ergopraxis 2022; 15(01): 10-13
DOI: 10.1055/a-1660-9276
Profession

Ein Gewinn für alle Beteiligten – Zusammenarbeit von Ergo- und Psychotherapie

Judith Hügin
,
Manush Bloutian-Walloschek
,
Melanie Sayferth-Frank
 

    Eine Psychotherapeutin und zwei Ergotherapeutinnen ziehen Bilanz, nachdem es inzwischen seit einem Jahr möglich ist, dass Psychotherapeut*innen Ergotherapie verordnen können. Sie berichten von ihren bisherigen Erfahrungen mit der interprofessionellen Zusammenarbeit und was sich noch tun muss.


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    Seit Januar 2021 können psychologische Psychotherapeut*innen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen Ergotherapie verordnen. Dies gilt für psychische Diagnosen und bestimmte Erkrankungen des zentralen Nervensystems und Entwicklungsstörungen. Möglich gemacht hat dies das Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung. So wurden unter anderem die Befugnisse von Psychotherapeut*innen erweitert.

    Zwei Ergotherapeutinnen und eine Psychotherapeutin berichten, inwieweit die interprofessionelle Zusammenarbeit bisher funktioniert hat und welche Veränderungen mit der Möglichkeit zur Verordnung einhergegangen sind.

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    „Bei der Ausstellung der Verordnungen. gab es Unsicherheiten, die wir. gemeinsam beseitigen konnten“. Judith Hügin, Ergotherapeutin und fachliche Leitung einer Ergotherapiepraxis in Lörrach

    Ich arbeite in einer Praxis für Ergotherapie mit sechs Mitarbeitenden. Von diesen haben bisher drei in stationären psychiatrischen Kliniken gearbeitet. Diese Therapeut*innen setzen in der Praxis unter anderem den Fokus auf die ergotherapeutische ambulante Versorgung der psychisch erkrankten Menschen. Hier sind wir auf der „anderen Seite“ des Behandlungseinsatzes, meist nach dem Klinikaufenthalt und somit im Alltag der Patient*innen ohne den geschützten Rahmen der Klinik.

    Wir arbeiten seit zwei Jahren eng mit Psychiater*innen zusammen. Diese Zusammenarbeit findet immer wieder im Kontakt miteinander statt, um für die Patient*innen eine bestmögliche Therapie zu ermöglichen. Als wir von den erfreulichen Entwicklungen bezüglich der Verordnungsmöglichkeiten durch Psychotherapeut*innen erfuhren, schrieben wir zum Jahresanfang verschiedene Psychotherapiepraxen im Landkreis an, um mit ihnen in Kontakt zu treten.

    Einige haben das Kontaktangebot angenommen und sich bei uns gemeldet. Dabei berichteten sie uns teilweise davon, dass sie sich in der formgerechten Ausstellung der Verordnungen nicht ganz sicher seien. Dies stellte für sie eine kleine Hürde dar, um sich an die Rezepte zu wagen. Daher haben wir das Ausfüllen der Heilmittelverordnungen (teilweise vor Ort) gemeinsam besprochen. Dabei konnten wir feststellen, dass ein gegenseitiges Interesse am Kennenlernen bestand.

    In der Zusammenarbeit mit Psychothera- peut*innen erfahren wir einen gezielten Austausch über die Behandlung – vor allem im Gebiet der Alltagsstruktur und -gestaltung. Wir besprechen uns darüber, inwieweit wir uns in Zielen ergänzen oder an gleichen Zielen ganzheitlich miteinander arbeiten können. Im aktuellen Fall einer Patientin arbeitet die Psychotherapeutin beispielsweise verhaltenstherapeutisch, und ich lege den Fokus meiner Interventionen auf den Bereich der Körper- und Selbstwahrnehmung.

    Manchmal bieten wir auch eine gemeinsame „Helferrunde“ zu dritt mit dem Patienten bzw. der Patientin an. Zum Beispiel, wenn wir auch den gesetzlichen Betreuer einladen, der uns bzgl. der Finanz- und Arbeitssituation weiterhelfen kann, wenn es in diesem Bereich Zielsetzungen gibt.

