Schlüsselwörter
Beeinträchtigungen - Behinderungen - Partizipation - Sexualaufklärung - sexuelle und
reproduktive Gesundheit
Key words
disabilities - impairments - participation - sex education - sexual and reproductive
health
Das menschliche Bedürfnis nach Sexualität wurde als universelles Menschenrecht in
der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) explizit formuliert. Demnach haben Menschen
mit Beeinträchtigungen das Recht, über alle Fragen zu Ehe, Partnerschaft, Familie
und Elternschaft selbst zu entscheiden. Die Aktivitäten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in diesem Feld sind Bestandteil des 2011 gestartete Nationalen Aktionsplans
(NAP) der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-BRK. Ziel ist der Abbau von Barrieren
in allen Lebensbereichen von Menschen mit Beeinträchtigungen.
Vor diesem Hintergrund und dem des gesetzlichen Auftrags aus dem Schwangerschaftskonfliktgesetz
(§ 1 Abs. 1 SchKG) werden in der BZgA seither vielfältige Medien und Maßnahmen entwickelt
und umgesetzt, um Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer selbstbestimmten Sexualität
zu unterstützen und eine zielgruppengerechte, ganzheitliche Sexualaufklärung zu fördern.
Ziel dieses Engagements ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen dabei zu unterstützen,
sich im Themenfeld Sexualität eigenständig zu informieren und selbstbestimmte Entscheidungen
treffen zu können.
Damit dies gelingt, wurde ein holistischer Ansatz zur Umsetzung des Themas „Sexualität
und Beeinträchtigungen“ gewählt, der von den allgemeinen Grundsätzen der Gesundheitsförderung
Empowerment, Partizipation und Kompetenzausbau geprägt ist ([Abel et al. 2018]; [Brandes und Stark 2016]; [Wright 2016]). Dieser Ansatz basiert auf mehreren Säulen:
-
dem Public Health Action Cycle als Grundlage bei der Qualitätsentwicklung und -sicherung aller Interventionen und
Maßnahmen ([Rosenbrock und Hartung 2015]),
-
der Entwicklung von Konzepten zur Sexualaufklärung, in denen die Voraussetzungen zur
Befähigung eines eigen- und partnerverantwortlichen und gesundheitsförderlichen Umgangs
mit Sexualität dargelegt werden,
-
der Entwicklung von barrierearmen Angeboten für verschiedene Zielgruppen (wie z. B.
Fachkräfte, Kinder, Jugendliche und Erwachsene),
-
der Förderung von Forschungs- und Praxisprojekten zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung
und Sexualaufklärung,
-
der partizipativen und evidenzbasierten Entwicklung einzelner Maßnahmen,
-
der Bearbeitung der Themenkomplexe auf nationaler und internationaler Ebene.
Der vorliegende Praxisbeitrag stellt das Engagement der BZgA zur Förderung der sexuellen
und reproduktiven Gesundheit von Menschen mit Beeinträchtigungen zusammenfassend dar:
Zunächst wird die konzeptuelle Grundlage, das Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung der
BZgA, vorgestellt. Anschließend geht es um partizipative Forschung, die Bedeutung
von Digitalisierung, Qualitätssicherung und der internationalen Arbeit in diesem Themenbereich.
Das Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung der BZgA
Das Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung der BZgA
Das Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung ([BZgA 2016]) wurde unter Beteiligung aller Bundesländer erarbeitet. Darauf basierend wurden
spezifische Konzepte für besondere Zielgruppen entwickelt. Im Konzept zur Sexualaufklärung
von Menschen mit Beeinträchtigungen ([BZgA 2015]) wird zu Rahmenbedingungen und Begriffsbestimmungen von Menschen mit Beeinträchtigungen
Bezug genommen. Das Thema „Behinderung“ wird hier als Lebenserfahrung verstanden und
deren Auswirkungen auf Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft werden konkretisiert.
Das Konzept zur Sexualaufklärung von Menschen mit Beeinträchtigungen ist als Version
in Brailleschrift und Großdruck sowie in Leichter Sprache erhältlich. Durch die (barrierefreien)
Versionen des Rahmenkonzeptes wird der gemeinsame Austausch von Menschen mit und ohne
Beeinträchtigungen über Themen der Sexualaufklärung gefördert. Zudem stellen sie die
Grundlage für ein aktives und partizipatives Zusammenarbeiten in Forschungs- und Praxisprojekten
dar.
