Im Kontext der globalen Bevölkerungsalterung nimmt die Bedeutung von Demenz als öffentliches
Gesundheitsproblem zu [1]. Im Jahr 2050 wird mehr als jeder fünfte Mensch der Weltbevölkerung 60 Jahre und
älter sein – das sind mehr als doppelt so viele wie heute [2]. Dann wird die Zahl älterer Menschen die der Kinder weit übertreffen [3].
Die Bevölkerungsalterung ist bedingt durch sinkende Geburtenraten und mehr noch durch
die Zunahme der Lebenserwartung. Dabei ist die Langlebigkeit zunächst eine Erfolgsgeschichte,
die wichtige Errungenschaften in Bereichen wie Ernährung, Bildung und Einkommen, Hygiene
und Medizin widerspiegelt [4]. Aber Langlebigkeit hat auch Nachteile: Leichte altersbedingte Beeinträchtigungen
und chronische Erkrankungen nehmen weltweit zu [5]
[6]. Ein längeres Leben bedeutet nicht zwangsläufig ein gesundes Leben [7]. Etwa 80 % der über 65-Jährigen haben mindestens eine chronische Erkrankung, zwei
Drittel haben zwei oder mehr [1]. Die demografische Entwicklung stellt Gesundheitssysteme vor Herausforderungen,
vor allem mit Blick auf kognitive Störungen und Demenz [8]. Demenzsyndrome treten mit dem Alter häufiger auf und sind in der Regel gekennzeichnet
durch eine fortschreitende Zunahme neurokognitiver Beeinträchtigungen und Verluste
grundlegender Funktionen des täglichen Lebens, die zu einem Pflegebedarf, häufig Institutionalisierung
und schließlich zu einem vorzeitigen Tod führen [9]
[10]. Während derzeit über 50 Millionen Menschen weltweit mit Demenz leben, gehen Schätzungen
von einem Anstieg auf 152 Millionen bis zum Jahr 2050 aus [11]. Demenz geht mit einer hohen Belastung aller Beteiligten einher, inklusive der (pflegenden)
Angehörigen und professionellen Pflegekräfte. Die globalen Kosten pro Jahr entsprechen
aktuell 1 % des Bruttoweltprodukts [12]. Somit stehen auch Wirtschaftssysteme künftig stärker unter Druck.
Die beschriebene epidemiologische Situation, die auch dem Fehlen effektiver Behandlungsmöglichkeiten
geschuldet ist, führt einen Handlungsauftrag an verschiedene Akteure mit sich, darunter
federführend Politik, öffentliche Gesundheit und Gesundheitsversorgung sowie Forschung
und Bildung. Hoffnung machen aktuell Public-Health-Ansätze zur Risikoreduktion von
kognitivem Abbau und Demenz, die auch Optimismus für die Möglichkeiten der Primärprävention
von Demenz erlauben. Ein auf Schätzungen basiertes Lebensphasen-Modell der Demenzprävention
von der Lancet Comission on Dementia Prevention, Intervention and Care hebt zwölf
modifizierbare Risikofaktoren von kognitivem Abbau und Demenz hervor, die gemeinsam
einen großen Anteil der Demenzerkrankungen weltweit ausmachen. Diese Faktoren sind:
geringe Bildung in der frühen Lebensphase; Hörverlust, Schädel-Hirn-Trauma, Bluthochdruck,
Fettleibigkeit, übermäßiger Alkoholkonsum, Diabetes mellitus, Depression, Bewegungsmangel,
Rauchen, soziale Isolation und Belastung durch Luftverschmutzung [13]. Wäre man in der Lage, diese zwölf Risikofaktoren zu eliminieren, ließen sich mindestens
40 % aller Demenzerkrankungen verhindern. Die Evidenz zu modifizierbaren Risikofaktoren
stammt zum Großteil aus epidemiologischer Forschung, die auf longitudinalen Kohortenstudien
basiert – ein Feld, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasant gewachsen ist und
mit exponentieller Geschwindigkeit neues Wissen liefert. Der Raum für die Identifizierung
weiterer modifizierbarer Risikofaktoren ist nicht erschöpft. Es gibt Initiativen,
die neben den zwölf Faktoren der Lancet-Kommission, weitere evidenzbasierte Faktoren
