015 |
Ja |
25 |
2 |
Grunwald 2014, Jung 2017 |
Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD) |
USA |
2013 |
Krishnan 2013 |
Nein |
4 Listen mit je 7–11 Prioritäten |
1 |
Bendig 2015 |
Diabetes (Type 2) |
UK |
2017 |
Finer 2018 |
Ja |
24 |
1 |
Hartmann 2012 |
Foot and Ankle Research Priority |
USA |
2005 |
Digiovanni 2006 (Table 2) |
Nein |
10 |
1 |
Wilmes 2011 |
Frailty |
Kanada |
2017 |
Bethell 2019 |
Ja |
22 |
1 |
Braun 2016 |
Head and Neck Cancer |
Kanada |
2018 |
Lechelt 2018 |
Ja |
25 |
1 |
Kirschneck 2013 |
Hip & Knee Replacement for Osteoarthritis |
UK |
2014 |
JLA |
Ja |
21 |
3 |
Hoch 2015, Matheis 2016, Worbs 2001 |
Life after Stroke |
UK |
2011 |
Pollock 2014 |
Ja |
10 |
3 |
Jaenecke 2013, Peschke 2013, Reßler 2014 |
Lymphedema |
UK |
2019 |
Underwood 2019 (Table 1) |
Ja |
10 |
2 |
Allofs 2019, Daubert 2011 |
Occupational Health |
UK |
2018 |
Lalloo 2018 |
Nein |
9 |
1 |
Girbig 2013 |
Parkinson's |
UK |
2014 |
Deane 2014 |
Ja |
26 |
3 |
Schroeteler 2014, Disselkamp 2014, Neumann 2019 |
Primary Care Research Priorities in Low Back Pain |
International |
2013 |
Costa 2013 (Table 3) |
Nein |
25 |
7 |
Bräuer 2017, Franz 2015, Hanusch 2014, Kaack 2012, Schäfer 2015, Schäfer 2017, van Baal 2018 |
Research Priorities for Postgraduate Theses in Musculoskeletal Physiotherapy |
International |
2010 |
Rushton 2010 (Table 2) |
Nein |
23 |
17 |
Adames 2012, Allofs 2018, Baier 2013, Baier 2017, Banholzer 2015, Dietrich 2015, Fischer 2013, Kapitza 2019, Klein 2013, Marquardt 2015, Michalk 2020, Nürnberg 2015, Östreicher 2011, Rink 2020, Vogel 2012, Wienke 2020, Wolf 2017 |
Seniors’ Health |
Kanada |
2019 |
Millar 2019 |
Ja |
22 |
4 |
Kastner 2018, Kiselev 2017, Roigk 2018, Roigk 2019 |
Spinal Cord Injury |
UK |
2014 |
van Middendorp 2014, van Middendorp 2016 |
Ja |
22 |
1 |
Kuhn 2013 |
Urinary Incontinence |
UK |
2008 |
Herbison 2009 |
Ja |
10 |
1 |
Schulte-Frei 2018 |
Weight Management: Lifestyle Services for Overweight or Obese Adults: Recommendations for Research |
UK |
2014 |
NICE 2014 |
Nein |
5 |
1 |
Göhner 2014 |
1 Land, in dem die Liste mit Forschungsprioritäten erstellt wurde.
2 Referenzen der inkludierten Berichte sind in Tabelle in Zusatzmaterial 2 (doi:10.1055/a-1549-5166) zu finden.
3. Schritt (Zuordnung von Prioritäten): Für jeden Bericht wurde die primäre Forschungsfrage, die Hypothese und/oder der Hauptgegenstandsbereich mit der dazugehörigen Liste mit Forschungsprioritäten abgeglichen. Der Bericht wurde der hierarchisch „höchsten“ (wichtigsten) passenden Priorität zugeordnet.
Alle 3 Schritte (1. Thematische Zuordnung, 2. Identifizierung von Forschungsprioritäten und 3. Zuordnung von Prioritäten) wurden zunächst von 2 Personen (TB, CB) unabhängig voneinander durchgeführt und anschließend konsentiert. Konnte keine Entscheidung getroffen werden, wurde eine dritte Person (CK oder BE) hinzugezogen.
