Nervenheilkunde 2022; 41(01/02): 8-18
DOI: 10.1055/a-1650-1998
Editorial

Corona-Depression, Eco-Angst, Stress, Resignation und Resilienz

Manfred Spitzer
 

Bereits vor der Corona-Pandemie gehörten seelische Störungen weltweit zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt, wobei Ängste und Depressionen wiederum den Hauptteil davon ausmachten. Dies hatte nicht zuletzt die im Fachblatt Lancet publizierte Studie „Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk Factors Study (GBD)“ aus dem Jahr 2019 gezeigt [20], [21]. Die zusätzlichen Auswirkungen der seit dem Frühjahr 2020 in mehreren Wellen verlaufenden Corona-Pandemie lassen sich daher recht gut erfassen, denn man hat Vergleichsdaten aus dem Jahr unmittelbar davor. Hierbei sind nicht nur die direkten Auswirkungen der Krankheit COVID-19 (und der Angst, daran zu erkranken) zu berücksichtigen, sondern auch die indirekten Effekte der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens: Körperlicher Abstand und soziale Einschränkungen, Schul- und Geschäftsschließungen, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und drohender oder tatsächlicher Verlust des Lebensunterhalts oder gar der Existenzgrundlage. Die Weltbevölkerung erlebt seit fast 2 Jahren einen kaum je dagewesenen völligen Kontrollverlust gegenüber einem kleinen Viruspartikel. War noch im Frühjahr/Frühsommer 2021 ein Rückgang der Sorgen und Ängste zu verzeichnen, so machte die neue ansteckendere Variante des Virus dem ein rasches Ende. Bekanntermaßen führt Unsicherheit bei Menschen zu Stress, insbesondere dann, wenn sie Sicherheit gewohnt sind. Dies kann bekanntermaßen die psychische Gesundheit von Menschen erheblich beeinträchtigen und längerfristig zu „gelernter Hilflosigkeit“ führen, einer der wesentlichen psychologischen Ursachen von Angst, Stress und vor allem Depressionen. Hinzu kommt das immer stärkere Gewahr- und Bewusstwerden der Folgen des Klimawandels in breiten Schichten der Bevölkerung: Diese zweite Krise, viel größer als Corona, ist in den Köpfen der Menschen angekommen. Was macht das Erleben zweier Krisen mit uns? – Seit dem Beginn der Corona-Pandemie wird über deren Auswirkungen in der medizinischen Fachliteratur berichtet. Hinzu kamen dieses Jahr Berichte und Arbeiten zu Eco-Angst und zu den längerfristigen Auswirkungen des Durchlebens der mit beiden Krisen einhergehenden negativen Gefühle. Was also weiß man darüber?

Corona, Depression, Trauer und Angst

Nach der ersten Corona-Welle wurde im Sommer 2020 eine Zunahme von Depressionen und Angststörungen bei jungen Frauen in Studien beschrieben, sowohl in Deutschland [17] als auch in Großbritannien [4]. Interessant ist, dass bereits damals die psychologischen Folgen der Pandemie deutlich im Bewusstsein vor allem junger Menschen präsent war: Wie wäre es sonst zum Jugendwort des Jahres 2020 – „lost“ (Englisch für „verloren“) gekommen [1]?[ 1 ] Tatsächlich hatten die beiden genannten Studien gezeigt, dass jüngere Menschen stärker betroffen waren als ältere und Frauen stärker als Männer. Bereits im Mai 2021 publizierte die britische Resolution Foundation ihren Bericht „Double Trouble“, als Auftakt zu ihrem neuen 3-jährigen Projekt mit dem bezeichnenden Titel „Young People in an Insecure World“ ([ Abb. 1 ]). Aufgrund der Corona-Pandemie ist die Beschäftigung vor allem junger Menschen eingebrochen. Im Januar 2021 waren 19 % der 18- bis 24-Jährigen, die vor der Pandemie erwerbstätig waren, nicht mehr erwerbstätig, verglichen mit 4 % der 25- bis 54-Jährigen, wie das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage an 6389 britischen Erwachsenen im Alter von 18 bis 65 Jahren zeigte. Junge Menschen hatten während der Pandemie 2 Probleme: Sie erlebten die größten Beschäftigungseinbußen und den stärksten Anstieg der psychischen Erkrankungen aller Altersgruppen [33]. In dem Bericht wird zunächst festgestellt, dass die psychische Gesundheit junger Menschen schon vor der Corona-Pandemie ein großes Problem darstellte. Waren die 18- bis 24-Jährigen im Jahr 2000 noch die am wenigsten durch häufige psychische Störungen wie Angst und Depressionen gefährdete Altersgruppe, waren sie im Jahr 2019 mit 30 % bereits die am stärksten gefährdete Altersgruppe. Die COVID-19-Pandemie hat diese Krise noch verschärft: Mehr als jeder dritte Mensch unter 45 Jahren gab an, im Januar 2021 an einer psychischen Störung zu leiden, wobei die höchste Inzidenz (40 %) bei den 18- bis 21-Jährigen zu verzeichnen war.