    Die Verordnungen der Psychiater*innen betreffen meist die Patient*innengruppe, die gerade aus der Klinik gekommen ist. Damit sind diese Personen in einem akuteren Stadium im Gegensatz zu denen, die mit einer Verordnung von den Psychothera- peut*innen zu uns kommen. Gerade zu Beginn der Corona-Zeit, in der viele Hilfsangebote nicht erreichbar waren, war es umso wichtiger, weitere Tagesstrukturen zu erhalten und neu zu definieren. Wir haben daher in der Ergotherapie versucht, auf mindestens zwei Behandlungen pro Woche aufzustocken, damit es gemeinsam mit der Psychotherapie drei tagesstrukturierende Angebote in der Woche gab.

    Allein im Zeitraum von Januar bis September 2021 haben wir in der Praxis dreimal so viele Verordnungen im psychisch-funktionellen Bereich erhalten wie im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Psychotherapeut*innen nun auch Verordnungen ausstellen können. Damit sind Psychiater*innen in der Ausstellung entlastet. Denn sie kommen leider schnell an die Budgetgrenze der Verordnungen und können keine neuen Rezepte ausstellen, bzw. nur mit einer Pausierung dazwischen, wodurch es für die Patient*innen zu einer ungewollten Unterbrechung der Behandlung kommen kann.

    Judith Hügin

    Podcast

    Gemeinsam geht es besser

    In der aktuellen Podcastfolge von „Performance Skills“ spricht die Ergo- therapeutin Judith Hügin über ihre bisherigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Psycho- therapeut*innen. Dabei gibt sie unter anderem Tipps, wie der Kontakt zwischen den beiden Professionen zustande kommen und gelingen kann. Einfach QR-Code scannen und reinhören!

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    „In der Ergotherapie können Patient*innen das bei mir Erlernte direkt im Alltag umsetzen“ Manush Bloutian-Walloschek, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Wetter

    Kinder- und Jugendlichenpsychothera-peut*innen betreiben in ihrer Arbeit tagtäglich Case Management. Sie sind unter anderem mit Kinderärzt*innen, Schulen, dem Jugendamt, Ergotherapeut*innen, Heilpäda- gog*innen und Beratungsstellen vernetzt. Das intensive Arbeitsbündnis, das während der regelmäßigen und meist wöchentlichen Termine entsteht, macht die interdisziplinären Bedarfe der Patient*innen oft deutlich sichtbar.

    Durch die Möglichkeit der Ergotherapie-Verordnung wird dieses Case Management der Psychotherapeut*innen nun auch adäquat in der Heilmittel-Richtlinie abgebildet – meines Erachtens ein längst überfälliger Schritt des Gesetzgebers. Die Ergotherapie kann ein wichtiges Instrument für die Unterstützung der Handlungsfähigkeit der Patient*innen im Alltag darstellen. Besonders effektiv kann dies gelingen, wenn die ergotherapeutische Behandlung in einen psychotherapeutischen Gesamtbehandlungsplan eingebettet ist. So können die Behandlungsfortschritte sinnvoll aufeinander aufbauen und sich ergänzen.

    Ein Ansatz für die Kombination der Behandlungen kann darin liegen, dass die Problembereiche in der Psychotherapie herausgearbeitet und entsprechende Denk- und Verhaltensänderungen vorbereitet werden. In der Ergotherapie können dann dafür notwendige Fertigkeiten erarbeitet und alltägliche Durchführungshindernisse beseitigt werden. Die Bundespsychotherapeutenkammer fasst das folgendermaßen zusammen: „Während der Schwerpunkt der Psychotherapie auf der Erarbeitung der Inhalte im Gespräch liegt, fokussiert Ergotherapie auf die Handlungs- und Durchführungsebene.“

    Ein Fokus der verhaltenstherapeutischen Arbeit liegt beispielsweise auf der Veränderung von Verhaltensweisen und der Umstrukturierung von dysfunktionalen Kognitionen sowie Glaubenssätzen. So könnten Themen, die in der Psychotherapie bearbeitet werden, in der Ergotherapie mit gestalterischen Mitteln noch einmal abgehandelt und Verhaltensübungen könnten aktiv umgesetzt werden.