Partizipative Forschung
Ein wichtiger Baustein der Aktivitäten der BZgA sind die wissenschaftlichen Analysen
und Ergebnisse zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Menschen mit Beeinträchtigungen.
Sie bilden das Fundament, um qualitätsgesicherte und evidenzbasierte Konzepte und
Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Dabei ist es wichtig, die verschiedenen
Zielgruppen, ihre Lebenswelten und die Bedarfe durch die jeweiligen Beeinträchtigungsformen
adäquat zu berücksichtigen. Dies erfordert nicht nur die Beachtung der unterschiedlichen
Kommunikationsmittel oder Wohnkontexte, sondern die aktive Partizipation der jeweiligen
Zielgruppen an wissenschaftlicher Forschung. So können die Lebens- und Erlebenswirklichkeiten
von Menschen mit Beeinträchtigungen im Forschungsprozess besonders reichhaltig berücksichtigt
werden.
Diesen Prämissen ist die BZgA unter anderem bei der Förderung der folgenden drei barrierefrei
und partizipativ angelegten Studien der Universität Leipzig gefolgt:
-
Jugendsexualität und Behinderung. Eine Studie zur besonderen Situation von behinderten
Jugendlichen in Sachsen ([Wienholz et al. 2013]),
-
Familienplanung bei jungen Erwachsenen mit Behinderungen in Sachsen ([Wienholz et al. 2017]),
-
Teilhabechancen an sexueller Bildung Jugendlicher mit kognitiven Einschränkungen in
Sachsen ([Wienholz 2017]).
Als Expertinnen und Experten in eigener Sache wurden Jugendliche und junge Erwachsene
mit kognitiven Beeinträchtigungen in die einzelnen Forschungsschritte eingebunden.
Im Ergebnis konnten die Erlebenswirklichkeiten dieser Zielgruppen in Bezug auf Sexualaufklärung,
Verhütung sowie Gewalterfahrungen in die Studien einfließen ([Paschke und Tomse 2017]). Derartige empirische Studienergebnisse bilden dann wiederum die Grundlage für
Praxismaßnahmen der BZgA.
Digitalisierung zur Förderung der sexuellen Selbstbestimmung: Das „ReWiKs“-Projekt
Digitalisierung zur Förderung der sexuellen Selbstbestimmung: Das „ReWiKs“-Projekt
Menschen mit Beeinträchtigungen sind in ihrer sexuellen Selbstbestimmung und dem Zugang
zu evidenzbasierten Informationen zu Themen der Sexualaufklärung nach wie vor mit
vielfältigen Barrieren konfrontiert. Vor allem Menschen, die in Wohneinrichtungen
leben, müssen institutionell-strukturelle Hindernisse (z. B. Mangel an Privatsphäre,
Kultur und Haltung der Einrichtung, knappe personelle Ressourcen), aber auch individuell-persönliche
Barrieren vonseiten der Einrichtungen, Fachkräfte und Leitungspersonen (z. B. Unsicherheit,
Ängste gegenüber dem Thema „Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen“) überwinden
([Charitou et al. 2021]; [Greenwood und Wilkinson 2013]; [Ortland et al. 2016]).
Zudem belegen Studien, dass vor allem Frauen mit Beeinträchtigungen und Bewohnerinnen
und Bewohner in Wohneinrichtungen einem erhöhten Risiko für sexualisierte Gewalt ausgesetzt
sind ([Schröttle et al. 2013]) und häufiger aversive sexuelle Erfahrungen machen ([Holdsworth et al. 2018]).
Um den Unterstützungsbedarfen sowohl der Menschen mit Beeinträchtigungen als auch
der Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen gerecht zu werden, wird seit 2014 das von
der BZgA geförderte Forschungsprojekt „ReWiKs (Reflexion – Wissen – Können)“ zur Stärkung
der sexuellen Selbstbestimmung bei erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen in
Wohneinrichtungen gefördert ([Ortland et al. 2016]). In einem intensiven Wissenschafts-Praxis-Dialog und unter konsequenter Einbeziehung
von Menschen mit Beeinträchtigungen wurde ein umfangreiches Medienpaket erstellt.