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Abb. 1 Titelblatt der britischen Studie zu Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen [34]; Quelle: © Resolution Foundation, London

Der Bericht zeigt zudem den Zusammenhang von Beschäftigungsrückgang und deutlicher Verschlechterung der psychischen Gesundheit junger Menschen: Mehr als ein Drittel (36 %) der 18- bis 35-Jährigen, die während der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren hatten, stuften ihre psychische Gesundheit als „schlecht“ ein. Bei denjenigen, die keinen Arbeitsplatzwechsel erlebt hatten oder beurlaubt worden waren, lag der Wert bei 28 %. Auch junge Arbeitnehmer mit unsicheren Arbeitsverträgen (Leiharbeit, Zeitarbeit) berichteten im Januar 2021 deutlich häufiger über psychische Probleme als Arbeitnehmer mit sicheren Arbeitsverträgen (37 % gegenüber 30 %) [34]. Da der Anteil junger Menschen mit unsicheren Arbeitsverträgen zwischen 2000 und 2019 um 66 % gestiegen ist, erscheint dieses Ergebnis besonders besorgniserregend. Bereits nach der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 war bei Menschen mit psychischen Problemen die Wahrscheinlichkeit, 5 Jahre später arbeitslos zu sein, vergleichsweise um 75 % höher. Die Autoren leiten daraus die Gefahr ab, dass die Verschlechterung der psychischen Gesundheit junger Menschen die Pandemie überdauern und deren Zukunftsaussichten verschlechtern könnte. Man weiß schon lange, dass ein qualitativ hochwertiger Arbeitsplatz wesentlich dazu beiträgt, dass junge Menschen ein gesundes, unabhängiges Leben führen und Widerstandsfähigkeit für Belastungen (Kinder!) entwickeln. Umgekehrt wirkt sich Arbeitslosigkeit negativ auf die psychische Gesundheit aus und trägt zu Instabilität, erlebter Sinnlosigkeit und geringem Selbstwertgefühl bei.

Weltweit am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen sind die USA. Mehr als 45 Millionen Menschen haben sich dort mit SARS-CoV-2 infiziert und mehr als eine Dreiviertelmillion Menschen sind an COVID-19 verstorbenen (Stand: 5.11.2021). Das Land ist daher mit einem Ausmaß an Trauer konfrontiert, das in seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung seinesgleichen sucht: Etwa 72 % der Amerikaner kennen jemanden, der wegen COVID-19 im Krankenhaus lag oder daran gestorben ist. Laut einer Studie betrifft jeder Todesfall im Durchschnitt 9 Personen. Das bedeutet, dass fast 7 Millionen US-Amerikaner direkt vom Verlust eines geliebten Menschen betroffen sind [6]. Als Folge dürfte die Häufigkeit von anhaltender Trauer (die tiefgreifend ist und das Funktionieren einer Person im Alltag beeinträchtigt) deutlich ansteigen [22]. Erste empirische Daten hierzu liegen aus China bereits vor und zeigen, dass die anhaltende Trauer über einen verstorbenen Angehörigen 3- bis 5-fach häufiger ist, wenn der Angehörige an COVID-19 gestorben ist [39]. In der Corona-Pandemie gibt es also mehr Trauerfälle und zugleich dauert die Trauer länger. „Es ist schwer, sich auf eine neue Normalität einzustellen, wenn diese neue Normalität sich dauernd ändert“, lautet der Untertitel eines Essays aus dem Magazin Atlantic vom 2.11.2021 [30]. Die Autorin bezieht sich auf eine landesweite, repräsentative Umfrage an 3616 Amerikanern im Alter von über 18 Jahren im Auftrag des National Public Radio (NPR), der Robert Wood Johnson Stiftung und der Harvard T. H. Chan School of Public Health (Interviews zwischen dem 2. August und dem 7. September 2021 in den Sprachen Englisch, Spanisch, Mandarin, Kantonesisch, Koreanisch und Vietnamesisch). So berichten laut der Umfrage 38 % der US-Haushalte, dass sie in den letzten Monaten ernsthafte finanzielle Probleme hatten. Unter den Haushalten von Minderheiten (Latinos, Schwarze und amerikanische Ureinwohner) hatten mehr als 50 % ernsthafte finanzielle Probleme, während dies nur bei 29 % der Haushalte der weißen Bevölkerung der Fall war. Diese Ungleichheit spiegelt sich auch in vielen anderen Umfrageergebnissen wider: Die Minderheiten tragen einen unverhältnismäßig großen Anteil an den sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie [28].

Wie auf der ganzen Welt, so tragen auch in den USA die Schüler eine erhebliche Last der Pandemie: 36 % der Haushalte geben an, dass ihre Kinder erheblich in der Schule zurückgefallen sind und weitere 33 % sagen, dass die Kinder etwas zurückgefallen sind. Lediglich 31 % der Haushalte gaben an, dass die Kinder durch Corona keine Bildungseinbußen erlitten haben. Ferner zeigte sich, dass nahezu ein Fünftel (19 %) der US-amerikanischen Haushalte während der Pandemie ihre gesamten Ersparnisse verloren haben, was weitere Probleme nach sich zog: Als das von den Centers for Disease Control and Prevention verhängte Räumungsverbot Ende August auslief, berichteten landesweit 27 % der Mieter über ernsthafte Probleme bei der Bezahlung ihrer Miete in den letzten Monaten. Die Umfrage untersuchte die 4 größten Städte der USA und ergab, dass die Mietkrise in Houston mit Abstand am schlimmsten war: 53 % der Mieter in Houston berichteten über Probleme bei der Mietzahlung, gefolgt von 41 % in Chicago, 35 % in Los Angeles und 32 % in New York [28]. Besonders bemerkenswert sind Daten zur psychischen Gesundheit: Die Hälfte der Befragten gab an, dass jemand im Haushalt ernsthafte Probleme mit Depressionen, Angstzuständen, dem Ein- und Durchschlafen oder Stress hat [29]. Zudem wurde ein deutlicher Anstieg des Interesses an Selbsthilfebüchern über Trauma und Angst verzeichnet [11]. Menschen, die an COVID-19 erkrankte Angehörige pflegen, sind im Vergleich zu nicht pflegenden Angehörigen sehr deutlich stärker von psychischen Störungen (mit 33,4 % versus 3,7 % 9-fach erhöhte Suizidalität; p < 0,0001) [14] betroffen.