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Kategorisierung anhand von Forschungsprioritäten für die Physiotherapie
Alle eingeschlossenen Berichte wurden (wenn möglich) einer Forschungspriorität für Physiotherapie des CSP zugeordnet [11]. Die Liste wurde in Zusammenarbeit mit der JLA erstellt und folgte damit einer anerkannten Systematik und Qualitätsstandards. Die Liste wurde 2020 publiziert und ist damit aktueller als andere Listen physiotherapeutischer Forschungsprioritäten [16] [17] [40] [43]. Von den insgesamt 65 Forschungsfragen (Prioritäten) wurden in der vorliegenden Studie die wichtigsten 26 Prioritäten herangezogen (Listenplätze 1–26).
Die Autor*innen [11] [44] fokussieren in der Publikation die Top-25-Prioritäten. Die 26. Priorität wurde in der vorliegenden Analyse zusätzlich berücksichtigt, da erwartet wurde, dass einige Berichte diese Priorität adressieren würden (Sicherheit und Effektivität von Therapieansätzen: „What physiotherapy treatments, advice or approaches are safe and effective at improving outcomes for patients and services? Where more than one treatment/approach works, which works best and in what dose?“).
2 UK-spezifische Prioritäten (Nr. 23 und 24) wurden so interpretiert, dass sie auch für die Versorgungssituation in Deutschland gültig sind (z. B. 24. Priorität: „How are different physiotherapy services provided, staffed and accessed across Germany [the UK] and what influences this?“).
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Analyse
Die Darstellung der Ergebnisse erfolgte deskriptiv.
Es wurde ermittelt, in wie vielen eingeschlossenen Berichten (absolut und prozentual) gesundheitszustandsspezifische Forschungsprioritäten adressiert wurden und welche Bedeutung (Listenplatz) die adressierten Forschungsprioritäten hatten.
Hinsichtlich der Forschungsprioritäten für Physiotherapie wurde ermittelt, in wie vielen eingeschlossenen Berichten eine der Top 26 UK-spezifischen Forschungsprioritäten berücksichtigt wurde. Zudem wurde analysiert, welchem Listenplatz der UK-Liste mit Forschungsprioritäten der jeweilige Bericht zugeordnet werden konnte.
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Ergebnisse
Nach Sichtung aller Ausgaben der physioscience-Jahrgänge 2011–2020 wurden insgesamt 157 Berichte aus den relevanten Publikationskategorien identifiziert, von denen 78 Berichte in diese Studie eingeschlossen wurden (Flowchart siehe [Abb. 2]).
Die Eigenschaften der inkludierten Berichte sind in [Tab. 2] beschrieben. Die Tabelle in Zusatzmaterial 2 (doi:10.1055/a-1549-5166) gibt eine detaillierte Übersicht über alle eingeschlossenen Berichte, inklusive Referenzangaben, Studientyp, Gesundheitszustand, Zuordnung der jeweiligen gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten (Liste und Listenplatz) sowie der Zuordnung der Forschungspriorität für Physiotherapie (Listenplatz).
Publikationskategorie, n (%) |
|
Originalarbeit |
67 (85,9 %) |
Wissenschaftlicher Diskurs |
6 (7,7 %) |
Fallbericht |
2 (2,6 %) |
Qualitative Forschung |
2 (2,6 %) |
Forschungsbericht |
1 (1,3 %) |
Studientyp, n (%) |
|
Review of Reviews (Umbrella Review) |
2 (2,6 %) |
Systematische Übersichtsarbeit (Review) |
15 (19,2 %) |
Randomisierte kontrollierte Studie (RCT) |
2 (2,6 %) |
Kontrollierte Studie |
1 (1,3 %) |
Beobachtungsstudie: Kohorte |
3 (3,8 %) |
Beobachtungsstudie: Querschnitt |
13 (16,7 %) |
Routinedatenauswertung |
2 (2,6 %) |
Umfrage (Survey) |
13 (16,7 %) |
Fallstudie/Fallbericht |
4 (5,1 %) |
Machbarkeit- und/oder Pilotstudie |
8 (10,3 %) |
Qualitativ |
12 (15,4 %) |
Grundlagenforschung |
3 (3,8 %) |
Studienpopulation, n (%) |
|