Diese Materialen dienen dazu,
-
Mitarbeitende zur Reflexion des intentionellen Umgangs mit Sexualität anzuregen und
ihnen Fachwissen und Handlungsempfehlungen bereitzustellen sowie
-
Bewohner:innen zu unterstützen, ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität einzufordern
und Entwicklungsprozesse in ihren Wohneinrichtungen anzustoßen bzw. an diesen zu partizipieren.
Im Zuge der Entwicklung der ReWiKs-Materialien wurde geprüft, inwieweit durch die
Verwendung von digitalen Materialien und onlinebasierten Zugängen die Partizipation
von Menschen mit Beeinträchtigungen am Organisationsentwicklungsprozess gesteigert
werden könnte. Verstärkt wurde diese Notwendigkeit durch die COVID-19-Pandemie: Kontaktbeschränkende
Maßnahmen machten ein Mehr an Digitalisierung unabdingbar. Zudem bietet das Internet
für Menschen mit Beeinträchtigungen einen hohen Anreiz und eine Chance, selbstbestimmt
und autonom zu interagieren, zu kommunizieren und an gesellschaftlichen Prozessen
teilhaben zu können ([Manzoor und Vimarlund 2018]). Trotz dieser möglichen Chancen zeigen aktuelle Studienergebnisse aber auch, dass
die Mediennutzung von Menschen mit Beeinträchtigungen stark eingeschränkt ist ([Bosse et al. 2019]). Gerade in stationären Wohneinrichtungen haben Menschen mit Beeinträchtigungen
deutlich seltener Zugang zu digitalen Medien und sind auf die Unterstützung von Betreuer:innen
angewiesen ([Adrian et al. 2017]).
Diese Zugangs- und Nutzungsbarrieren für Menschen mit Beeinträchtigungen zeigten sich
auch im ReWiKs-Projekt sehr deutlich. Im Rahmen einer explorativen Online-Befragung
von N = 68 Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen ([Kemmerling und Bössing 2020]) wurden Hürden sowohl in Bezug auf die Beeinträchtigungen der Bewohner:innen als
auch auf die technische Infrastruktur der Einrichtungen (z. B. Verfügbarkeit von WLAN)
sichtbar. Und auch auf Ebene der Mitarbeitenden bestehen Barrieren: Diese Zielgruppe
ist in Bezug auf die eigene Mediennutzungs- und Medienvermittlungskompetenz sowie
die Einstellung gegenüber digitalen Medien sehr heterogen. Nicht zuletzt – und das
zeigte das ReWiKs-Projekt auch sehr deutlich – bestimmen die Kultur und die Haltung
innerhalb der Einrichtung sowie die verfügbaren personellen Ressourcen den Zugang
der Bewohner:innen zu digitalen Medien.
Auf Basis dieser Ergebnisse wurden die Konzeptionen der digitalisierten ReWiKs-Materialien
angepasst. Als erster Schritt hin zu einer komplett digitalen Nutzungsmöglichkeit
wurden die Entwicklung von barrierearmen digitalen Dokumenten und eine barrierearme
Online-Präsenz identifiziert und umgesetzt [
1
]. Dies setzte voraus, dass sowohl die inhaltliche Ebene (z. B. Leichte Sprache, Einbindung
von Bildern und Grafiken) als auch die technische Ebene (z. B. Nutzbarkeit mit Screenreadern
und assistiven Technologien, wie beispielsweise Eyegaze-Systeme) in den Blick genommen
werden musste. Als Wegweiser bei der barrierearmen Digitalisierung des ReWiKs-Medienpakets
dienten dabei die Vorgaben der „Web Content Accessibility Guideline“ (WCAG) ([Caldwell et al. 2008]).
Der Digitalisierungsprozess der ReWiKs-Materialen ist – wie der gesamte ReWiKs-Forschungsprozess
– iterativ angelegt; d. h., es finden kontinuierliche Evaluationen und Anpassungen
sowohl der digitalen Materialien als auch der Online-Präsenz statt. Die zentrale Frage,
die bei der Entwicklung und der Evaluation handlungsleitend ist, lautet: Wie schaffen
wir es, unter den bestehenden strukturell-organisatorischen Rahmenbedingungen die
Erreichbarkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen durch Digitalisierung zu verbessern?