Die Beschreibung der Corona-bedingten Situation in den USA dürfte weltweit Gültigkeit haben, wie eine am 8. Oktober 2021 online im Fachblatt Lancet publizierte Studie zeigt. In ihr wurden Daten aus einer Reihe von Studien zur Prävalenz von Angststörungen und Depressionen aufgrund der Corona-Pandemie vom 1. Januar 2020 bis zum 29. Januar 2021 ausgewertet und mit den Daten des Jahres zuvor verglichen [32], [40]. Zusätzliche unabhängige Variablen (die entweder täglich oder mindestens wöchentlich erfasst wurden), waren das Infektionsgeschehen (Infektionsrate und Übersterblichkeit) sowie Daten zur (eingeschränkten) Mobilität der Menschen (aus der Nutzung von Mobilfunk und sozialen Medien). Von den zunächst 5683 Datenquellen blieben nach dem Screening-Prozess 46 für Depressionen und 27 für Angststörungen übrig, die sich auf 204 Länder und Territorien der Welt bezogen. Weitere 11 (Depression) bzw. 7 (Angst) Studien wurden zur Ermittlung der Baseline (2019) herangezogen. Der globale Anstieg bei den Depressionen um 53,2 Millionen Fälle entspricht 27,6 % ([ Tab. 1 ]). Bei Frauen war der Anstieg der Prävalenz einer schweren depressiven Störung mit 35,5 Millionen zusätzlichen Fällen (entspricht 912,5 pro 100 000 Einwohner) bzw. 29,8 % höher als bei Männern mit 17,7 Millionen zusätzlichen Fällen (entspricht 453,6 pro 100 000 Einwohner) bzw. 24,0 % Anstieg. Als weiteres Maß für die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf seelische Erkrankungen wurden die Disability-Adjusted Life-Years (DALYs) berechnet, also die durch Behinderung und Tod verlorenen Lebensjahre. Deren Anzahl belief sich weltweit auf 10,7 Millionen Lebensjahre – 7,07 Millionen bei Frauen und 3,62 Millionen bei Männern ([ Abb. 2 ]).

Tab. 1

Globale Prävalenz von Depressionen und Angststörungen vor und während der Corona-Pandemie in 204 Ländern und Territorien (nach Daten aus [32]); DALYs = Disability-Adjusted Life-Years.

Vor Corona

Während Corona

Differenz, d. h. neue Fälle

Anstieg in %

Depression

Globale Prävalenz

Fälle/100000 Einwohner

2470,5

3152,9

682,4

Globale Prävalenz

Fälle

193 Millionen

246 Millionen

53,2 Millionen

27,6

DALYs/100000

497,0

634,1

137,1

DALYs

38,7 Millionen

49,4 Millionen

10,7 Millionen

Angststörungen

Globale Prävalenz

Fälle/100000 Einwohner

3824,9

4802,4

977,5

Globale Prävalenz

Fälle

298 Millionen

374 Millionen

76,2 Millionen

25,6

DALYs/100000

454,8

570,9

116,1

DALYs

35,5 Millionen

44,5 Millionen

9 Millionen

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Abb. 2 Depressionen (oben) und Angststörungen (unten) bei Frauen (links) und Männern (rechts) während der Pandemie im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 29.1.2021 (rote Kurven mit orange schattierter Variabilität) im Vergleich zum Jahr 2019 vor der Pandemie (blau) in Abhängigkeit vom Alter. Man sieht sehr deutlich das Überwiegen von Frauen und jüngeren Menschen (nach Daten aus [32]).

Die Zahl der Angststörungen stieg global um 76,2 Millionen Fälle oder 25,6 % (Tab. 1). Bei Frauen betrug dieser Anstieg 51,8 Millionen Fälle (1332,1 pro 100 000 Frauen) bzw. 27,9 %. Bei Männern betrug der Anstieg 24,4 Millionen zusätzliche Fälle (entspricht 625,0 pro 100 000 Männer) bzw. 21,7 %. Umgerechnet in DALYS waren dies 9 Millionen Lebensjahre. Insgesamt hat die Corona-Pandemie damit in den 13 Monaten ab dem 1.1.2020 knapp 20 Millionen durch Behinderung und Tod verlorene Lebensjahre mehr verursacht. Es fand sich zudem ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der beiden ohnehin sehr häufigen psychischen Störungen und 2 der 5 zusätzlich gemessenen unabhängigen Variablen zur Pandemie: Mobilität und Infektionsrate. Während der Corona-Pandemie war die Mobilität (durch Lockdown-Maßnahmen) eingeschränkt, was mit (b = 0,9) signifikanten (p = 0,029) Zunahmen der Prävalenz von depressiven Störungen (Major Depression) und von Angststörungen (B = 0,9; p = 0,022) einher ging. Die Infektionsrate zeigte diesen Effekt in noch deutlich stärkerem Maße und ging mit einer deutlich erhöhten Prävalenz von Depressionen (b = 18,1; p = 0,0005) und von Angststörungen (b = 13,8; p < 0,0001) einher. Die Übersterblichkeit zeigte bei Kontrolle der beiden genannten Variablen hingegen keinen Effekt.

„In dieser Studie haben wir einen erheblichen Anstieg der Prävalenz und Belastung durch schwere depressive Störungen und Angststörungen als Folge der COVID-19-Pandemie festgestellt. Unseres Wissens ist dies die erste Studie, die Erhebungsdaten zur psychischen Gesundheit der Bevölkerung und die sich daraus ergebenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Prävalenz dieser beiden Störungen [weltweit] nach Ort, Alter und Geschlecht im Jahr 2020 systematisch untersuchte“, kommentieren die Autoren ihre Ergebnisse [32]. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass der Anstieg beider psychischen Störungen von der Schwere der Pandemie (Infektionsgeschehen) und in geringerem Ausmaß von den Lockdown-Maßnahmen (Mobilitätseinschränkungen) abhing.

Halten wir fest: Depressionen und Angststörungen haben durch die Corona-Pandemie um etwa ein Viertel zugenommen. Das mag sich wenig anhören, bedenkt man jedoch, dass beide Störungsbilder zu den häufigsten Krankheiten überhaupt gehören, dann wird das Ausmaß der Beeinträchtigung auf der Ebene von Gesellschaft bzw. Bevölkerung deutlich: Denn wenn eine Krankheit, die sehr häufig ist, um ein Viertel zunimmt, dann geht es um sehr viele kranke Menschen. Die berechneten weltweit etwa 20 Millionen durch COVID-19 zusätzlich verlorenen (behinderungsadjustierten) Lebensjahre sind wahrhaftig nicht Nichts.[ 2 ]


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Klima- und Eco-Angst

Neben der Corona-Pandemie hat derzeit der Klima-Wandel große Auswirkungen auf das Befinden der Menschen weltweit. Schon immer hatten die Menschen Angst vor der Zukunft. Fürchtete man früher jedoch eher mögliche Kriege, Naturkatastrophen oder Hungersnöte – es gab das alles oft genug, um ein kollektives Bewusstsein davon zu schaffen und zu erhalten –, so fokussiert sich diese Angst heute auf eine drohende Wirklichkeit, die zudem in ihren Vorboten schon erlebbar wird: den Klimawandel [12]. Der stellt ja zunächst einmal tatsächlich eine große Bedrohung für das Weiterbestehen der Menschheit dar. Unsere körperliche Gesundheit ist durch Atemwegserkrankungen aufgrund von Luftverschmutzung und durch – teilweise neue – Infektionskrankheiten durch vermehrten Kontakt mit der von uns zurückgedrängten Tierwelt gefährdet. Hinzu kommt die Zunahme von Naturkatastrophen als Auswirkungen des Klimawandels, die unsere Gesundheit unmittelbar bedrohen: Der Tod durch Hitzewellen, Wirbelstürme, Überflutungen, Dürreperioden und Waldbrände ist, nicht zuletzt medial, allgegenwärtig. Daher führt der Klimawandel indirekt auch zu psychischen Auswirkungen, wie beispielsweise zu einem Anstieg von Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischem Stress, um nur 3 sehr bekannte Beispiele zu nennen [9]. Langfristig sind zudem die Bedrohung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und -sicherheit und die Beeinträchtigungen der fötalen und kindlichen Entwicklung durch all diese Effekte zu nennen ([ Abb. 3 ]).[ 3 ]

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Abb. 3 Cover der von der NGO ecoAmerica und der APA gemeinsam herausgegebenen Berichte zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die seelische Gesundheit der Menschen [7], [9]). Mit 51, 70 bzw. 88 Seiten wurden die Berichte nicht nur immer umfangreicher, auch ihr Detailreichtum nahm deutlich zu. Quelle: ©EcoAmerica, San Francisco

Eine Studie zu den langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie oder der Klima-Angst kann es erst in einigen Jahrzehnten geben, weswegen sich ein Blick auf die Ergebnisse anderer Studien lohnt. Eine sehr große und zugleich methodisch sehr aufwändige Studie zu den langfristigen gesundheitlichen und sozioökonomischen Folgen des in Kindheit und Jugend erlebten zweiten Weltkriegs wurde im Jahr 2014 publiziert [26]. Mit seinen allein in Europa 39 Millionen Toten war dieser Krieg das prägendste Ereignis des letzten Jahrhunderts, das für Millionen von Menschen Hunger, Kälte, Vertreibung, Enteignung sowie schwere körperliche und seelische Traumatisierung bedeutete. Daten zu 21266 Personen aus 13 Ländern (Dänemark, Schweden, Österreich, Frankreich, Deutschland, Schweiz, Belgien, Holland, Spanien, Italien, Griechenland, Tschechien und Polen) wurden hierzu in den Jahren 2004 bis 2009 in 3 Wellen erhoben.[ 4 ] Von den Teilnehmern verbrachten 9855 Personen während des Krieges Zeit in einem Land, in dem Krieg herrschte, wohingegen 11411 der untersuchten Personen diese Zeit in einem Land verbrachten, in dem kein Krieg herrschte. Hierdurch, sowie durch genaue Erhebung der Erlebnisse der Menschen wurde es möglich, den Folgen des Erlebens von Krieg recht genau nachzugehen. So waren beispielsweise die Nahrungsmittelknappheit und der Hunger während des Krieges in den Kriegsländern viel gravierender als in den Ländern, die nicht am Krieg beteiligt waren.

Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass Kriegserlebnisse die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Diabetes, Depressionen und Herzkrankheiten zu leiden. Wer in jungen Jahren den Krieg erlebt hat, als Zivilist oder gar bei Kampfhandlungen, hat als Erwachsener einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand. Kriegserlebnisse sind zudem mit geringerer Bildung und Lebenszufriedenheit assoziiert sowie bei Frauen mit einer verminderten Wahrscheinlichkeit, verheiratet zu sein (bei Männern ist diese Wahrscheinlichkeit erhöht). Diese Auswirkungen des Krieges sind verursacht durch Hunger, Enteignung, Verfolgung und die Abwesenheit bzw. den Verlust von Vätern. Das Ausmaß der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs erwies sich als abhängig von der sozialen Schicht: Die schwersten Auswirkungen betrafen die Mittelschicht, gefolgt von der Unterschicht. Studien zu den (kurz- bis mittelfristigen) psychischen Auswirkungen des Klimawandels gibt es erst seit wenigen Jahren [37]. Mittlerweile wird jedoch immer deutlicher, dass die Klimakrise vor allem bei jungen Menschen neue psychische Leiden wie Klima-Angst verursachen bzw. bestehende psychische Erkrankungen verschlimmern kann.

Zu den Symptomen der Klima-Angst gehören Panikattacken, Schlaflosigkeit und zwanghaftes Denken an die verschiedensten Bedrohungen durch den Klimawandel. Gefühle der Klimabeklemmung verstärken andere alltägliche Stressfaktoren und wirken sich negativ auf die allgemeine psychische Gesundheit aus, was sich nicht nur in einer Zunahme von Angststörungen und Depressionen ausdrückt, sondern beispielsweise auch zu stressbedingten Problemen wie Substanzkonsum (Alkohol, Cannabis und andere größtenteils illegale ZNS-aktive Substanden). Daten zur Prävalenz dieser Störungen, von Klimabeklemmung über Angst und Depression (einschließlich Suizidalität) bis zur Sucht, waren jedoch bislang noch schwer zu finden. Jüngst wurden hierzu jedoch die Ergebnisse einer Umfrage an 10 000 Personen im Alter von 16 bis 25 Jahren aus 10 Ländern (Australien, Brasilien, Frankreich, Finnland, Indien, Nigeria, den Philippinen, Portugal, Großbritannien und den USA) vorab publiziert [23], [29], die aus meiner Sicht Grund zu großer Besorgnis sein sollten: Das Aufwachsen in der sich immer deutlicher abzeichnenden Realität der Klimakrise beeinträchtigt die seelische Gesundheit junger Menschen: Volle 75 % der befragten jungen Menschen haben Angst vor der Zukunft, 59 % davon sind „sehr“ oder „äußerst“ besorgt. Über 50 % fühlen sich traurig, ängstlich, wütend, machtlos, hilflos oder gar schuldig, und 45 % geben an, dass sich die Sorge um das Klima negativ auf ihren Alltag auswirkt. Nach Angaben der Autoren stellt diese Studie die bisher größte Untersuchung zur Klima-Angst dar. Aus den angeführten Studien von Clayton und Mitarbeitern ergibt sich passend zu diesen Daten, dass sich der Anteil der jungen US-Amerikaner, die sich vom Klimawandel massiv beeinträchtigt fühlen, von 2017 bis 2021 verdoppelt hat [8], [9]. Man spricht in der internationalen medizinischen Fachliteratur mittlerweile weithin auch von „Eco-Angst“.[ 5 ]

Ein französisch-US-amerikanisches Wissenschaftlerteam analysierte 131 Artikel aus 6 der 10 auflagenstärksten amerikanischen Zeitungen, die zwischen 2018 und 2021 veröffentlicht wurden und die Einstellungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern zur Klimakrise zum Thema hatten. Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche wurden 4 Diskursmuster gefunden: „(a) wütende junge Aktivisten; (b) Kinder, die als Erwachsene behandelt werden; (c) unschuldige Opfer; und/oder (d) ultimative Retter“. Die Reaktionen von Eltern bzw. Erwachsenen darauf erfolgte ebenfalls nach 4 Mustern: „(a) Erleben von Eco-Angst durch Eltern-Dasein; (b) Beschwichtigung der Eco-Angst der Kinder; (c) Kritik an jugendlichem Aktivismus; und/oder (d) die Aktionen gegen den Klimawandel als eine Quelle der Sinnstiftung im Leben junger Menschen begreifen“. Sie folgern aus ihren Erkenntnissen, dass Erwachsene über ihre Vorurteile oder gar feindliche Haltung gegenüber jungen Menschen von ihren eigenen mangelhaften Bemühungen im Hinblick auf den Klimawandel ablenken oder ihre eigene Angst vor dem Klimawandel abwehren. Es handele sich in jedem Fall um „unreife Wege der Erwachsenen, auf die Sorgen der Jugendlichen zu reagieren. […] Es gäbe durchaus „gesündere und produktivere Reaktionen von Eltern, Ärzten, Pädagogen und Beamten des öffentlichen Gesundheitswesens bei der Suche nach wahrheitsgemäßen und zugleich unterstützenden Antworten auf die legitimen ökologischen Bedrohungen, die die kommenden Generationen unverhältnismäßig stark betreffen werden“.

Halten wir fest: Der Klimawandel und die als unzureichend eingeschätzten Reaktionen der politisch Verantwortlichen sind bei vielen jungen Menschen weltweit mit Angst und Stress verbunden. Psychologische Stressoren werden zwar oft als „weich“ und „wenig bedeutsam“ eingeschätzt, sie sind es nachweislich jedoch nicht. Solcher Stress bedroht Wohlbefinden und (damit) Gesundheit.

Jugendliche sind u. a. deswegen stärker als Erwachsene von Klima-Angst betroffen, weil sie sich noch in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung befinden, ihre Neuroplastizität daher noch vergleichsweise hoch ist und sie damit auch schneller lernen. Mindestens ebenso bedeutsam ist, dass chronischer Stress in der Jugend zu dauerhaften Veränderungen der Gehirnstruktur und dem Auftreten unterschiedlichster Formen von Psychopathologie im späteren Leben führen kann [35], [36], [39]. Neueste experimentelle Befunde deuten darauf hin, dass Stress in der Adoleszenz vor allem bei weiblichen Tieren einerseits zu raschem Lernen, andererseits jedoch zu verminderter Flexibilität für weiteres Lernen führen kann [25]. Studien beim Menschen deuten in die gleiche Richtung [46]. Der Stress durch das Bewusstwerden einer künftigen schweren Krise in einer entscheidenden Entwicklungsphase in Verbindung mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens wiederholt Stressoren im Zusammenhang mit dieser Krise, dem Klimawandel, zu begegnen, könnte also durchaus die Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Laufe des Lebens der heute jungen Menschen erhöhen [31]. Allerdings wurden bisher nur wenige Versuche unternommen, die kurz- und langfristigen Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen zu untersuchen. Hierzu müssen gültige und zuverlässige Instrumente zur Messung der Klima-Angst entwickelt und eingeführt werden, prospektive Längsschnittstudien aufgelegt und Maßnahmen erforscht werden, um den negativen Folgen entgegen zu wirken und die psychische Gesundheit der nächsten Generation zu verbessern. All dies braucht Zeit.


