Aktuelle Rheumatologie 2022; 47(06): 473-476
DOI: 10.1055/a-1634-1809
Medizin & Management

Spiritual Care

Was ist wichtig, gibt Kraft und lässt die Augen leuchten?
Jutta von Campenhausen
 

Die junge Disziplin widmet sich den Seelenkräften, die Heilung und Durchhaltewillen, Coping und Resilienz vermitteln. Das Wissen darum lässt sich vergleichsweise leicht in den Klinikalltag einbauen und verbessert oft die Atmosphäre für alle Beteiligten.


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Arndt Brüssing hält eine Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten-Herdecke. Dort erforscht er die komplexen Zusammenhänge, die zur Genesung beitragen und untersucht die Strategien, die Chronikern helfen, mit ihrer Krankheit zu leben. So befragte er 798 Menschen mit chronischen Krankheiten, ob und inwiefern ihre Spiritualität oder Religiosität (SpR) ihnen im Umgang mit ihrer Erkrankung hilft. Ergebnis:

  • 61% sagen, SpR hilft zu einem bewussten Umgang mit dem Leben

  • 58% finden dadurch eine tiefere Beziehung zu Umwelt und Mitmenschen

  • 63% finden damit Zufriedenheit und inneren Frieden

  • 54% innere Kraft

  • 52% können damit besser mit der Krankheit umgehen

  • 42% hilft SpR die geistige und/oder körperliche Gesundheit wieder zu erlangen [1].

Spiritual Care: Nicht nur Aufgabe der Klinikseelsorger

Gäbe es SpR als Tablette, wäre es ein Blockbuster. Längst kümmern sich nicht nur die Klinikseelsorger um das seelische Wohlergehen der Patienten; die junge Disziplin Spiritual Care, die sich im Rahmen der Hospizbewegung aus der Palliative Care entwickelt hat, nimmt sich der Verfasstheit der Patienten an.

Was aber heißt „Spiritual Care“? Die Arbeitsdefinition von Spiritualität der European Association for Palliative Care (EAPC) lautet: „Spiritualität ist die dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, ausdrücken und/oder suchen, und wie sie in Verbindung stehen mit dem Moment, dem eigenen Selbst, mit Anderen/m, mit der Natur, mit dem Signifikanten und/oder dem Heiligen“.

Kurz: Spiritual Care beschäftigt sich mit dem, was einem Menschen wichtig ist, was ihm am Herzen liegt und seine Augen leuchten lässt. Es sind die Dinge, die Menschen Halt geben und Kräfte mobilisieren. Das mag manchem esoterisch erscheinen, doch das Fachgebiet ist längst eine ernstzunehmende Disziplin, die allen in Gesundheitsberufen wertvolle Impulse gibt. Eine Fachzeitschrift gleichen Namens veröffentlicht begutachtete Forschungsergebnisse und Expertenmeinungen. Es gibt Lehrstühle für Spiritual Care, und viele – oft kirchliche – Stellen bieten Fortbildungen dafür an.

Dabei muss Spiritualität nicht zwingend mit Religion einhergehen. Nach der Definition oben ist jeder Mensch spirituell, und jeder hat damit auch spirituelle Ressourcen – sei es die Verbundenheit mit der Natur, die Beheimatung im Freundeskreis oder das Bewusstsein fürs Selbst. Der Philosoph und Psychologe Michel Foucault sprach, bevor er an AIDS starb, von Spiritualität als Selbstsorge des mündigen Subjekts.

Und was geht das Ärztinnen und Ärzte an? Sie sind dafür verantwortlich, dass der Mensch, den sie als Patienten vor sich haben, in seiner Gänze angesehen wird, und dazu gehört auch seine Spiritualität. Das ist keine Zeitverschwendung und keine Kür, sondern hat messbare medizinische Effekte.


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Seelischer Halt sorgt für Resilienz

Was immer einem Menschen seelisch Halt gibt, sorgt auch für Resilienz – und zwar nicht nur beim Patienten selbst, sondern auch beim medizinischen Team, das ihn versorgt. Spiritualität ist eine Kraftquelle, es braucht keine Einführung in die Placebo- und Noceboforschung, um sich klarzumachen, dass die Erdung, die Verbindung eines Menschen zu seiner Kraftquelle ihn so stärken kann, dass er schneller gesund wird oder sich besser mit seinem Schicksal arrangiert.

Ob jemand gestärkt aus einer Krise geht oder daran zerbricht, ob er neue Kräfte mobilisieren kann und kämpft oder die Lebenslust verliert und zusammenbricht, hängt nicht von der medizinischen, sondern von der spirituellen Versorgung ab.

Jeder Arzt kennt Fälle, in denen ein Mensch sich aufgibt und schneller verfällt als erwartet oder wo Menschen aus verborgenen Quellen Kraft schöpfen und schweren Situationen besser oder länger standhalten als erwartet – unabhängig von ärztlicher Kunst.

