Balint Journal 2021; 22(03): 99
DOI: 10.1055/a-1587-0061
Buchbesprechung

Buchbesprechung

In sehr gut verständlicher Art und Weise führt Utech den Leser ruhig und souverän an eine Integration bisher weitgehend getrennter, geradezu polarisierter Wissenschaftsdisziplinen, die mit unterschiedlichen Menschenbildern einhergehen, heran. Diese Integration betrifft die Betrachtung des menschlichen Leibes (Phänomenologie), des menschlichen Körpers (Naturwissenschaft) und der menschlichen Seele (verstehende Psychologie).

Da ist die Phänomenologie, die die unmittelbare, präreflexive Wahrnehmung des Subjekts in den Blick nimmt und den (phänomenalen) Leib in seiner ursprünglichen lebensweltlichen ambiguen Erfahrung beschreibt. Insbesondere bei Krankheiten oder Verletzungen, so Utech, kommt es zu einer Reflexion (durch Dritte oder durch die Person selbst) über die betroffene Person und ihres ansonsten weitestgehend im Verborgenen stattfinden Lebensvollzugs. Hierdurch tritt unweigerlich ein Dualismus verschiedener komplementär zueinander stehenden Dimensionen zutage (Leib-Seele-Problem). Dieser Dualismus drückt sich unter anderem in verschiedenen Zugangsweisen zum Menschen aus:

  • Ein materieller, physikalisch, naturwissenschaftlicher Zugang, der Messungen am menschlichen Körper beinhaltet.

  • Ein seelischer Zugang, der durch Worte übertragende Bedeutungs- und Sinninhalte erfasst und lebensweltliche und damit auch soziale Größen einschließt.

Erstaunlicherweise ist der von Utech beschriebene ganzheitliche Weg, der nicht nur materielle, psychische und soziale, sondern auch phänomenologische Dimensionen in sich vereinigt, in der Literatur bewegungstherapeutischer Tätigkeitsbereiche[1] noch nicht beschrieben worden.

Im zweiten Kapitel stellt Utech ein sehr interessantes eigenes Konzept vor, das nicht entsprechend tiefenpsychologischer Denkweise zwischen bewusstem und unbewusstem Zustand eines Menschen unterscheidet, sondern quer hierzu stehend zwischen präreflexiver und reflexiver Einstellung. Die reflexive Einstellung wird noch einmal untergliedert in alltagsreflexiv, wissenschaftlich-konkret und wissenschaftlich-abstrakt. Hierfür stellt die Berücksichtigung der bereits angesprochenen Phänomenologie und die von Ihr thematisierte Lebenswelt das Eingangstor der Überlegungen dar. Mithilfe dieser neuen Einteilung gelingt es Utech, das Paradoxon zu beleuchten und verständlich zu machen, warum es möglich ist, dass dieselbe Person in bestimmten Situationen unterschiedliche Menschenbilder heranzieht und hiermit einhergehend z. T. widersprüchliche Einschätzungen zu einem Sachverhalt wie etwa der Begründung und der davon abgeleiteten Begegnungen von Krankheiten treffen kann, ohne sich dessen Gewahr zu werden.

Will oder soll die Bewegungstherapie den Menschen in seiner Komplexität begreifen, dann kann, darf, nein dann muss (Pathisches Pentagramm, v. Weizsäcker 1956) sie über den Alleingültigkeitsstreit divergierender Wissenschaftsdisziplinen hinauswachsen. Sie muss ein ganzheitlich orientiertes Modell entwickeln, das unterschiedliche wissenschaftliche Theorien analysiert, ihnen ihren Platz zuordnet und aufzeigt, welchen einzigartigen und unverzichtbaren Beitrag sie zu einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen liefern. Genau das tut Utech in diesem Buch: ‚Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie‘. Darin entwickelt er erstmals ein Modell, das die Erkenntnisse verschiedener humanwissenschaftlicher Disziplinen zu einem umfassenden Bild ganzheitlich orientierter Bewegungstherapie zusammenführt. Er liefert eine in ihrer Klarheit und Prägnanz bemerkenswerte Bestandsaufnahme von Leben und Krankheit einerseits sowie von der Gesellschaft und den (lebens-)weltlichen Umständen andererseits, d. h. dem Zusammenspiel zwischen Subjekt und Welt: Zwischen Organismus und Umwelt (Der Gestaltkreis, v. Weizsäcker, 1950).

Im letzten Kapitel geht Utech der Frage nach, warum sowohl bei Ärzten bzw. Therapeuten als auch bei Patienten – häufig unbewusst – mechanizistische Ansichten über den Menschen dominieren, wenn es um die Erklärung und gedankliche Durchdringung von Krankheiten geht. Von diesen konkreten Anwendungsgebieten ausgehend stellt er schließlich die gesellschaftsübergreifende These – quasi als conditio humana – vor, nach der die Angst des Menschen im Sinne des Existenzialismus und der hieraus resultierende Wunsch nach maximaler Beherrschung von Unsicherheiten sowie zuletzt die Verdrängung des ‚Memento mori‘ eine maßgebliche Rolle spielen.

Der Autor weist über den Status quo der heutigen Bewegungstherapie hinaus auf eine (neue) ganzheitliche Bewegungstherapie, die nicht nur heilen und korrigieren will, sondern die den Menschen anzuleiten vermag, seine auch psychische Gesundheit aktiv zu fördern und bisher schlummernde körperliche, leibliche und seelische Potentiale zu entwickeln.

Für den primär philosophisch interessierten Leser empfiehlt es sich, das Buch – wie üblich – von vorne nach hinten zu lesen. Für diejenigen aber, die sich vornehmlich für das neue Konzept einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie nach Utech interessieren, ist es auch möglich und sogar ratsam, mit dem dritten Kapitel zu beginnen. Bei Vertiefungsbedarf lassen sich mithilfe der zahlreichen Querverweise weitere in den ersten Kapiteln stehende, näher erläuternde Textpassagen leicht finden. Für das rasche Springen zwischen wichtigen Themen existiert außerdem ein Sachverzeichnis, was das pointierte und strukturierte Arbeiten mit dem Buch maßgeblich fördert.

Eine sehr lesenswerte Lektüre sowohl für Lernende als auch für (erfahrene) Praktiker, die bereit sind, sich einer zentralen Aufgabe der Philosophie zu stellen, die darin besteht, alltagsrelevantes Tun zu analysieren und zu reflektieren, denn: „Das Tun des Arztes“ - und (ich ergänze) des Bewegungs-, Ergo-, Physio-, Psychotherapeuten - „ist konkrete Philosophie.“ (Schipperges 1987).

Hendrik Fenner
Dipl.Psych. Hendrik Fenner
Hauptstraße 9
35649 Bischoffen
hfenner@gmx.net



Publication History

Article published online:
01 October 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany