physiopraxis 2022; 20(01): 20-27
DOI: 10.1055/a-1660-0217
Therapie

Lädierte Leiste – Red Flags erkennen

Christoff Zalpour
,
Harry von Piekartz
 

Anna arbeitet als Schwimmlehrerin. In ihrer Freizeit schwimmt sie selbst und spielt Wasserball. Über ein halbes Jahr ist nicht klar, woher die Schmerzen in ihrer Leiste kommen – und warum es ihr beim Wasserlassen weh tut.


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Die 27-jährige Schwimmlehrerin Anna* schwimmt in ihrer Freizeit und spielt Wasserball. Normalerweise trainiert sie 4- bis 6-mal pro Woche. Als im März 2020 aufgrund der Corona-Pandemie das Schwimmbad geschlossen war, begann sie zu Hause mit einem Ausdauer- und Fitnesstraining (Body Pumping, ABB. 1). Sie war mit Begeisterung dabei und trainierte 4-mal pro Woche. Seit Juni 2020 spürte sie beim Training regelmäßig einen Stich in der linken Leiste und eine diffuse Missempfindung im linken Schambeinbereich und an den Adduktoren. Sie machte eine zweiwöchige Trainingspause und nahm Paracetamol gegen die Schmerzen. Da die Beschwerden blieben, konsultierte sie einen Physiotherapeuten, der einen erhöhten Tonus der Adduktoren feststellte. Er machte eine Triggerpunktbehandlung, massierte und empfahl ihr Dehntechniken für die Adduktoren. Nach acht Behandlungen und Wiederaufnahme des Schwimmtrainings hatten sich ihre Beschwerden nicht verbessert – im Gegenteil: Das Stechen trat häufiger auf – nun täglich circa 3- bis 6-mal.

Annas Schmerzen traten besonders dann auf, wenn sie das linke Bein rotierte oder wenn sie Kindern vom Beckenrand aus dem Wasser half. Mit der Zeit kamen diffuse Unterleibs- und Rückenschmerzen hinzu, die nach Annas Meinung nicht mit ihrer Haltung und Bewegung zusammenhingen. Einen anderen Grund erkannte sie nicht. Sie ging zu einem Orthopäden, der aufgrund schmerzhafter klinischer Tests ein Femoroacetabuläres Impingement (FAI) vermutete (FAI) und ein MRT der linken Hüfte veranlasste. Dieses blieb ohne Befund. Er schickte Anna daraufhin zu einem Internisten, der eine Ovarialzyste vermutete, die er aber nicht bestätigen konnte. Wegen der nächsten Corona-Welle beschloss Anna, einige Zeit gar nicht mehr zu trainieren, und sie hoffte, dass sie danach wieder würde schwimmen können. Da die Bauch- und Rückenschmerzen im Laufe des Septembers von selbst verschwanden, machte sie sich keine Sorgen mehr und ging täglich mit ihrem Hund eine extra große Runde spazieren. Dabei traten keine Beschwerden auf. Als sie aber im Oktober wieder mit dem Schwimmen begann, hatte sie währenddessen erneut einen stechenden Schmerz in der Leiste (NRS 4/10). Dieser trat nach ungefähr 800 Metern auf. Im Anschluss schmerzte die Leiste zunehmend und die Beschwerden an Adduktoren (NRS 5/10) und der linken Vulva (NRS 7/10) traten ebenfalls wieder auf ([ABB. 2]). Aufgrund der Überempfindlichkeit im Schambereich fiel Anna das Sitzen schwerer und sie hatte nun auch regelmäßig Schmerzen beim Wasserlassen. Da sie Angst vor den Schmerzen hatte, ging sie seltener auf die Toilette. Dies wiederum führte dazu, dass ihre Unterleibsschmerzen wieder auftraten. Anfang November ging sie daher zu ihrem Hausarzt, der sie an einen Urologen überwies. Dieser fand keine urogenitale Pathologie, bemerkte aber, dass das Schambein druckschmerzhaft war. Aufgrund dieser Erkenntnisse verwies der Hausarzt Anna zu einem Sportarzt, der zur Diagnostik die am Os pubis ansetzenden Adduktoren mit einem Lokalanästhetikum infiltrierte. Annas Beschwerden blieben aber unverändert.

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ABB. 2 Die Patientin hat stechende Schmerzen in der Leiste. Zusätzlich empfindet sie eine diffuse Missempfindung im linken Schambeinbereich und an den Adduktoren.