Patient*innen |
28 (35,9 %) |
Gesunde Personen |
8 (10,3 %) |
Therapeut*innen |
22 (28,2 %) |
Schüler*innen/Studierende |
2 (2,6 %) |
Pflegeeinrichtungen |
1 (1,3 %) |
Nicht anwendbar (Review) |
17 (21,8 %) |
Fallzahl nach Studienpopulation, Median (IQR), Spanne |
|
Patient*innen |
20 (9–63), 1–3011 |
Gesunde |
40 (23–93), 18–130 |
Therapeut*innen |
35 (9–990), 3–4555 |
Altersgruppe der Ziel-Population des Berichts, n (%) |
|
0–18 Jahre |
2 (2,6 %) |
Erwachsene |
55 (70,5 %) |
65 + Jahre |
6 (7,7 %) |
Nicht anwendbar |
15 (19,2 %) |
Im Bericht untersuchter Gesundheitszustand, n (%) |
|
MSK (Erkrankungen und Traumata) |
15 (19,2 %) |
Schmerzen |
13 (16,7 %) |
Nervensystem/Neurologie |
13 (16,7 %) |
Neubildungen/Onkologie |
3 (3,8 %) |
Respiratorisch |
1 (1,3 %) |
Gemischt |
7 (9,0 %) |
Andere |
4 (5,1 %) |
Kein Gesundheitszustand untersucht |
22 (28,2 %) |
COI (Berichte 2011–2016, n = 46)[ 1 ] |
|
Angabe der Autor*innen, dass kein COI besteht |
1 (2,2 %) |
Angabe der Autor*innen, dass ein möglicher COI besteht |
1 (2,2 %) |
Keine Angabe der Autor*innen zu möglichen COI |
44 (95,7 %) |
COI (Berichte 2017–2020, n = 32)[ 1 ] |
|
Angabe der Autor*innen, dass kein COI besteht |
32 (100 %) |
Finanzierung |
|
Angabe der Autor*innen, dass es eine Finanzierung gab |
8 (10,3 %) |
Angabe der Autor*innen, dass es keine Finanzierung gab |
1 (1,3 %) |
Keine Angabe der Autor*innen zu Finanzierung |
69 (88,5 %) |
COI = Conflict of interest (Interessenskonflikte); IQR = Interquartilsabstand; MSK = muskuloskelettal (Bewegungsapparat).
1 Die Angabe von Interessenskonflikten ist erst ab 2017 obligatorisch.
Die häufigsten Studientypen waren Übersichtsarbeiten (17/78, 22 %), Beobachtungsstudien (16/78, 21 %), Umfragen (13/78, 17 %) und qualitative Studien (12/78, 15 %). In den meisten Berichten wurden Studien beschrieben, an denen Patient*innen (28/78, 36 %) oder Therapeut*innen (22/78, 28 %) teilgenommen hatten. In 60 der 78 Berichte wurden Patient*innen, Gesunde, Therapeut*innen oder Schüler*innen/Studierende untersucht, wobei im Median 27 Personen eingeschlossen wurden (IQR: 10–101, Spanne: 1–4555).
Der Gegenstandsbereich ließ sich in den meisten Berichten den Kategorien „Bewegungsapparat“ (15/78, 19 %), „Schmerz“ (13/78, 17 %) oder „Nervensystem/Neurologie“ (13/78, 17 %) zuordnen.
Berücksichtigung von gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten
In 22 Berichten wurde kein Gesundheitszustand untersucht, in 2 Berichten wurde der Gesundheitszustand nicht spezifiziert (Berichte zu den Themen „Motivationsfaktoren für Physiotherapie“ bzw. „Bobath-Konzept“). Für 3 Berichte konnten keine gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten identifiziert werden (2 Berichte zum Thema „Neurorehabilitation“ und 1 Bericht zum Thema „Restless-Legs-Syndrom“). Für die übrigen 51 Berichte (65 %) wurde analysiert, inwieweit die entsprechenden gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten adressiert worden waren.
Die 51 Berichte wurden insgesamt 18 verschiedenen Listen mit gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten zugeordnet, die in [Tab. 1] aufgelistet sind. 61 % der Listen (11/18) wurden im Kontext der JLA erstellt. [Abb. 3] zeigt die Häufigkeit der Listen mit Forschungsprioritäten, mit denen die inkludierten Berichte verglichen wurden (detaillierte Darstellung der Ergebnisse in Tabelle Zusatzmaterial 3 (doi:10.1055/a-1549-5166). Die meisten Berichte wurden thematisch den allgemeinen Forschungsprioritäten für muskuloskelettale Physiotherapie von Rushton et al. (2010) [40] oder den Forschungsprioritäten für Kreuzschmerzen von Costa et al. (2013) [33] zugeordnet.
[Abb. 4] zeigt die Priorisierung (Listenplatz) der in den Berichten behandelten Forschungsfragen/Themen. In 49 % der Berichte (25/51) wurde entweder keine gesundheitszustandsspezifische Forschungspriorität berücksichtigt (13/51, 25 %) oder die Priorität gehörte nicht zu den Top Ten der jeweiligen Prioritätenliste (12/51, 24 %). In 29 % der Berichte (15/51) wurde eine der 3 wichtigsten Forschungsprioritäten des entsprechenden Gesundheitszustands berücksichtigt (detaillierte Darstellung der Ergebnisse siehe Zusatzmaterial 3.
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Berücksichtigung von physiotherapiespezifischen Forschungsprioritäten
Alle 78 Berichte wurden mit der Top-26-Liste der Forschungsprioritäten für Physiotherapie des CSP abgeglichen. Die Berücksichtigung nach Listenplätzen ist in [Abb. 5] bzw. in der Tabelle im Zusatzmaterial 3 illustriert. In 47 % der Berichte (37/78) wurde keine der 26 wichtigsten Prioritäten berücksichtigt. In 21 % der Berichte (16/78) wurde eine Top-Ten-Priorität berücksichtigt.
Bei der Datenauswertung zeigte sich, dass insgesamt 14 % der Berichte (11/78) dem Thema „Assessments/Messinstrumente/Gütekriterien“ zugeordnet werden konnten, welches auf der UK-Liste auf Listenplatz 34 verortet ist.
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Diskussion
Diese systematische Analyse von 78 physiotherapeutischen Berichten aus Deutschland der letzten 10 Jahre liefert erste Hinweise auf eine unzureichende Übereinstimmung zwischen den Prioritäten von Patient*innen und Kliniker*innen und der tatsächlich durchgeführten und publizierten Forschung. Nach Kenntnis der Autor*innen ist diese Analyse die erste, die Forschungsprioritäten im Bereich der Physiotherapie überhaupt berücksichtigt.
Von insgesamt 54 Berichten, in denen ein Gesundheitszustand bzw. ein Krankheitsbild untersucht worden war, konnten 94 % der Berichte (51/54) einer gesundheitszustandsspezifischen Liste mit Forschungsprioritäten zugeordnet werden. Dieses Ergebnis zeigt, dass es für die meisten Gesundheitszustände, die physiotherapeutisch relevant sind und erforscht werden, entsprechende gesundheitszustandsspezifische Forschungsprioritäten gibt, an denen sich die Forschenden orientieren könnten. Mehrere aktuelle Übersichtsarbeiten belegen die zunehmend steigende Zahl an Forschungsprioritäten für unterschiedliche Erkrankungen und Personengruppen [1] [6] [32]. Levelink et al. [6] z. B. berichten über 34 Publikationen, an denen Patient*innen, Pflegekräfte und Angehörige der Gesundheitsberufe intensiv beteiligt waren. Bourne et al. [32] konnten insgesamt 49 Listen mit Forschungsprioritäten aus dem Bereich der MSK-Erkrankungen identifizieren, auch andere systematische Übersichtsarbeiten berichten über verfügbare Forschungsprioritäten aus bestimmten Bereichen, z. B. Frauengesundheit [45] oder chronische Kinderkrankheiten [46]. Forschende Physiotherapeut*innen und physiotherapeutische Institutionen in Deutschland könnten diese existierenden gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten nutzen, um die eigene Forschungsagenda zu gestalten.
Die meisten der 51 Berichte, die thematisch einer Liste mit gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten zugeordnet werden konnten, adressierten Fragestellungen aus dem Bereich der muskuloskelettalen Physiotherapie bzw. der Kreuzschmerzen. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, da Patient*innen mit muskuloskelettalen Erkrankungen die größte Gruppe von Patient*innen in der Physiotherapie in Deutschland darstellt [47] und auch international die meiste physiotherapeutische Forschung in diesem Themengebiet (inkl. Schmerzforschung) erfolgt [28] [29].