betrachten. Der „Lifestyle for Brain Health Index“ (LIBRA), zum Beispiel, ist ein
validierter Score, der neben etablierten Risiken wie körperliche Inaktivität, Depressivität
und Diabetes, auch Hypercholesterinämie, Nierenerkrankungen, koronare Herzerkrankungen,
Ernährungsstile und Mangel an kognitiv anregenden Aktivitäten wie fordernde berufliche
Tätigkeiten berücksichtigt [14]
[15]. Aktuelle Studien heben die Bedeutung von Schlafmangel für Demenz hervor [16]. Modifizierbare Umweltfaktoren gewinnen zunehmend an Bedeutung [17]. Neben Luftverschmutzung untersuchen Studien den Einfluss von Verkehrslärm [18], Grün- und Erholungsflächen in urbanen Gebieten [19] und Hitzewellen [20] auf die Entwicklung von kognitiven Störungen und Demenz. Es ist stark anzunehmen,
dass der nächste Report der Lancet-Kommission das Demenzpräventionsmodell um einige
dieser Faktoren ergänzen wird und damit der Schätzer über den Anteil möglicher vermeidbarer
Demenzfälle nach oben korrigiert wird. Insgesamt ergibt sich ein enormes Präventionspotenzial
und aus Public-Health-Perspektive muss es Anspruch sein, Wege zu finden, dieses Potenzial
maximal zu nutzen.
Eine wachsende Zahl von Studien nutzt die epidemiologische Evidenz zu Risikofaktoren
für Interventionen, die darauf abzielen, kognitive Funktionen zu erhalten oder zu
verbessern und damit Demenz zu verzögern oder im besten Fall gar zu verhindern [21]. Während sich frühe Studien auf einzelne dieser Faktoren konzentrierten, untersucht
eine zunehmende Anzahl randomisierter kontrollierter Studien nun die Wirksamkeit komplexer
Lebensstilinterventionen, d. h. gleichzeitige Behandlung mehrerer modifizierbarer
Risikofaktoren bei Personen mit erhöhtem Demenzrisiko und/oder in präklinischen oder
prodromalen Demenzstadien. Die Pionierstudie, die Finnish Geriatric Intervention Study
to Prevent Cognitive Impairment and Disability (FINGER), konnte die Wirksamkeit einer
multikomponenten Lebensstilintervention auf die kognitive Funktion nachweisen [22]. Andere lebensstilbasierte Studien aus Europa, die französische Multi-Domain-Alzheimer-Präventionsstudie
(MAPT) und die niederländische Studie zur Prävention von Demenz durch Intensive Gefäßversorgung
(Pre-DIVA), lieferten weniger schlüssige Ergebnisse, zeigten jedoch Vorteile für die
kognitive Funktion in bestimmten Subgruppen mit erhöhtem Demenzrisiko [23]
[24]
[25]. Diese vielversprechenden, aber immer noch inkonsistenten Ergebnisse haben zur Gründung
eines internationalen Konsortiums rund um den Globus geführt: World-Wide FINGERS (WWFINGERS)
vereint Lebensstilstudien gegen kognitiven Abbau und Demenz aus über 40 Ländern [21]. In Deutschland ist AgeWell.de die erste groß angelegte, multizentrische Studie,
die über zwei Jahre hinweg eine Lebensstilintervention mit verschiedenen Komponenten
bei älteren Hausarztpatienten mit erhöhtem Demenzrisiko evaluiert [26]. In wenigen Jahren kann damit eine umfassende Evidenz zur Effektivität von Lebensstilinterventionen
bei Risikopersonen erwartet werden. Hinweise, dass modifizierbare Risikofaktoren einen
erheblichen Impact haben, liefern wiederholte Kohortenstudien, die die Demenzinzidenz
in verschiedenen Geburtsjahrgängen vergleichen. Mehrere Studien deuten auf einen Rückgang
der Neuerkrankungsrate in einkommensstarken Ländern, was vor allem mehr Bildung und
besseren Behandlungsmöglichkeiten von kardiovaskulären Grunderkrankungen zugeschrieben
wird [27]. Dem gegenüber steht ein Anstieg der Prävalenz von Demenz in einkommensschwachen
Ländern, was mit dem hohen Auftreten von Adipositas, Bluthochdruck und Diabetes in