Anna nahm nun aufgrund der überwiegend im Schambereich verschlimmerten Schmerzen regelmäßig 2-mal 50 mg Paracetamol pro Tag. Anfang 2021 ist sie mit ihrem Latein am Ende und holt sich die Meinung eines spezialisierten Physiotherapeuten ein.

Subjektiver Befund

Zusätzlich zur Vorgeschichte erfährt der Therapeut Folgendes: Ihr allgemeiner Gesundheitszustand ist gut. Während der Pandemie nahm sie 2 kg zu (BMI 27,2). Das frustriert sie sehr, weil sie gerne mehr Sport gemacht hätte. Die Frage, ob bei ihr eine kongenitale Hüftdysplasie vorliegt, verneint sie ebenso wie die Frage nach Hüft- oder Rückenproblemen vor März 2020. Sie erzählt vom Verdacht der Ovarialzyste und dass sie einen empfindlichen Darm in Stresssituationen habe. Eine organischen Fehlfunktion liege aber nicht vor.

FAI

Femoroacetabuläres Impingement (FAI)

Das FAI beschreibt Hüftschmerzen als Folge eines knöchernen Anstoßphänomens zwischen Femur und Becken. Es gilt inzwischen als eine der häufigsten Ursachen von Hüftschmerzen jüngerer Erwachsener und als relevante präarthrotische Deformität [1]. Man unterscheidet zwei Formen, die auch kombiniert auftreten können:

CAM-Impingement

Beim CAM- oder Nockenwellen-Impingement bildet sich eine knöcherne Wulst am ventralen bis lateralen femoralen Kopf-Hals-Übergang mit daraus resultierendem Verlust der Sphärizität des Hüftkopfs. Korrespondierend findet sich oft ein prognostisch ungünstiger, durch die Scherwirkung der Asphärizität entstandener Knorpelschaden, teilweise in Kombination mit einer Schädigung des Labrum acetabulare [1].

Pincer-Impingement

Das Pincer-Impingement entsteht durch linearen Kontakt des zu tiefen Pfannenrands mit dem Kopf-Hals-Übergang. Der Kopf-Hals-Übergang ist bei einem reinen Pincer-Impingement normal geformt; im Verlauf entwickeln sich dort aber durch die persistierende Anschlagsymptomatik Veränderungen bis hin zu breitbasigen Knochenappositionen [2].

Symptome

Die häufigsten Symptome sind Leistenschmerz, Bewegungseinschränkungen (besonders in Innenrotation bei Hüftgelenkflexion über 90°), Schmerzen bei langem Sitzen, Faszikulationen im Bereich der Hüfte, des Gesäßes oder des unteren Rückens und ein Steifigkeitsgefühl im Oberschenkel, Rücken oder Gesäß. Die Symptome sind anfangs meist leicht und werden mit zunehmendem Alter schlimmer. Sie verschlechtern sich sowohl bei Aktivitäten als auch bei längeren Ruhephasen. Am häufigsten tritt ein FAI bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen (Frauen > Männer) auf, die körperlich sehr aktiv sind [2].

Bislang sind keine spezifischen Red Flags erkennbar. Um diese aber restlos auszuschließen, scheint eine eingehende Betrachtung des Urogenitaltrakts trotz der bereits durchgeführten Laparaskopie angebracht. Das Beschwerdebild hängt vermutlich von Annas Körperhaltung und Bewegung ab, da die Schmerzen mit Neustart des Schwimmens nach der Ruhephase zurückkehrten. Es muss daher geschaut werden, ob eine neuromuskuläre Ursache vorliegt. Falls eine Weichteildysfunktion ausgeschlossen werden kann, kommen noch das Os pubis oder eine intraartikuläre Dysfunktion am Hüftgelenk als Schmerzursache infrage. Dafür ist eine ausführliche Befragung notwendig sowie eine umfassende klinische Untersuchung der Hüft- und Beckenregion mit Schwerpunkt auf den ventralen neuromuskuloskelettalen Strukturen.

Beim Husten oder Pressen auf der Toilette verspürt Anna manchmal ein Stechen in der Leiste (NRS 4/10). Beim Sitzen in Beugung ist es weniger stark (NRS 2/10). Dieses Verhalten ist nicht konsistent. Die Symptome treten zudem gelegentlich auf, wenn sie sich von der Rücken- in die Seit- oder Bauchlage dreht (NRS 3/10).

Die Beschwerden in der Leiste, die durch Hüftbewegungen entstehen, hat Anna auch beim Geschlechtsverkehr. Ansonsten ergeben die speziellen Fragen zum Urogenitalsystem keine weiteren Auffälligkeiten (RED FLAGS UROGENITALSYSTEM).