Ein zentrales Ergebnis dieser Analyse ist, dass summiert in der Hälfte der 51 relevanten Berichte keine gesundheitszustandsspezifische Forschungspriorität adressiert wurde (13/51, 25 %) oder die Forschungsfrage keine der Top-Ten-Prioritäten im jeweiligen Themenbereich/Gesundheitszustand (12/51, 24 %) adressiert. In der anderen Hälfte der Berichte (26/51, 51 %) wurde eine der 10 wichtigsten Forschungsprioritäten des entsprechenden Gesundheitszustands berücksichtigt und in knapp einem Drittel der Berichte (15/51, 29 %) sogar eine Top-3-Priorität. Dieses Ergebnis bestätigt die Ergebnisse anderer Analysen, in denen eine ähnlich hohe fehlende Übereinstimmung identifiziert wurde, die jedoch in anderen Fachbereichen deutlich ausgeprägter ist. Jun et al. [21] berichten z. B., dass in lediglich 17 % der analysierten klinischen Studien mit Dialyse-Patient*innen eine der Top-Ten-Forschungsprioritäten aus dem Bereich der Dialyse adressiert wurde. Typischerweise entsteht diese fehlende Übereinstimmung dadurch, dass Medikamentenforschung von Patient*innen und Kliniker*innen nicht so stark priorisiert wird, diese in vielen Fachbereichen aber > 80 % der Forschung ausmacht [3] [18] [25]. Da mehr als 50 % der Interventionen, die in Forschungsprioritäten der JLA beschrieben sind, aus dem nicht pharmakologischen Bereich stammen (u. a. Ernährung, soziale Betreuung, Psycho-, und Physiotherapie), ist es nicht überraschend, dass die physiotherapeutischen Berichte in dieser Analyse zu einem relativ hohen Anteil die wichtigsten gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten adressieren.
Die Analyse der physiotherapiespezifischen Forschungsprioritäten zeigt, dass die publizierten Berichte die wichtigsten Forschungsprioritäten für Physiotherapie aus dem Vereinigten Königreich nur unzureichend adressieren. Die 10 wichtigsten Prioritäten wurden in nur 21 % der Berichte (16/78) adressiert und in knapp der Hälfte der Berichte (37/78, 47 %) wurde keine der 26 wichtigsten UK-Prioritäten adressiert. Die meisten Top-Ten-Prioritäten wurden gar nicht (5., 6., 8. und 10. Priorität) oder nur in einem einzigen Bericht (1., 3. und 7. Priorität) adressiert. Die häufigsten adressierten Prioritäten waren die 26. Priorität zur „Sicherheit und Effektivität von Therapieansätzen“ (15 Berichte, 19 %) und die 34. Priorität zum Themenbereich „Assessments und Gütekriterien“ (11 Berichte, 14 %; „What tools are effective for measuring physiotherapy adherence, health problems or treatment results?“, „Were tools are effective, what amount of change is needed to show an important improvement?“). Diese Ergebnisse zeigen, dass etwa 80 % der in der physioscience publizierten Berichte der letzten 10 Jahre keine physiotherapeutisch besonders relevanten Forschungsfragen adressieren, die in der UK-Liste von Rankin et al. formuliert wurden [11]. Die Top-3-Themen der UK-Liste sind Optimierung, Effektivität und Zugang zur physiotherapeutischen Versorgung [11]. In diesem Zusammenhang sollten die Unterschiede im Detaillierungsgrad und in den Inhalten zwischen verschiedenen physiotherapiespezifischen Prioritätenlisten berücksichtigt werden. Beispielsweise werden in den Schweizer Forschungsprioritäten für Physiotherapie auf dem 1. und 2. Listenplatz „Entwicklung und Evaluation von Behandlungsmethoden“ (UK: 26. Priorität) bzw. „Physiotherapeutisches Assessment und Diagnose“ (UK: 34. Priorität) aufgeführt [17].