Verbindung gebracht wird. Das macht deutlich, dass neben den Möglichkeiten der Verhaltensprävention,
sprich der Maximierung der Gehirngesundheit durch einen gesunden Lebensstil, die Chancen
durch Verhältnisprävention stärker in den Vordergrund rücken müssen. Die Prävalenz
modifizierbarer Risikofaktoren variiert stark zwischen und innerhalb von Ländern,
aber sie konzentrieren sich besonders auf soziale Ungleichheiten. Ein Index zu sozialer
Deprivation (einschließlich Bildung, Einkommen, Vermögen, Krankenversicherungsstatus,
Arbeitsplatzstabilität und Nachbarschaftssicherheit) basierend auf US-amerikanischen
und europäischen Daten zeigte eine Assoziation mit geringerer kognitiver Leistungsfähigkeit
und beschleunigtem kognitiven Abbau [28]. Die Ergebnisse der Studie weisen auf die Bedeutung sozialer Determinanten für die
Gehirngesundheit hin – mit Implikationen für die Risikoreduktion von kognitivem Abbau
und Demenz. Vor allem strukturelle soziale Determinanten (z. B. Bildung und Einkommen,
Zugang zur Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung) sind wichtige Grundbedingungen
für Ungleichheiten in der Gehirngesundheit und tragen maßgeblich dazu bei, wer in
welchem Alter ein Demenzsyndrom entwickelt. Es bedarf Strategien, die die Verhältnisprävention
priorisieren und somit darauf abzielen, Umweltbedingungen zu schaffen, die es dem
Individuum ermöglichen, einen gesunden Lebensstil zu praktizieren – dieser Ansatz
kommt nicht nur der Gesellschaft insgesamt, sondern insbesondere sozial benachteiligten
Gruppen zugute. Aus Public-Health-Perspektive haben sozial benachteiligte Gruppen
möglicherweise den größten Raum für die Verbesserung der Gehirngesundheit. Deckers
et al. [29] zeigten, dass die sozioökonomischen Unterschiede im Demenzrisiko teilweise durch
Unterschiede in den modifizierbaren Lebensstilfaktoren erklärt werden konnten – und
zwar bis zu 52 % zwischen der höchsten und der niedrigsten Vermögensgruppe. Bei kognitiv
gesunden Personen konnten 12–23 % der Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit
zwischen hohem sozioökonomischem vs. niedrigem sozioökonomischem Status auf veränderbare
Gesundheits- und Lebensstilfaktoren zurückgeführt werden [30]. Deshalb müssen wir anerkennen, dass es Grenzen gibt, was Lebensstilinterventionen
für den Einzelnen erreichen können, wenn kontextuelle Faktoren nicht berücksichtigt
werden. Das Potenzial zur Verringerung des Demenzrisikos könnte maximiert werden,
wenn auch die sozialen Determinanten der Gehirngesundheit berücksichtigt würden: Gleiche
Chancen für eine gute Bildung, gute Arbeitsplätze mit angemessenem Einkommen und universeller
Zugang zur Gesundheitsversorgung (neben anderen Faktoren) sind Voraussetzungen für
Lebensbedingungen, die gesunde Lebensstile ermöglichen, was wiederum der Gehirngesundheit
zugutekommt. Die Leitlinie der Weltgesundheitsorganisation zur Risikoreduktion von
kognitivem Abbau und Demenz [31] konzentriert sich nur auf individuelle Lebensstilfaktoren und den Umgang mit gesundheitlichen
Risikofaktoren. Damit bleiben Möglichkeiten ungenutzt. Public Health kann an dieser
Schnittstelle ansetzen: Verhältnisprävention ist eine Voraussetzung für effektive
Verhaltensprävention. Wenn das modifizierbare Risiko für kognitiven Abbau und Demenz
dahingehend ganzheitlicher betrachtet wird, können die Fallzahlen von Demenz möglicherweise
signifikant verringert werden. Hierfür bedarf es aber nicht nur starker Public-Health-Strategien,
sondern einer Gesundheitspolitik, die die Chancen erkennt und nutzt.