Red Flags Urogenitalsystem

Im Folgenden sind spezielle Symptome aufgelistet, die bei Erkrankungen des Urogenitalsystems auftreten können [3]:

Konstitutionelle Symptome

  • Fieber, Schüttelfrost

  • Müdigkeit, Unwohlsein

  • Anorexie, Gewichtsverlust

Muskuloskelettale Symptome

  • Schmerzen im unteren Rücken, im Unterbauch, in der Leiste, an der Oberschenkelinnenseite oder am Bein

  • Momente hohen Drucks im Bauch

  • Schmerzen oder Schutzkrämpfe bei Hüftbewegungen

Probleme beim Wasserlassen

  • Dysurie (unangenehme oder schmerzhafte Blasenentleerung)

  • Nykturie (mehr als einmal Aufstehen in der Nacht zum Urinieren)

  • Gefühl, dass die Blase nicht vollständig entleert wird, aber man auch nicht in der Lage ist, dies zu tun

  • Hämaturie (Blut im Urin)

  • Tröpfeln am Ende des Wasserlassens

  • häufiger Harndrang (> 1x pro Stunde)

  • schwacher oder unterbrochener Urinstrahl

  • Proteinurie (Eiweiß im Urin)

Allgemeine Symptome

  • Überempfindlichkeit der Haut (Th 10–L1)

  • Unfruchtbarkeit

Spezielle weibliche Symptome

  • anormale vaginale Blutungen

  • Dysmenorrhoe (schmerzhafte Menstruation)

  • Veränderungen im Menstruationszyklus

  • Juckreiz oder Ausfluss

  • Dyspareunie (Schmerzen beim Geschlechtsverkehr)

Es hat den Anschein, dass es einen neuromuskuloskelettalen Bezug zu den Symptomen gibt, da die bisherige medizinische Diagnostik keine Assoziation zu Annas Beschwerden ergab. Zudem scheint ihr Schmerzverhalten eine klare haltungsabhängige Komponente zu haben. Eine körperliche Untersuchung des Beckens und Hüftbereichs mit dem Fokus auf die Leistengegend ist daher indiziert.


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Untersuchung

Als Strategie für die kommende Untersuchung steht Physiotherapeutinnen und -therapeuten der Algorithmus „Klinische Untersuchung von anhaltenden Leistenschmerzen“ bei Sportlern zur Verfügung. Dieser basiert auf einem Expertenkonsens von 2016 [4] und wurde auf Reliabilität und Validität geprüft [5], [6]. Kristian Thorborg und Kolleg*innen brachten ihn 2018 in eine grafische Übersicht (ABB. 10, S. 24) [7].

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ABB. 10 Algorithmus klinische Untersuchung von anhaltenden Leistenschmerzen (frei übersetzt) Quelle: Thorborg K, Reiman P, Weir A. Clinical Examination, Diagnostic Imaging, and Testing of Athletes With Groin Pain: An Evidence-Based Approach to Effective Management. J Orthop Sports Phys Ther; 2018. 48: 239–249.

Inspektion der Lumbosakralregion

  • Haut, WS-Verschiebung, Skoliose: o. B.

  • Konturveränderung der Glutealmuskulatur: o. B.

Screening des Beckens

  • aktive Hyperabduktion im Hüftgelenk in Rückenlage gemessen über den Knie-Bank-Abstand: rechts 22 cm = o. B.; links 31 cm, und es kommt zu einem Ziehen in der Adduktorenregion (NRS 2/10); bei Überdruck (Grad IV) wird der lokale Schmerz stärker (NRS 4/10)

  • 20°-Hüftadduktion in 90°-Hüftflexion in Rückenlage: links = rechts; bei der Bewegung mit leichter Kompression über den Oberschenkel ins Gelenk gibt Anna beidseits ein unbekanntes Druckgefühl an (NRS 2/10)

  • passive Rotation im Hüftgelenk anterior-posterior und posterior-anterior in Seitenlage: links = rechts o. B.

  • posterior-anteriorer Druck (PA, Grad IV) aufs Kreuzbein: o. B.

  • akzessorische Bewegungen (Zusatzbewegungen) des Os pubis in alle Bewegungsrichtungen ([ABB. 3]): o. B.