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Die Große Resignation

„Resignation“ ist das englische Wort für „Kündigung“, und „The Great Resignation“ bezeichnet zunächst einmal die seit dem Frühjahr 2021 größte Kündigungswelle von Arbeitnehmern seit der Weltwirtschaftskrise („Great Depression“) vor knapp 100 Jahren. Man spricht auch von „The Big Quit“. Hielten in den USA noch während der ersten beiden Wellen der Corona-Pandemie im Jahr 2020 die meisten Arbeitnehmer verzweifelt an ihrem Arbeitsplatz fest, weil sie Angst hatten, ihr Unternehmen könnte das nächste sein, das Insolvenz anmeldet oder COVID-bedingte Entlassungen durchführt, haben im April 2021 4 Millionen US-Amerikaner ihren Job gekündigt, im Juli waren es noch mehr und im August noch mehr (4,3 Millionen). In den USA kündigten während der 5 Monate von April bis August mehr als 20 Millionen Arbeitnehmer [43]. Im Freizeit-, Hotel- und Gaststättengewerbe kündigten im August 2021 volle 7 %, also jeder Vierzehnte, den Job – wohlgemerkt: in einem Monat [44]! Befeuert wurden die Kündigungen im Service-Bereich durch weitere gesellschaftliche Veränderungen wie beispielsweise eine Zunahme von unfreundlichem, grobem, wütendem oder gar aggressivem Verhalten von Kunden. Nicht nur bei uns wurde ein studentischer Kassierer an einer Tankstelle wegen eines Disputs über das Tragen einer Maske erschossen – in New York und im US-Bundesstaat Georgia ereilte jeweils den Kassierer eines Supermarktes das gleiche Schicksal [27]. Wahrscheinlich aufgrund der besonders beengten Verhältnisse in Flugzeugen spüren Flugbegleiter das gestiegene Aggressionsniveau ebenfalls in besonderem Maße: In weniger als den ersten 6 Monaten des Jahres 2021 wurden der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde mehr Zwischenfälle mit widerspenstigen Passagieren gemeldet als in irgendeinem vollen Jahr seit Beginn dieser Aufzeichnungen im Jahr 1995 [27].

Muss man sich Sorgen machen? – Zunächst einmal kann man sich einen Teil des Trends ganz einfach aus dem Aufschub von Kündigungen in unsicheren Zeiten (das Festhalten am Job im Jahr 2020) erklären. Nach der Beendigung von Maßnahmen im Lockdown – insbesondere Home-Office – haben viele Arbeitnehmer zudem über ihre Arbeit, Familienzeit, über den Sinn von Berufspendlertum im Besonderen und den des Lebens im Allgemeinen nachgedacht, wie schon im Mai 2021 im US-Wirtschaftsmagazin für Unternehmer Bloomberg Businessweek zu lesen war. Viele Arbeitnehmer wollten einfach nicht mehr in die Firmen zurück, wie ihre Chefs es von ihnen forderten, schon gar nicht die ganze Woche lang von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr abends [10] „Umfragen zeigen, dass fast 40 % der Angestellten lieber ihren Job aufgeben würden, als auf Home-Office zu verzichten, und selbst begehrte Unternehmen wie Apple bemühen sich, Massenkündigungen aufgrund von Maßnahmen zur Rückkehr ins Büro zu vermeiden“, konnte man dazu einige Wochen später in dem ebenfalls sehr renommierten US-Wirtschaftsmagazin Forbes nachlesen [13]. „Während die Pandemie in den USA zurückgeht, verlassen die Menschen ihre Arbeitsplätze auf der Suche nach mehr Geld, mehr Flexibilität und mehr Glück. Viele überdenken, was Arbeit für sie bedeutet, wie sehr sie wertgeschätzt werden und wie sie ihre Zeit verbringen möchten“, kommentierte das National Public Radio am 24. Juni 2021 [24]. Nicht nur in den USA kam es zum Big Quit, sondern auch anderswo kündigten Millionen von Menschen ihren Job [41]. In den 38 Ländern der OECD sind nach der Corona-Pandemie 20 Millionen weniger Menschen in Arbeit als davor, davon 14 Millionen, die nicht arbeiten und auch keine Arbeit suchen. Darunter sind 3 Millionen junge Menschen, die nicht mehr arbeiten bzw. sich nicht mehr in Ausbildung oder Weiterbildung befinden. So dramatisch dies erscheint, so gibt es auch einen Silberstreifen am Horizont der Hoffnung. Noch nie gab es weltweit eine so große Anzahl von Menschen – und damit auch junger Menschen – wie heute. Diese verstehen sich längst nicht mehr als Zuschauer der Dinge, die da kommen, sondern als die Akteure des Wandels. Es sind – darüber sollten wir uns klar werden – auch unsere künftigen Führungskräfte unter ihnen. Diese werden unsere gewohnte Weltordnung nicht mehr einfach akzeptieren, sondern versuchen, sie zum Besseren zu ändern.

Aus meiner Sicht sollten sich die heutigen Führungskräfte ernsthaft Gedanken darüber machen, wie man die Erfahrungen, die viele Menschen während der Corona-Pandemie machen mussten, nutzen kann, um gerade nicht wieder zum alten Zustand vor Corona zurückzukehren, sondern zu einem insgesamt besseren Arbeiten und Leben. Wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt habe, ist es doch gut, wenn der Arbeitnehmer an einem oder 2 Tagen in der Woche zuhause arbeitet. Die Produktivität muss keinesfalls sinken, der Arbeitsplatz ist attraktiver, weil man sich die Zeit ganz anders einteilen kann und – ganz nebenbei – würde der Berufsverkehr um 20 oder sogar um 40 % sinken: Dies würde die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsstaus mindern und zu deutlich weniger Stickoxiden, Feinstaub und CO2 in der Luft beitragen [37].


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Globaler Big Quit: Resilienz statt Resignation

Genauere Analysen zeigten, dass die Kündigungen zum großen Teil auf Angehörige der Generation Z (geboren nach der Jahrtausendwende) und der Millennials (auch Generation Y genannt, geboren 1980 bis 1999) zurückgehen, die ihren Job im Lockdown und Home-Office begonnen haben und daher von Anfang an wahrscheinlich anders sozialisiert sind. Einen solchen Beginn des Arbeitslebens mit gleichsam eingebauter täglicher Infragestellung der eigenen „Work-Life Balance“ gab es bei keiner Generation zuvor. „Während die Pandemie in den USA zurückgeht, verlassen die Menschen ihre Arbeitsplätze auf der Suche nach mehr Geld, mehr Flexibilität und mehr Glück. Viele überdenken, was Arbeit für sie bedeutet, wie sehr sie wertgeschätzt werden und wie sie ihre Zeit verbringen möchten“, schreibt die Zeitung US-News Ende August 2021 [35]. Verbindet man Kündigungen gemeinhin eher mit Verlierern und Müßiggängern, so scheint im Falle der gegenwärtigen Great Resignation das Gegenteil der Fall zu sein: Die Kündigungen sind „Ausdruck von Optimismus: Wir können es besser“, wie es der Autor Derek Thompson in einem Mitte Oktober im Magazin The Atlantik publizierten Beitrag beschreibt. Interessanterweise hat die Kündigungswelle für die Arbeitnehmer positive Konsequenzen: Sie verdienen mehr ([ Abb. 4 ]). Seit der Weltwirtschaftskrise sind die Löhne im Niedriglohnsektor in den USA nicht mehr so stark gestiegen wie in den letzten Monaten [42].

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Abb. 4 Median des Lohnzuwachses (3-Monats-Moving Average) im Niedriglohnsektor in den USA vom März 1997 bis September 2021. Dargestellt sind die Lohnzuwächse derer, die gekündigt und eine neue Stelle angetreten hatten (Job switcher; türkise Kurve) im Vergleich zu denjenigen (Job stayer; blaue Kurve), die ihren Job nicht gewechselt hatten (Wage Growth Tracker der Federal Reserve Bank of Atlanta, 2021). Hellgraue Balken zeigen Zeiträume an, während derer eine wirtschaftliche Rezession bestand (nach Daten aus [42]).

Dies hatte in den einzelnen Ländern unterschiedliche Auswirkungen. In Zentraleuropa – Tschechien, Polen, der Slowakei und Ungarn – herrscht mittlerweile nahezu Vollbeschäftigung bei deutlich steigenden Löhnen. Diese Arbeitskräfte in Niedriglohnbereichen (Fleischverarbeitung, Gaststätten- und Hotelgewerbe), die vor allem im Verlauf der Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren, fehlen nun nicht zuletzt auch in Deutschland, sodass nicht nur die Anhebung des Niedriglohns[ 6 ], sondern auch die Verdopplung der Immigration hierzulande unausweichlich werden.[ 7 ] Dramatisch ist die Situation in Großbritannien, wo Corona-bedingte Reisebeschränkungen und natürlich vor allem der Brexit zum Fehlen von hunderttausenden Arbeitnehmern – darunter allein 90 000 Lastwagenfahrern – geführt haben [41]. Dies schwächt dort nicht nur die (schon vor Corona schwächelnde) Wirtschaft, sondern führte – in einem der höchstentwickelten Länder der Welt! – bereits zu Engpässen in der Grundversorgung mit dem Nötigsten und den weithin berichteten langen Schlangen vor Tankstellen und Supermärkten.[ 8 ] Aus „Resignation“ im Sinne des globalen Big Quit muss nicht unbedingt weiterer wirtschaftlicher Niedergang folgen. Vielmehr könnte auch eine mehr resiliente und vernünftigere Zukunft daraus werden, wenn man den jungen Menschen nur etwas Zeit gibt und in sie investiert, anstatt sie zu gängeln oder gar schon abzuschreiben. In der Ausgabe vom 7. Oktober 2021 seiner Betrachtungen zu Europa formuliert der Brite Paul Taylor (ptaylor@politico.eu) in der US-Tageszeitung Politico diese optimistische Sicht der Dinge so:

„Aber unter dem Strich ist dies [aber auch] eine gute Entwicklung für die Arbeitgeber. Um Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten, stehen die Unternehmen in stärkerer Konkurrenz, müssen attraktivere Löhne und Arbeitsbedingungen anbieten und mehr Rücksicht auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nehmen. Zudem müssen sie bessere Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten anbieten. Der derzeitige Arbeitskräftemangel ist daher kein Problem, sondern stellt eine Chance dar, eine gerechtere Wirtschaft wieder aufzubauen, die Einkommen in der gesamten Wertschöpfungskette zu verbessern und die Produktivität zu steigern. Anstatt zu versuchen, den Arbeitsmarkt der Zeit vor Corona wiederherzustellen, sollten die westlichen Gesellschaften die Chance ergreifen, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen“ [42].

Fachleute aus dem Bereich der psychischen Gesundheit und politische Entscheidungsträger sollten sich diese Haltung zu den uns bedrohenden Krisen und der mit ihnen verbundenen Depression und Angst zu eigen machen. Wenn es um im weiteren Sinne ökologisch bedingte psychische Krankheiten geht, braucht man kurzfristig Medikamente aber langfristig die richtigen politischen Entscheidungen. Dies trifft auf die Corona-Pandemie und den Klimawandel in ganz besonderer Weise zu.


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1 Interessanterweise wurde „cringe“ Jugendwort des Jahres 2021. Es kommt ebenfalls aus dem Englischen und kann als Verb („to cringe“), Adjektiv („cringy“) und Substantiv verwendet werden kann. „Cringe“ beschreibt etwas Peinliches und Unangenehmes, ähnlich wie „Fremdschämen“, das im Zusammenhang mit sozial geächteten Verhaltensweisen („Flugschämen“; „SUV-Fahrer sind die neuen Raucher“) im Hinblick auf den Klimawandel nicht nur bei den Fridays-for-Future-Aktivisten in Mode gekommen ist [1].


2 Geht man davon aus, dass die Pandemie seit März 2020 besteht und im Bewusstsein der Menschen vorhanden ist, sollte man zudem bedenken, dass diese Zahl sich auf einen Zeitraum von weniger als einem Jahr bezieht.


3 Man findet dies bereits in den beiden Vorläufern des genannten Reports der American Psychological Association (APA) und der gemeinnützigen Nichtregierungs-Organisation (NGO) ecoAmerica aus den Jahren 2014 und 2017 [7], [8]. Rückblickend aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, was im ersten Report bereits vor 7 Jahren noch kaum öffentlich Beachtung fand: „Die Auswirkungen des Klimawandels auf das menschliche Wohlbefinden unterliegen einer großen Variationsbreite. Menschen und menschliche Gemeinschaften erleben den Klimawandel auf sehr unterschiedliche Weise. Zu den Faktoren, die die Anfälligkeit von Gemeinschaften für die psychischen Auswirkungen des Klimawandels erhöhen, sind nicht nur die zunehmende Häufigkeit und Intensität der Klimaauswirkungen, sondern auch die geschwächte physikalische Infrastruktur, soziale Stressfaktoren wie Rassismus und wirtschaftliche Ungleichheit und demografische Variablen wie ein niedrigeres durchschnittliches Bildungsniveau und eine große Anzahl von Kindern und älteren Erwachsenen zu nennen. Die Auswirkungen des Klimawandels auf das menschliche Wohlbefinden verlaufen über unterschiedliche Wege. Manche Auswirkungen ergeben sich direkt aus Naturkatastrophen, die durch den Klimawandel verschärft werden […]. Zudem gibt es langsame, schleichend verlaufende physikalische Auswirkungen wie steigende Temperaturen und Meeresspiegel. Weitere indirekte Auswirkungen auf die Gesellschaft werden sich durch geschwächte Infrastruktur und weniger sichere Versorgungssysteme für Nahrungsmittel einstellen“ [7].


4 Dies geschah im Rahmen des SHARELIFE-Projekts, eines sehr großen, langfristig angelegten Projekts zu Gesundheit und Wohlbefinden von Bürgern in Kontinentaleuropa im Alter von über 50 Jahren.


5 Man muss hierzu wissen, dass es das Wort „Angst“ durchaus auch im Englischen gibt. Zuweilen wird auch explizit von „German Angst“ gesprochen. Gemeint ist jeweils eine besonders tiefe, existenziell empfundene Angst (manche erläutern dies mit Ausdrücken wie „existential anxiety“), die auch – zumindest nach Meinung der Engländer und Amerikaner – für das Denken und die Weltsicht der Deutschen eine große Rolle spielt. Sie belegen ihre Auffassung zuweilen auch mit Verweisen auf deutsche Philosophen wie Martin Heidegger oder Karl Jaspers, deren Verwendung des Angstbegriffs im philosophischen Kontext auf den dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard (1813–1855) zurückgeht.


6 Dies zeichnet sich in den während des Abfassens dieser Arbeit in den laufenden Verhandlungen zu einer künftigen Regierungskoalition bereits ab.


7 Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, wird im August in der Süddeutschen Zeitung mit der Stellungnahme zitiert, dass Deutschland in den kommenden Jahren jährlich 400 000 Immigranten braucht (statt der tatsächlichen Zahl von derzeit etwa 200 000 jährlich), um die offenen Stellen in den Bereichen Pflege, Transport und Logistik, Heizungs- und Klimatechnik und sogar im akademischen Bereich füllen zu können [42].


8 Premierminister Boris Johnson spricht von einer Zeit der Anpassung und hat für die Sorgen der Menschen und der von seiner Partei vertretenen Unternehmer wenig Verständnis: „F*ck business“ soll er mehrfach gesagt haben, was in der Neuen Züricher Zeitung wie folgt kommentiert wurde: „Jetzt droht Unternehmen der Verlust ihrer politischen Heimat. Wenn der Rückzug aus grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten und Lieferketten der Schlüssel zu einem besseren Wirtschaftsmodell wäre, gäbe es mehr Seminare zum Thema ,Lernen von Nordkorea‘“ [44].



Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Abteilung für Psychiatrie
Leimgrubenweg 12–14
87054 Ulm
Deutschland

Publication History

Article published online:
09 February 2022

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Titelblatt der britischen Studie zu Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen [34]; Quelle: © Resolution Foundation, London
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Abb. 2 Depressionen (oben) und Angststörungen (unten) bei Frauen (links) und Männern (rechts) während der Pandemie im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 29.1.2021 (rote Kurven mit orange schattierter Variabilität) im Vergleich zum Jahr 2019 vor der Pandemie (blau) in Abhängigkeit vom Alter. Man sieht sehr deutlich das Überwiegen von Frauen und jüngeren Menschen (nach Daten aus [32]).
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Abb. 3 Cover der von der NGO ecoAmerica und der APA gemeinsam herausgegebenen Berichte zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die seelische Gesundheit der Menschen [7], [9]). Mit 51, 70 bzw. 88 Seiten wurden die Berichte nicht nur immer umfangreicher, auch ihr Detailreichtum nahm deutlich zu. Quelle: ©EcoAmerica, San Francisco
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Abb. 4 Median des Lohnzuwachses (3-Monats-Moving Average) im Niedriglohnsektor in den USA vom März 1997 bis September 2021. Dargestellt sind die Lohnzuwächse derer, die gekündigt und eine neue Stelle angetreten hatten (Job switcher; türkise Kurve) im Vergleich zu denjenigen (Job stayer; blaue Kurve), die ihren Job nicht gewechselt hatten (Wage Growth Tracker der Federal Reserve Bank of Atlanta, 2021). Hellgraue Balken zeigen Zeiträume an, während derer eine wirtschaftliche Rezession bestand (nach Daten aus [42]).