    Meine erste Ergotherapie-Verordnung: ein ganz besonderer Fall

    Johanna* ist meine erste blinde Patientin. Von ihr erfahre ich, wie schwierig es ist, als Mensch mit Sehbehinderung richtige Hilfen zu erhalten. Denn die Wege zur Unterstützung sind oft kompliziert und nicht barrierefrei, und die Besuche beim Arzt sind zu kurz, um deutlich zu machen, was sie braucht. Durch die intensive gemeinsame Therapie lerne ich Johanna und ihre Bedarfe zunehmend kennen.

    In der psychotherapeutischen Behandlung erarbeiten wir Angstbewältigungsstrategien und bauen Unsicherheiten und dysfunktionale Denkmuster ab. Ziel ist der Aufbau von Selbstwirksamkeit sowie das Erlernen neuer, funktionalerer Verhaltensmuster. Die Psychotherapie kann also entscheidende Dinge vorbereiten, und oft gelingt den Patient*innen auch der Alltagstransfer ausreichend. Bei Johanna wurde allerdings deutlich, dass mehr Unterstützung notwendig ist. Sie braucht Anleitung – jemanden, mit dem sie die neu erarbeiteten Verhaltensmuster direkt im Alltag umsetzen und trainieren kann, also eine direkte Anleitung, um handlungsfähiger zu werden. In ihrem Fall geht es um „lebenspraktische Fähigkeiten“ – insbesondere im Bereich Orientierung und Mobilität. Überdies wird die Patientin mit der Ergotherapeutin Strategien zur Symptomkontrolle sowie Entspannungsverfahren einüben. Hier ergibt sich eine Kombination aus psychisch-funktioneller sowie sensomotorisch-perzeptiver Behandlung.

    Das Ausfüllen der Verordnung war etwas umständlich, und ich hatte das Gefühl, zu viel Text auf das kleine Heilmittelformular gequetscht zu haben. Von der Ergotherapeutin erhielt ich jedoch ein äußerst positives Feedback: „Vielen Dank. So eine ausführliche und handlungsbezogene Verordnung habe ich noch nie erhalten. Super!“

    Und auch Johanna ist mit der Kombination zufrieden und macht durch die multiprofessionell kombinierte Therapie deutliche Fortschritte.

    Manush Bloutian-Walloschek

    *Name von der Redaktion geändert

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    „Eine Win-win- Situation für alle“ Melanie Sayferth-Frank, Ergotherapeutin aus Wusterhausen

    Die Zusammenarbeit mit den Psychotherapiepraxen in unserer ländlichen Region gestaltet sich leider noch etwas schleppend und nicht in Form von Verordnungen für Ergotherapie. Zum einen liegt es an der mangelnden Aufklärung über die Möglichkeiten der Ergotherapie. Zum anderen daran, dass viele Psychotherapeut*innen gar nicht wissen, was sie verordnen sollen. Es ist ja leider weitläufig verbreitet, dass wir Ergotherapeut*innen „nur basteln“. Dabei ergänzen sich unsere Berufsgruppen auf ganz effektive Weise.

    Aus meiner 14-jährigen Erfahrung als niedergelassene Ergotherapeutin kann ich berichten, dass die Ergotherapie und die Psychotherapie zum Wohle der Patient*innen noch viel intensiver miteinander arbeiten sollten und könnten. Einige Therapiemethoden und Herangehensweisen überschneiden sich, jedoch sind sie durch die Kompetenzbereiche deutlich voneinander getrennt.

    In der Ergotherapie arbeiten wir keine Traumata auf und betreiben auch keine Psychoanalyse. Wir helfen den Patient*innen dabei, sich zu fokussieren, zu konzentrieren und an der Ausdauer zu arbeiten. Einige Kolleg*innen der Ergotherapie wenden Entspannungsmethoden wie autogenes Training, progressive Muskelentspannung und Fantasiereisen an. Es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, die Gefühlswelt der Patient*innen zu analysieren. Diese Aufgabe liegt im Kompetenzbereich der Psychotherapeut*innen.

    Oft resultieren aus den seelischen Beschwerden zusätzlich körperliche Einschränkungen. Hier sind wir Ergotherapeut*innen gefragt. Denn wenn es körperlich schmerzt, kann man sich auch nur schwer auf die Heilung der Psyche konzentrieren. Ergotherapie stellt keinesfalls einen Ersatz für die Psychotherapie dar, sondern eine sinnvolle Ergänzung. Daher sehe ich in Vorbereitung, Nachsorge, Überbrückung und Unterstützung die Aufgaben unserer Berufsgruppe.