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ABB. 3 Ausgangsposition für akzessorische Posterior-anterior-Bewegungen des Os pubis. Bei der Patientin waren alle Bewegungsrichtungen ohne Befund. Symbolbild

Screening der Hüftregion

Physiologische Bewegungen des Hüftgelenks

  • Flexion, Adduktion und Rotation in 90°-Hüftflexion: o. B.

  • Abduktion: links = 30° mit einem Ziehen am Muskelbauch des M. adductor magnus (NRS 2/10) und einer Missempfindung in der medialen Leiste (NRS 3/10); rechts: 40° = o. B.

Untersuchung der Muskelkraft

  • Hüftgelenkbewegungen in Flexion, Adduktion, Rotationen: links = rechts o.B.; in Abduktion links leicht vermindert (MFT 4); in Extension links deutlich vermindert (MFT 3) und stechend schmerzhaft (NRS 3/10)

Die Untersuchungen, die Anna im Vorfeld absolviert hatte, wiesen keinen Bezug zu ihren Beschwerden auf. Auch die Hüfttests zeigen kein deutliches klinisches Muster. Aufgrund der Missempfindung an der medialen Leiste ist eine Empfindlichkeitsprüfung und neurodynamische Untersuchung des Lendenplexus indiziert. Da eine anhaltende statische Belastung der Leiste die Symptome reproduziert, ist es sinnvoll, einen erhöhten Unterleibsdruck zu applizieren und eine systematische Palpation der Leistenregion durchzuführen, um die aufgestellte Hypothese zu bestätigen oder zu verwerfen.

Prüfung des Nervensystems

Unterscheidungsvermögen: Mithilfe eines Zahnstochers (Pinprick-Technik, [ABB. 4], S. 27) konnte Anna den Bereich der Missempfindung eindeutig angeben. Dieser stimmt mit der Lokalisation ihrer Leistenschmerzen überein.

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ABB. 4 Mit dem Pinprick-Diskriminationstest ermittelt der Therapeut die exakte Lokalisation der Missempfindungen. Symbolbild

Neurodynamische Tests:

  • Prone Knee Band/Slump: Bewegungsamplitude links = rechts; links kommt es zu einem „Ziehen“ (NRS 2/10) in Rückenlage in Thomas-Stellung

  • N. ilioinguinalis (Testung über Ext-Add im Hüftgelenk): o. B.

  • N. iliohypogastricus (Testung über Ext im Hüftgelenk): o. B.

  • N. genitofemoralis (Testung über Ext-Abd im Hüftgelenk, [ABB. 5], S. 23) Missempfindung (NRS 3/10); mit Zug auf die Haut des Unterbauches nimmt die Missempfindung zu (NRS 6/10)

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ABB. 5 Neurodynamischer Test des N. genitofemoralis Symbolbild

Testung des abdominalen Bereichs mit erhöhtem Druck

  • aktiver SLR: ist aufgrund stechender Schmerzen (NRS 7/10) und fehlender Kraft links nicht möglich

  • passiver SLR und passiver bilateraler SLR (BSLR): links = rechts o. B.

  • aktiver BLSR: 60° ([ABB. 6], S. 23): Anna kann die Beine nicht in der Luft halten und gibt die bekannten stechenden Leistenschmerzen (NRS 7/10) an ([ABB. 2] S. 21). Nach 15 Sekunden tritt zudem ihre bekannte Missempfindung in der Leiste auf (NRS 4/10).

Es deutet darauf hin, dass der hohe Druck im Unterleib die Beschwerden hervorruft. Dies könnte möglicherweise im Zusammenhang mit einer Leistenhernie (Sporthernie) stehen. Dies gilt es mit weiteren Tests zu überprüfen.

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ABB. 6 Beim bilateralen Straight-Leg-Raise-Test kann die Patientin die Beine wegen stechender Schmerzen nicht in der Luft halten, da der bekannte stechende Leistenschmerz massiv auftritt. Symbolbild

Leistendiagnostik

  • Valsalva-Manöver mit Leistenpalpation: Beim Pusten mit dosierter Kraft auf den Handrücken in entspannter Rückenlage zeigt sich immer eine leichte Schwellung. Bei Anna ist diese allerdings deutlich verstärkt ([ABB. 7], S. 23).