Qualitätssicherung durch Partizipation: Das Projekt „Herzfroh 2.0“
Qualitätssicherung durch Partizipation: Das Projekt „Herzfroh 2.0“
Die Digitalisierung von Informationen zum Abbau von Barrieren ist ein zentraler Bestandteil
des Projekts „Herzfroh 2.0“. Es sollen digitale und analoge Informationsangebote für
Jugendliche und junge Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen entstehen. In Kooperation
mit den Departements Soziale Arbeit und Informatik der Hochschule Luzern werden die Themenhefte des Manuals „Herzfroh“ [
2
] zur Sexualaufklärung aus der Schweiz überarbeitet und weiterentwickelt. Begleitend
zu den Themenheften und interaktiven Tools werden eine pädagogische Handreichung und
haptisches Begleitmaterial für die schulische und außerschulische Arbeit entwickelt.
Die Informationen sollen so verständlich und barrierearm aufbereitet und zur Verfügung
gestellt werden, dass sie von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen eigenständig
genutzt und gleichzeitig mit passenden Medien und Methoden von Fachkräften gut vermittelt
werden können.
So ergeben sich zwei zentrale Zielgruppen für die spätere Nutzung: Sowohl Jugendliche
und junge Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen als auch Fachkräfte werden
bereits bei der Überarbeitung und Neuentwicklung der Medien von „Herzfroh 2.0“ eingebunden.
Darüber hinaus wird die Medienentwicklung über die gesamte Projektlaufzeit von den
Bildungsfachkräften des Instituts für Inklusive Bildung in Kiel (https://inklusive-bildung.org/de/ueber-uns) begleitet. Sie testen die Medien und Formate und beraten das Projektteam bei der
Umsetzung. So können notwendige Anpassungen bereits im Entwicklungsprozess erkannt
und umgesetzt werden.
Die Partizipation ist dabei Teil der Qualitätssicherung. Zentral hierbei ist, die
Zielgruppen zu verschiedenen Zeitpunkten und auf verschiedenen Ebenen einzubeziehen:
Bereits in der ersten Projektphase wurden relevante Personengruppen in den Entwicklungsprozess
involviert. Die bestehenden Materialien wurden geprüft und bewertet, um den Bedarf
an Überarbeitung und Neuentwicklung von Teilbereichen möglichst breit zu ermitteln.
Unter Einbezug des international und multiprofessionell besetzten Fachbeirates wurden
Themenerweiterungen sowie Einsatzfelder der Medien diskutiert. In Fokusgruppen mit
Fachkräften in Deutschland und in der Schweiz wurden die Themenhefte in Bezug auf
Darstellungen, Sprache und Aufbau diskutiert. In Fokusgruppen mit Jugendlichen und
jungen Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen wurden die Themenhefte in Wohngruppen
besprochen und testweise im Förderschulunterricht eingesetzt. So konnten wertvolle
Rückmeldungen zur Verständlichkeit der Medien gesammelt werden. Alle Rückmeldungen
wurden ausgewertet und fließen in den Entwicklungsprozess ein. Aktuell werden die
ersten analogen und digitalen Medien auf Grundlage der Ergebnisse umgesetzt.
In der zweiten Projektphase werden die entwickelten Medien von den Bildungsfachkräften
und in Fokusgruppen erneut getestet, um die Überarbeitungen und Neuentwicklungen zu
bewerten. Noch vor der Veröffentlichung der Medien ist eine weitere Überarbeitungsschleife
vorgesehen, in der die Rückmeldungen umgesetzt werden können.
Die bisherigen Erfahrungen mit dem partizipativen und iterativen Entwicklungsprozess
im Projekt „Herzfroh 2.0“ zeigen, dass die Einbindung der verschiedenen Zielgruppen
sehr zeit- und personalintensiv ist. Ein solcher Entwicklungsprozess sichert jedoch
die Bereitstellung von Medien, die genau auf die Bedarfe der jeweiligen Zielgruppe
ausgerichtet sind. So kann eine hohe Akzeptanz und Nutzbarkeit der Medien gewährleistet
werden. Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen und Fachkräften ist vor
diesem Hintergrund für eine qualitätsgesicherte Entwicklung von Informationen zur
Sexualaufklärung unerlässlich.