Eine mögliche Erklärung für die fehlende Übereinstimmung zwischen den gesundheitszustandsspezifischen und physiotherapiespezifischen Prioritäten und den Forschungsfragen (Themengebieten) der analysierten Berichte ist, dass einige Forschungsprioritäten erst nach dem Erscheinen der inkludierten Berichte publiziert wurden. So sind z. B. 7 der 11 Listen mit gesundheitszustandsspezifischen Prioritäten erst nach 2016 (siehe [Tab. 1]) und die physiotherapiespezifischen Prioritäten aus UK erst im Juni 2020 publiziert worden [11]. Die Autor*innen der eingeschlossenen Berichte hatten also in vielen Fällen keine Kenntnis über die relevanten Forschungsprioritäten. Die Autor*innen hätten jedoch auf physiotherapeutische Forschungsprioritäten aus anderen Ländern zurückgreifen können, die früher veröffentlicht worden waren und mit den UK-2020-Prioritäten gewisse Überschneidungen aufweisen: Irland 2010 [43], USA 2011 [16], UK 2012 (Vorgängerliste) [48], Schweiz 2015 [17].
Limitationen
Die Ergebnisse sind nur begrenzt für die physiotherapeutische Forschung in Deutschland generalisierbar, da ausschließlich Publikationen der physioscience herangezogen wurden. Es ist anzunehmen, dass ein relevanter Anteil der (öffentlich oder privat geförderten) physiotherapeutischen Forschung in Deutschland in internationalen, englischsprachigen Fachzeitschriften mit einem höheren Einfluss und einer stärkeren Sichtbarkeit publiziert wurde [49]. Diese Berichte weisen wahrscheinlich eine höhere interne und externe Validität auf [50]. Ob Forschungsprioritäten in physiotherapeutischen Berichten von Forschenden aus Deutschland, die in anderen Zeitschriften publiziert wurden, stärker berücksichtigt wurden, ist jedoch unklar und könnte das Ziel weiterer systematischer Analysen sein.
Die meisten der 18 gesundheitszustandsspezifischen Listen mit Forschungsprioritäten, die für diese Analyse herangezogen wurden, wurden vor mehr als 5 Jahren publiziert (11 Publikationen vor 2016, siehe [Tab. 1]). Die Aktualität dieser gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten könnte somit beeinträchtigt sein. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber möglich, dass es für einige Evidenzunsicherheiten mittlerweile hinreichende Evidenzen gibt, sodass diese einzelnen Prioritäten nicht weiter zu priorisieren sind. Für die vorliegende Analyse wurde die jeweils passendste und aktuellste Liste herangezogen.
Die Entwicklung von Forschungsprioritäten ist ein komplexer Prozess, der auch politisch und von Wertediskussionen beeinflusst sein kann, und für den unterschiedliche Methoden zur Verfügung stehen [5]. Es kann schwierig sein, die unterschiedlichen Perspektiven und Werte verschiedener Stakeholder zu identifizieren, zu berücksichtigen und zu integrieren [51]. Zudem gibt es keinen Konsens, welche Kriterien für eine qualitativ hochwertige und „erfolgreiche“ Entwicklung von Forschungsprioritäten gelten. Der Entwicklungsprozess sollte allerdings fair, legitim und transparent sein, auf belastbaren Evidenzen basieren und ein breites Spektrum an Interessengruppen einbeziehen [5]. In dieser Analyse wurde die Qualität der herangezogenen Forschungsprioritäten nicht beurteilt. Da es Hinweise darauf gibt, dass die Qualität von Forschungsprioritäten sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann [13] [32] [45], sollte diese Limitation bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden. Um mögliche Verzerrungen bei diesem Aspekt zu reduzieren, wurden in dieser Analyse bevorzugt die Forschungsprioritäten herangezogen, die der anerkannten Methode der JLA folgten bzw. an deren Erstellung die JLA kooperativ beteiligt war [4].
Die für die physiotherapiespezifischen Prioritäten herangezogene Liste mit generischen Forschungsprioritäten des CPS wurde primär für die physiotherapeutische Forschung im Vereinigten Königreich entwickelt [11]. Das Vereinigte Königreich und Deutschland unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Bevölkerungsstruktur, ihrer Gesundheitssysteme, des (akademischen) Entwicklungs- und Professionalisierungsstandes der Physiotherapie sowie deren Rolle in Versorgung und Forschung. Die Gültigkeit der UK-Liste für die Physiotherapie in Deutschland könnte daher beeinträchtigt sein, wurde jedoch in Ermangelung von physiotherapiespezifischen Forschungsprioritäten für Deutschland herangezogen. Zudem ist diese Liste aktueller als andere nationale Forschungsprioritäten für Physiotherapie [16] [17] [43] und sie weist eine hohe Validität auf, da sie in Kooperation mit der JLA erstellt wurde [4] und die an der Entwicklung beteiligte Personengruppe neben Physiotherapeut*innen zur Hälfte aus Patient*innen, Pflegenden und Bürger*innen bestand.