    Vorbereitung: Eine 57-jährige Patientin wurde von ihrer Psychiaterin in die Ergotherapie überwiesen. Der Auftrag laut Verordnung war hierbei das Erlernen von Entspannungsmethoden. In ihrem damaligen Zustand war die Patientin jedoch nicht in der Lage, diese zu erlernen, da sie in der Spirale ihres Leidensdrucks festgehalten war. Die Frage, ob sie zeitgleich auch psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm, verneinte sie.

    Nach telefonischer Rücksprache mit der Psychotherapeutin stellte sich heraus, dass die Defizite in Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit die Weiterarbeit der Psychotherapie behinderten. Wir vereinbarten, in der Ergotherapie an diesem Thema zu arbeiten. Da ein Erlernen von Entspannungsmethoden zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war, wurde im kreativ-gestalterischen Bereich gearbeitet. Der Patientin gelang es zunehmend, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und fokussieren, weswegen sie ihre psychotherapeutische Behandlung bald wieder in Anspruch nehmen konnte.

    Überbrückung: Manche Kinder fallen durch aggressives Verhalten, unkonzentriertes Arbeiten oder Verweigerung auf. Dann kann Psychotherapie helfen. Leider sind in unserer Region die Psychotherapiepraxen rar gesät und Wartezeiten von sechs Monaten bis zu einem Jahr keine Seltenheit. Dann kann eine ergotherapeutische Behandlung als Überbrückung sinnvoll sein, bis das Kind feste Psychotherapietermine erhalten kann.

    Nachsorge: Viele Patient*innen haben nach jahrelanger Psychotherapie oft das Gefühl einer Leere. Die seelischen Wunden scheinen aufgearbeitet. Dann kann der Einsatz der Ergotherapie als Nachsorge sinnvoll und hilfreich sein. Es werden Ziele gefestigt und neue Anreize für die Alltagsgestaltung der Patienten*innen erarbeitet.

    Unterstützung: Besonders nach einem Burnout und in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen kann die nur einmal wöchentlich stattfindende Psychotherapie zu wenig sein. Mit einer guten Absprache zwischen allen Beteiligten wäre eine deutliche Besserung für die Patient*innen zu erreichen. Wenn da nicht manchmal der Konkurrenzgedanke wäre. Leider geschieht dies häufiger, als man glaubt, da es immer noch zu selten zu Absprachen zwischen den Professionen kommt.

    Es geht aber auch anders: Ein 37-jähriger Patient kommt schon viele Jahre zur Ergotherapie. Laut Verordnung hat er ADHS. Allerdings berichtete er auch von seinen Diagnosen der Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression und einigen mehr. Sein Redebedarf nimmt die gesamte Therapiestunde ein. Um effektiver an der Erreichbarkeit der Therapieziele arbeiten zu können, kam es zu einem Gespräch zwischen mir, dem Psychotherapeuten und dem Patienten. Die Zielsetzungen der jeweiligen Therapien wurden besprochen und Ergänzungsmöglichkeiten und Änderungen in der Herangehensweise ausgelotet. Das hat den Vorteil, dass nun effektiver in beiden Bereichen gearbeitet werden konnte. Nach dem Teamgespräch wurde der Therapieplan des Patienten in der Ergotherapie so umgestaltet, dass ein Anfangs- und Endritual eingeführt wurde, bei dem er erzählen konnte. Dazwischen war es ihm möglich, konzentriert an seinen Zielsetzungen zu arbeiten. Durch die neue Struktur wirkte der Patient in der Therapie deutlich konzentrierter und ausdauernder.

    Melanie Sayferth-Frank


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    Publication History

    Article published online:
    04 January 2022

    © 2022. Thieme. All rights reserved.

    Georg Thieme Verlag KG
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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    „Bei der Ausstellung der Verordnungen. gab es Unsicherheiten, die wir. gemeinsam beseitigen konnten“. Judith Hügin, Ergotherapeutin und fachliche Leitung einer Ergotherapiepraxis in Lörrach
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    „In der Ergotherapie können Patient*innen das bei mir Erlernte direkt im Alltag umsetzen“ Manush Bloutian-Walloschek, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Wetter
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    „Eine Win-win- Situation für alle“ Melanie Sayferth-Frank, Ergotherapeutin aus Wusterhausen