Während die Psychologie zumeist noch defizitorientiert arbeitet, kümmert sich Spiritual Care ausschließlich um Stärken. Der Geist kann auch in großem Leid beeindruckende Kräfte freisetzen und ist essenziell fürs „coping“ – den Umgang und das Aushalten von Leid. Deshalb lohnt es sich auch für Mediziner herauszufinden, was ihren Patienten stärken, auftanken und seelisch schützen kann.

Gerade in der Klinik ist der Anfang denkbar einfach: Achten Sie darauf, was ein Mensch mitbringt, was er sich auf den Nachttisch stellt. Dieser kleine Bereich relativer Privatheit verrät in der Regel etwas über seinen Besitzer. Steht dort eine Blume aus dem eigenen Garten, ein Foto der Enkelkinder, liegt dort ein Buch oder eine Engelsfigur?

Darauf können Sie den Patienten ansprechen: „Was ist das für ein Foto? Was lesen Sie gerade?“

Wenn es keine physischen Anknüpfungspunkte gibt, fragen Sie nach den Kraftquellen: „Woraus schöpfen Sie Kraft? Was hat Ihnen bisher geholfen durchzuhalten?“ Die Antwort ist auch gleich ein Anknüpfungspunkt, sei es: Musik hören, mein Hund, Tage zählen zum nächsten Urlaub, Aufgehoben sein in der Familie, Spazieren gehen, im Garten arbeiten, Singen oder Beten.


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Was seelsorgerische Gespräche bewirken können

Natürlich sind seelsorgerliche Gespräche nicht Aufgabe der Ärzteschaft, sondern der Seelsorger. Die sollten Sie einschalten, wann immer Sie können, denn vielen gerade schwer kranken Patienten fehlt der Mut, die Kraft oder auch einfach der Impuls, selbst die Initiative zu ergreifen. Am Ende geht die seelische Verfasstheit der Patienten das ganze medizinische Team an, und wenn es gut läuft, profitieren auch alle von einer guten spirituellen Versorgung.

Beispiel: Im UKE liegt ein 40-jähriger Mann mit austherapiertem Weichteilsarkom. Der sozialpsychiatrische Dienst hat ihn aus seiner Wohnung geholt und in die Klinik fahren lassen. Mutter und Schwester sind angereist, wissen aber nichts zu tun. Der Patient wirkt vernachlässigt, er ist wortkarg und teilnahmslos. Der Mutter zufolge arbeitete er als Fahrradkurier. Doch dann verlor er wegen des Weichteilsarkoms ein Bein und saß fortan in einem schlecht angepassten Rollstuhl zu Hause und vernachlässigte sich. Die Situation ist für alle trostlos; und es scheint auf ein beklemmendes Warten auf den Tod hinauszulaufen.

Schließlich fragt eine Klinikseelsorgerin den teilnahmslosen Patienten: „Was ist für Sie jetzt die schlimmste Vorstellung?“ Der Mann antwortet: „Dass meine Plattensammlung auf dem Flohmarkt verramscht wird“. Seine Mutter bestätigt, dass die Musik, die er früher mit Freunden in Clubs hörte, für ihn eine wichtige Rolle spielte. „Das einzige, was er in seinem ganzen Leben geordnet hat, waren seine CDs“.

Diese Erkenntnis kommt an einem Freitag. Die Klinikseelsorgerin entwickelt einen Plan. Die Schwester des Patienten nimmt sich das Handy des Sterbenden und verschickt Kurznachrichten an seine Freunde, sie dürften sich in der Klinik Musik-CDs aussuchen. Dann fährt sie in die Wohnung des Patienten und packt hunderte CDs in Kartons. Die folgenden 2 Tage lang läuft im Zimmer des Kranken Musik, ständig kommen und gehen Menschen. Lang verschollene Bekannte sitzen da, hören zu, verabschieden sich von ihrem Freund und ziehen mit Musik im Gepäck davon. Auch Mutter und Schwester sitzen jetzt stundenlang im Zimmer, in dem jemand eine Diskokugel aufgehängt hat. Die lähmende Trostlosigkeit ist einer friedlichen, zauberhaften Stimmung gewichen. Als der Mann am Montag stirbt, ist seine Plattensammlung in guten Händen und dient als Erinnerung an jemanden, der sich fast selbst vergessen hatte.


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Spiritual Care als wichtiger Aspekt guter Versorgung im Krankenhaus

Dass Spiritual Care ein wichtiger Aspekt guter Versorgung im Krankenhaus ist, zeigt sich nicht nur, wenn jemand stirbt. Wann immer Ängste zu bewältigen sind, wenn der Verlust von Fähigkeiten, Körperfunktionen oder Autonomie droht oder zu verarbeiten ist, wenn Einsamkeit bedrückend ist oder Sorgen quälen, dann ist Seelsorge eine medizinische Pflicht. Es ist schön, wenn Sie an gute Seelsorger delegieren können, aber auch Sie selbst können mit klugen Fragen etwas für die Seele Ihrer Patienten tun – und für sich selbst.