  • Sonografie beim Valsalva-Manöver (Sonde parallel zum Lig. inguinale): deutliche Vorwölbung der Tranversalfaszie ([ABB. 8], S. 23)

  • Abtasten beider Leisten über dem Lig. inguinale während eines verlängerten Sit-ups: deutlich Schwellung tastbar ([ABB. 9], S. 23)

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ABB. 7 Beim Valsava-Manöver ist eine verstärkte Schwellung zu sehen. Symbolbild
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ABB. 8 Im Ultraschalll ist die deutliche Vorwölbung der Tranversalfaszie gut zu erkennen. Symbolbild
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ABB. 9 Verlängerter Sit-up mit Leistenpalpation Symbolbild

Schaut man auf das Framework „Klinische Untersuchung anhaltender Leistenbeschwerden“ ([ABB. 10]) lässt sich die Ursache der Beschwerden nicht im Becken, Os pubis oder an der Hüfte lokalisieren, sondern in der Leiste. Um Annas Beschwerden als Folgen einer Leistenhernie zu bestätigen, ist eine Palpation in Bauch- und Leistengegend indiziert.

Palpation

  • generelle Bauchpalpation (an 9 definierten Lokalisationen) mit leichtem Druck (ca. 1–2 kg), um mögliche Organerkrankungen aufzudecken = o. B.

  • Palpation der Muskelansätze am Os pubis: M. gracilis, M. adductor longus, M. adductor brevis ([ABB. 13] UND 14) = o. B.

  • Palpation des M. iliopsoas am McBurney-Punkt (ABB. 15) = o. B.

  • Palpation der Zweige der Nervi genitofemoralis, iliohypogastricus und ilioinguinalis: Der N. genitofemoralis unterhalb des Leistenbandes ist stark mechanosensitiv und die Palpation provoziert die bekannte Missempfindung (NRS 5/10) (ABB. 16).

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ABB. 13–16 Neuromuskuloskelettales Screening der wichtigen Leistenstrukturen, um die Schmerzen konkret zu lokalisieren: Ansatz M. gracilis (13), Ansatz des M. adductor longus (14), M. iliopsoas am McBurney-Punkt (15) und Palpation des N. genitofemoralis (16) SymbolbildSymbolbildSymbolbildSymbolbild

Das klinische Muster deutet auf eine neuromuskuloskelettale Ursache hin, mit dem Verdacht auf eine Leistenhernie. Da dies keine Indikation für eine Physiotherapie ist, gilt es einen Chirurgen hinzuzuziehen.

Anna wird mit folgender Nachricht an den Hausarzt zurückgeschickt:

Die Patientin kam wegen anhaltender Leistenprobleme (> 1 Jahr), die mit ihren sportlichen Aktivitäten zusammenhängen, zu mir. Sowohl das MRT des Orthopäden als auch die internistische Untersuchung waren unauffällig. Bei der physiotherapeutischen Untersuchung lassen sich die Beschwerden durch hohen Druck auf den Unterbauch provozieren, z. B. durch das Valsalva-Manöver und einen aktiven bilateralen Straight Leg Raise (BSLR). Dabei ist eine deutliche Schwellung in der linken Leiste oberhalb des Leistenbandes zu sehen. Die Ultraschalluntersuchung zeigt während des BSLR und des Valsalva-Manövers eine stark veränderte transversale Bauchwand. Die klinische Untersuchung von Becken (SIG und Os pubis) und Hüfte ist ohne Befund. Ich bitte um weitere Diagnostik der Leistenprobleme.


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So ging es weiter …

Der Hausarzt überwies Anna an einen orthopädischen Chirurgen. Durch eine Herniografie (Röntgenaufnahme nach Injektion eines Kontrastmittels in den Bauchraum) wurde ein medialer Leistenbruch ([ABB. 8], S. 23) mit einer Kompression des N. genitofemoralis diagnostiziert (HINTERGRUND, S. 26). Anschließend unterzog sich Anna einer Operation an der hinteren Leistenwand durch eine laparoskopische präperitoneale Netzreparatur. Ihre Symptome verschwanden sofort nach der OP. Die Missempfindung blieb noch circa vier bis fünf Wochen bestehen, allerdings in geringerem Ausmaß (NRS 2/10). Drei Wochen nach der OP durfte Anna ihr Bein wieder belasten und sie kam erneut viermal zu ihrem Physiotherapeuten zur funktionellen Rehabilitation. Nach sechs Wochen konnte Anna wieder ohne Probleme schwimmen, laufen und Sport treiben.