Es wurden nur die Top-26-Prioritäten der UK-Liste für die Analysen herangezogen. Es bleibt daher unklar, inwieweit in den 37 Berichten, in denen keine dieser wichtigsten Prioritäten adressiert worden waren, weitere (weniger relevante) Prioritäten adressiert wurden. Zumindest 11 dieser Berichte konnten der 34. Priorität zur Entwicklung und Evaluierung von Assessments zugeordnet werden, die für die physiotherapeutische Forschung in der Schweiz die zweithöchste Priorität hat.
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Schlussfolgerungen
Forschungsprioritäten können dazu beitragen, die begrenzten Ressourcen für die Gesundheitsforschung auf vorrangige Bedarfsbereiche auszurichten. Die vorliegende systematische Analyse liefert erste Hinweise darauf, dass gesundheitszustandsspezifische und physiotherapiespezifische Forschungsprioritäten in der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland nur unzureichend berücksichtigt werden. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass ein erheblicher Teil der physiotherapeutischen Forschung in Deutschland sehr wahrscheinlich an den Bedürfnissen von Patient*innen und Kliniker*innen vorbeigeht.
Die Analyse basiert auf einer relativ kleinen und selektiven Stichprobe an Berichten aus einer einzigen physiotherapeutischen Fachzeitschrift, was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse limitiert. Weitere Analysen könnten helfen, die Berücksichtigung von Forschungsprioritäten in der deutschen Physiotherapieforschung besser darzustellen.
Forschungsfördernde und Forschende sollten die existierenden gesundheitszustandsspezifischen Forschungsprioritäten berücksichtigen und sich aktiv bei der Entwicklung von Forschungsprioritäten für Gesundheitszustände und Erkrankungen, für die es bisher keine Forschungsprioritäten gibt, einbringen. Die Entwicklung von generischen physiotherapiespezifischen Forschungsprioritäten für Deutschland könnte dazu beitragen, dass physiotherapeutische Forschung zukünftig einen größeren Nutzen für die öffentliche Gesundheit hat und die begrenzten Ressourcen (z. B. Fördermittel) effizienter, sinnvoller und gerechter verteilt werden. So lange es keine nationalen physiotherapiespezifischen Forschungsprioritäten gibt, können die existierenden Forschungsprioritäten aus UK und der Schweiz berücksichtigt werden.
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Ethische Aspekte
Dieser Artikel enthält keine Untersuchungen an menschlichen Teilnehmenden oder menschlichem biologischen Material und es werden keine gesundheitsbezogenen Personendaten berichtet.
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Zustimmung zur Veröffentlichung
Nichtzutreffend.
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Verfügbarkeit von Daten und Materialien
Alle in dieser Studie generierten und analysierten Daten sind in diesem veröffentlichten Artikel enthalten.
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Registrierung
Nichtzutreffend.
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Finanzielle Unterstützung
Diese Forschung hat keine spezifische Finanzierung von öffentlichen, kommerziellen oder gemeinnützigen Stellen erhalten.
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Beiträge von Autor*innen
Konzeption der Arbeit: TB, CB. Erhebung der Daten: TB, CB. Analyse der Daten: TB. Interpretation der Daten: TB, CB, BE, CK. Entwurf des Manuskripts: TB. Kritische Überarbeitung des Manuskripts hinsichtlich wichtiger geistiger Inhalte: TB, CB, BE, CK. Alle Autor*innen haben die finale Version des Manuskripts gelesen und genehmigt. Alle Autor*innen erklären, dass sie für alle Aspekte der Arbeit verantwortlich sind und sie gewährleisten, dass Fragen im Zusammenhang mit der Richtigkeit oder Integrität eines jeden Teils der Arbeit angemessen untersucht und gelöst werden.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 01 July 2021
Accepted: 21 September 2021
Article published online:
12 January 2022
© 2022. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commecial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/)
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