Dass man von Patienten viel über Coping und Kraftquellen lernen kann, beschreibt Arthur Kleinman. Der amerikanische klinische Psychiater studierte Anthropologie, weil ihn Leiden und Heilen im Krankenhaus sowie der Umgang mit Kranken und mit Krankheit so faszinierten. In seinem Buch beschreibt er ein Schlüsselerlebnis aus seiner Ausbildung.

Als Famulant hatte Kleinman die Aufgabe, die unverletzte Hand eines 7-jährigen Mädchens zu halten, das schwere Verbrennungen hatte. Täglich wurden ihm in einer Badewanne die verbrannte Haut von den Wunden gezupft. Das war schmerzhaft, und das Kind wehrte sich mit allen Kräften.

Tagelang versuchte Kleinman vergebens, das Mädchen zu beruhigen und zur der Einsicht zu bringen, dass Stillhalten die qualvolle Prozedur verkürzen könnte. Resigniert und mürbe fragte der Student schließlich: „Wie hältst Du das nur aus? Diese Schmerzen und dann noch diesen furchtbaren Kampf?“ Das Kind – so berichtet Kleinman – habe innegehalten, nachgedacht und ihm erzählt, was es erlebt. Von dem Tag an vollzog sich das leidvolle Ritual kampflos. Kleinman schreibt: „[Das Mädchen]… hat mir eine entscheidende Lektion erteilt: Dass es möglich ist, mit Patienten über ihre Erfahrung mit der Krankheit zu reden, selbst mit den verzweifeltsten. Und dass das Zuhören und damit sortieren Helfen dieser Erfahrung einen therapeutischen Wert hat“ [2].

Dieser therapeutische Wert hat viele Gesichter. Kraftquellen können helfen den Verlust von Körperfunktionen und Fähigkeiten anzunehmen, Pläne loszulassen, Leid anzunehmen und Therapien anzupacken. Selbst formulieren zu müssen, was einen ängstigt, plagt und einem Hilft, ist dabei ein wichtiger Schritt. Es braucht keine Fortbildung in Spiritual Care, um sich anzugewöhnen, danach zu fragen, was einen Patienten stärkt, worum er sich sorgt und was ihm hilft. Das kann beim Reden während des Verbandswechsels sein, bei der Visite oder während einer Untersuchung.


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Auch das medizinische Team profitiert

Und wie immer profitiert auch das medizinische Team, wenn die spirituelle Seite nicht ausgeblendet, sondern wertgeschätzt und kultiviert wird. Das berechtigte Gefühl, jemanden rundum gut zu versorgen, ist auch für alle diejenigen befriedigender, die daran mitarbeiten, weil es weniger belastend ist. Das zeigt das Beispiel mit dem Sterbenden und seinen CDs.

Und schließlich müssen auch Ärztinnen und Ärzte irgendwie und irgendwo auftanken. Wer kein Stück Holz ist, braucht dafür nicht nur Schlaf und Essen, sondern seelische Kraft – Spiritualität eben. Auch bei Medizinprofis sind Fragen der Weg zur Kraftquelle: „Was ist das schlimmste? Was gibt Ihnen Kraft? Was macht Ihnen Sorgen? Wie stehen Sie das durch?“

Ob Teambesprechungen, Supervisionen oder Debriefing-Runden – jede strukturierte Form, Erfahrungen und Emotionen zu teilen, unterstützt die Resilienz der Ärztinnen und Ärzte. Schon die Tatsache hilft, dass man seine Gefühle angesichts des Erlebten in Worte fassen und erfahren darf, dass man nicht allein ist mit Trauer, Enttäuschung, Versagensangst, Wut oder Leere.


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Zitierweise für diesen Artikel

klinikarzt 2020; 49: 442–444


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  • Literatur

  • 1 Büssing A, Harold G, Koenig HG. The Benefit through spirituality/religiosity scale – A 6-item measure for use in health outcome studies. Int J Psychiatry Med 2008; 38: 493-506
  • 2 Kleinman A. The Illness Narratives. Basic Books; 1988

Autorinnen/Autoren

Dr. Jutta von Campenhausen
Universitätsklinikum Hamburg – Eppendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Martinistr. 52
Gebäude N 30 b
20246 Hamburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
01 December 2022

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Büssing A, Harold G, Koenig HG. The Benefit through spirituality/religiosity scale – A 6-item measure for use in health outcome studies. Int J Psychiatry Med 2008; 38: 493-506
  • 2 Kleinman A. The Illness Narratives. Basic Books; 1988