Hintergrundwissen

Hernien


Bei Hernien verlagern sich Bauchraumbestandteile durch entweder angeborene oder erworbene Lücken aus ihrer ursprünglichen Position – meistens nach außen. Spätestens bei intraabdomineller Druckerhöhung wird eine Hernie tastbar. Die wichtigsten Formen sind Leistenhernien (am häufigsten) sowie Schenkelhernien, Narbenhernien und Nabelhernien ([TAB].). Neben diesen äußeren Hernien (95 %) gibt es die seltenen inneren Hernien (5 %), die durch eine Vorwölbung von Bauchraumbestandteilen durch angeborene oder erworbene Öffnungen innerhalb der Peritonealhöhle gekennzeichnet sind. Klinisch imponieren sie als Ileus (Darmverschluss) und müssen genauso wie die äußeren Hernien operativ saniert werden. Zum Verständnis von Hernien gilt es folgende Begriffe voneinander abzugrenzen:


Bruchpforte: Schwachstelle, durch die sich die Hernie schiebt (innere Bruchpforte = Austrittspunkt aus dem Bauchraum; äußere Bruchpforte = sichtbarer Austrittspunkt an der Bauchwand).


Bruchsack: innere Auskleidung der Hernie, die den Bruchinhalt direkt umgibt (meistens parietales Peritoneum)


Bruchinhalt: Bauchraumbestandteile (meistens Omentum oder Dünndarm)


Leistenhernie


Von Leistenhernien sind in der Regel Männer betroffen, weil zur intrauterinen Entwicklung männlicher Föten der (Hodenabstieg) gehört, der u. a. in einer trichterförmigen Ausstülpung des Peritoneums in den Hodensack resultiert. Sie ist die Schwachstelle für die Entwicklung einer Leistenhernie. Das Leitsymptom ist eine inguinale Schwellung (Vorwölbung), begleitet von Fremdkörpergefühl und/oder Schmerzen.


Man unterscheidet direkte ([ABB. 17]) und indirekte Leistenhernien. Reicht der Bruchsack bis ins Skrotum, liegt eine Skrotalhernie vor.

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ABB. 17 Innere Bruchpforten im Bereich der Leisten- und Schenkelregion (hier beim Mann). Die innere Bruchpforte der direkten Leistenhernie ist die Fossa inguinalis lateralis (dunkelgrün), durch die auch der N. genitofemoralis verläuft. Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2018

Schenkelhernie


Schenkelhernien treten selten und meist bei Frauen höheren Lebensalters auf. Ihr breites Becken bildet eine breite Lacuna vasorum aus. Deren medialer Rand (Anulus femoralis) ist aufgrund seiner lockeren Bindegewebsstruktur die potenzielle Bruchpforte. Typische Symptome sind Schwellungen unterhalb des Lig. inguinale, begleitet von Schmerzen und eventuell mit Ausstrahlung ins Bein.


Nabelhernie


Bei Nabelhernien ist die Bruchpforte der Anulus umbilicalis. Sie treten bei Säuglingen und Kleinkindern auf. Bei Erwachsenen kommen sie meist paraumbilikal vor (häufiger bei Frauen, die stark an Gewicht zugenommen haben).


Narbenhernie


Narbenhernien als Folge eines ventralen Abdominalschnitts, z. B. nach OP eines Bauchaortenaneurysmas. Männer sind häufiger betroffen.


Symptome


Typische Symptome sind ziehende oder stechende Schmerzen an der Bruchpforte und eine tastbare und eventuell sichtbare Vorwölbung des Bruchsacks. Ist die Blutversorgung durch die Einklemmung des Bruchsackinhalts (Inkarzeration) abgeschnitten, führt dies zu starken Schmerzen und Ileussymptomatik. Ein Ileus erfordert unmittelbar ärztliches Eingreifen. Leitsymptome sind kollikartige Bauchschmerzen, zum Teil begleitet von Erbrechen, sowie Wind- und Stuhlverhalt. In der vollen Ausprägung entspricht das Bild dem des akuten Abdomens.


Diagnostik und Therapie


Hernien werden in der Regel klinisch diagnostiziert (typischer Sicht- und Tastbefund) und häufig ergänzt durch Sonografie. Die Therapie ist fast immer operativ.


Leistenschmerz bei Sportlern


Die Leiste bildet den Übergang vom Rumpf zum Oberschenkel und beherbergt den muskulosfaszialen Ursprung der Bauchdecke sowie der Muskelstränge, die Rumpf und Oberschenkel miteinander verbinden. Zusätzlich finden sich hier das Lig. inguinale, Faszienstränge, die großen Beingefäße, Lymphknoten und Nerven.