Das internationale Engagement der BZgA
Das internationale Engagement der BZgA
Als WHO-Kollaborationszentrum für sexuelle und reproduktive Gesundheit (WHO CC) [
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] fördert die BZgA seit 2003 die Implementierung von ganzheitlicher Sexualaufklärung
in der europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ([Ketting et al. 2018]).
Das WHO CC in der BZgA entwickelt in enger Kooperation mit dem europäischen WHO-Regionalbüro,
einer internationalen Gruppe aus Expert:innen und weiteren Partner:innen, Maßnahmen
für die Sexualaufklärung in Europa und tritt für die Forschung und Praxis in diesem
Bereich ein. Seit seiner Ernennung hat das WHO CC zahlreiche internationale Publikationen
vorgelegt. [
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] Besonders hervorzuheben ist die Entwicklung der „Standards für Sexualaufklärung
in Europa“, die im selben Maße für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen Gültigkeit
haben ([WHO Regional Office for Europe und BZgA 2010]).
Im Rahmen der aktuellen Schwerpunktsetzung hat das WHO-Regionalbüro für Europa den Zugang zu Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen
auf die politische Agenda gesetzt ([WHO Regional Office for Europe 2016]). Vor diesem Hintergrund legt das WHO CC in der BZgA seit 2019 einen besonderen
Fokus auf diese Zielgruppe. Den Ausgangspunkt für das Engagement des WHO CC stellt
ein von der BZgA beauftragtes systematisches Literaturreview dar. Erste Ergebnisse
machen deutlich, dass Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen auch im europäischen
Raum oftmals keine Sexualaufklärung erhalten oder Angebote nicht an ihre Bedürfnisse
angepasst sind ([Michielsen und Brockschmidt 2021]). Zudem bildet das systemische Literaturreview die Grundlage für weitere Publikationen
im Bereich Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in der
WHO CC Region, welche aktuell in Planung sind. Auch auf nationalen und internationalen
Fachkonferenzen, die von der BZgA mitorganisiert werden, wird das Thema aufgegriffen.
So kamen auf der UNESCO-Tagung „Switched On“ zur sexuellen Bildung im digitalen Raum im Jahr 2020 unter anderem
Influencer:innen mit Behinderungen zu Wort, die auf Sozialen Medien wie YouTube sexualbezogene
Peer-Education betreiben ([Döring 2020]).
Das Recht auf ganzheitliche Sexualaufklärung für alle Menschen ist in internationalen Übereinkommen verankert (z. B. [WHO Regional Office for Europe 2016]). Während das Thema „Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen“ damit politisch
auf internationaler Ebene an Relevanz gewinnt, ist die praktische Umsetzung in den
meisten Ländern noch nicht weit vorangeschritten ([UNFPA 2018]). Das WHO CC hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bedarfe und Rechte international
verstärkt sichtbar zu machen und die Umsetzung von Sexualaufklärung für Menschen mit
Beeinträchtigungen in nationalen Richtlinien und Programmen zu fördern.
Fazit und Ausblick
Auf Basis der UN-BRK, dem NAP der Bundesregierung und dem SchKG setzt sich die BZgA
seit 2012 für die sexuelle Selbstbestimmung und die sexuelle und reproduktive Gesundheit
von Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Das nationale und internationale Engagement
beinhaltet dabei sowohl die Entwicklung und Abstimmung von Rahmenkonzepten als auch
die Umsetzung von Forschungsvorhaben und die Entwicklung von barrierefreien Materialien,
Angeboten und Qualifizierungsmaßnahmen für Fachkräfte. Gemäß dem partizipativen Ansatz
werden bei allen Maßnahmen Personen mit Beeinträchtigungen eng in die Entwicklungs-
und Evaluationsprozesse eingebunden. So können sie ihre Lebenswirklichkeiten als Fachleute
in eigener Sache einbringen.
Noch immer sind Jugendliche und Erwachsene mit Beeinträchtigungen bezüglich ihrer
Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle und reproduktive Gesundheit mit
zahlreichen Hemmnissen und Hürden konfrontiert. Die BZgA wird sich auch in Zukunft
gemeinsam mit Vertreter:innen der Länder und Verbänden sowie im Rahmen von nationalen
und internationalen Kooperationen dafür einsetzen, allen Menschen einen gleichwertigen Zugang zu Informationen der Sexualaufklärung, Verhütung
und Familienplanung zu ermöglichen.