Der Leistenkanal (Canalis inguinalis) durchzieht oberhalb des Leistenbandes die ventrale Bauchwand. Er wird von der Aponeurose des M. obliquus externus abdominis, der Fascia transversalis, von M. obliquus internus abdominis und M. transversus abdominis und Lig. inguinale begrenzt [8]. So entsteht ein muskulofasziales Verspannungssystem, das die Lastenverteilung und -weiterleitung auf das knöcherne Skelett ermöglicht. Gerade sportliche Belastung beansprucht die gemeinsame Aponeurose von M. rectus abdominis und M. adductor longus stark [9].


Sportlerleiste


Man spricht von der sogenannten Sportlerleiste, die v. a. dann vorkommt, wenn die Sportart durch einseitige körperliche Belastungen mit schnellen wechselnden Bewegungen charakterisiert ist. Die Inzidenzangaben variieren dabei je nach Sportart und Erhebung von 8–20 % [10]–[12].


Die Ursachen des Leistenschmerzes sind vielfältig, sodass eine gute Differenzialdiagnose für die richtige Therapie unabdingbar ist. Am Schmerz beteiligte Gelenke können die Symphyse, das Sakroiliakalgelenk, die Hüftgelenke und die lumbale Wirbelsäule sein [13]. Als Ursachen gelten beispielsweise eine Schambeinentzündung (Osteitis pubis), ein FAI, eine Labrumläsion im Hüftgelenk, eine Coxarthrose oder Stressfrakturen von Becken oder Femur [13]. Als systemische Erkrankungen können zudem rheumatoide Arthritis, ankylosierende Spondylitis, psoriatische Arthritis und generell Arthrose die Entwicklung der Sportlerleiste begünstigen.


Ein ausgewogenes Zusammenspiel der Muskulatur, die die untere Extremität mit dem Becken verbindet bzw. das Becken mit der lumbalen Wirbelsäule, hilft, Leistenschmerz vorzubeugen – also tiefe Bauchmuskeln, tiefe Hüftgelenkrotatoren, Glutealmuskulatur, Adduktoren und lumbale Rückenmuskulatur. Neben muskulären und systemischen Ursachen kann aber wie bei der vorgestellten Patientin Anna eine Leistenhernie ursächlich sein – man spricht dann von der sogenannten Sportlerhernie.


Sportlerhernie


Die Sportlerhernie entsteht durch eine chronische Überbeanspruchung mit Zunahme der Scherkräfte im Becken und der Beinmuskulatur mit Koordinationsdysbalance und Verlust der Rotationsstabilität der Bauchwandmuskulatur bzw. einer kongenitalen Leistenschwäche [14]. Dessen ungeachtet können auch muskuläre Verletzungen im Leistenbereich Ursache für eine veränderte Biomechanik in der Hüft- und Leistenregion sein und so die Entwicklung einer Hernie auslösen. Begünstigend wirkt sich eine Dysbalance aus starken Hüftgelenkadduktoren (M. adductor longus und M. gracilis) und schwacher Bauchwandmuskulatur aus, wie sie beispielsweise bei Fußballern und Eishockeyspielern häufig zu finden ist [14].


Symptome


Die Beschwerden beginnen häufig mit einem unklaren einseitigen diffusen Leistenschmerz, der sich im weiteren Verlauf verstärkt und wie bei Anna in das Perineum, den Genitalbereich und den medialen Oberschenkel ausstrahlt. Des Weiteren sind folgende Symptome typisch [14]:

  • druckschmerzhafter Leistenkanal

  • erweiterter äußerer Leistenring

  • druckschmerzhaftes Tuberculum pubicum

  • druckschmerzhafte Hüftgelenkadduktoren

  • Als Leitsymptom gilt die Empfindlichkeit im Bereich der Symphyse und die tastbare schmerzhafte Hinterwand des Leistenkanals. Der Schmerz kann durch plötzliche Belastung provoziert werden (z. B. Husten, Niesen, sexuelle Aktivität, Sit-ups und Hüftgelenkadduktion).


Diagnostik


Die Sportlerleiste zeigt sich häufig durch ziehende, brennende, gelegentlich elektrisierend einschießende Schmerzen mit Ausstrahlung in den medialen Oberschenkel und in den Genitalbereich. Die Leistenhernie eher durch unspezifische, dumpfe, drückende, umschriebene und gelegentlich ausstrahlende Schmerzen in den Unterbauch oder die Flanke.


Spezifische klinische Tests mit hoher Validität existieren zwar nicht [15], aber das diagnostische Vorgehen ist in Annas Fall folgerichtig beschrieben. Letztlich eignet sich die sonografische Untersuchung zur finalen Abklärung, da man beim Ultraschall mit Aufforderung zum abdominellen Druckaufbau die Vorwölbung im Leistenkanal in der Regel gut erkennt.


Therapie


Die operative Sanierung kann laparoskopisch oder offen durchgeführt werden. Eine präperitoneale Netzeinlage sorgt dabei für nachhaltige Stabilität.


Postoperativ sind die Patient*innen bei regelhaftem Verlauf meist nach 1–2 Wochen wieder arbeitsfähig, wobei dies stark von der beruflichen Tätigkeit abhängt. Schweres Heben sollte für mindestens 6 Wochen vermieden werden. Sportlerinnen und Sportler müssen Bauchdeckentraining über den gleichen Zeitraum ebenso vermeiden wie ruckartige kraftvolle Bewegungen. Die Wiederaufnahme sportlicher Aktivität erfolgt durch Herantasten an die mögliche Belastung unter vorsichtiger Kontrolle der Schmerzgrenze.


Harry von Piekartz und Christoff Zalpour

TAB. Charakteristika der unterschiedlichen Hernientypen

Hernien

Hernientyp*

Leistenhernie

Schenkelhernie

Narbenhernie

Nabelhernie

Lokalisation

durch den Leistenkanal, oberhalb des Lig. inguinale

Durch die lacuna vasorum, also unterhalb des Lig. inguinale

entlang einer bestehenden Narbe

Säuglinge: direkt im Nabelbereich; Erwachsene: periumbilikal

Häufigkeit

75 %

5–7 %

15–20 %

1 %

Geschlechterprävalenz

♂:♀ = 9:1

> bei ♀

> bei ♂

> bei ♀

Altersgipfel

20.–30. Lj.**

50.–70. Lj.***

> 50. Lj.

> 45. Lj.

Säuglinge

50.–70. Lj.

Therapieoptionen

in der Regel operativ

immer operativ

operativ (nach einer Latenz von 12 Monaten)

heilt bei Säuglingen mitunter spontan aus;

bei Erw.: operativ

*Bezeichnung nach Lokalisation der Bruchpforte; ** durch vermehrte körperl. Belastung; *** durch Bindegewebsschwäche

*Name von der Redaktion geändert


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Publication History

Article published online:
05 January 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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ABB. 2 Die Patientin hat stechende Schmerzen in der Leiste. Zusätzlich empfindet sie eine diffuse Missempfindung im linken Schambeinbereich und an den Adduktoren.
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ABB. 10 Algorithmus klinische Untersuchung von anhaltenden Leistenschmerzen (frei übersetzt) Quelle: Thorborg K, Reiman P, Weir A. Clinical Examination, Diagnostic Imaging, and Testing of Athletes With Groin Pain: An Evidence-Based Approach to Effective Management. J Orthop Sports Phys Ther; 2018. 48: 239–249.
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ABB. 3 Ausgangsposition für akzessorische Posterior-anterior-Bewegungen des Os pubis. Bei der Patientin waren alle Bewegungsrichtungen ohne Befund. Symbolbild
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ABB. 4 Mit dem Pinprick-Diskriminationstest ermittelt der Therapeut die exakte Lokalisation der Missempfindungen. Symbolbild
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ABB. 5 Neurodynamischer Test des N. genitofemoralis Symbolbild
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ABB. 6 Beim bilateralen Straight-Leg-Raise-Test kann die Patientin die Beine wegen stechender Schmerzen nicht in der Luft halten, da der bekannte stechende Leistenschmerz massiv auftritt. Symbolbild
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ABB. 7 Beim Valsava-Manöver ist eine verstärkte Schwellung zu sehen. Symbolbild
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ABB. 8 Im Ultraschalll ist die deutliche Vorwölbung der Tranversalfaszie gut zu erkennen. Symbolbild
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ABB. 9 Verlängerter Sit-up mit Leistenpalpation Symbolbild
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ABB. 13–16 Neuromuskuloskelettales Screening der wichtigen Leistenstrukturen, um die Schmerzen konkret zu lokalisieren: Ansatz M. gracilis (13), Ansatz des M. adductor longus (14), M. iliopsoas am McBurney-Punkt (15) und Palpation des N. genitofemoralis (16) SymbolbildSymbolbildSymbolbildSymbolbild
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ABB. 17 Innere Bruchpforten im Bereich der Leisten- und Schenkelregion (hier beim Mann). Die innere Bruchpforte der direkten Leistenhernie ist die Fossa inguinalis lateralis (dunkelgrün), durch die auch der N. genitofemoralis verläuft. Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2018