Organsystemübergreifend und vernetzt denken – gerade in der Physiotherapie in der
Inneren Medizin spielt das eine große Rolle. Dass hier viele Organsysteme ineinandergreifen,
erkennt man beispielsweise am respiratorischen System. So sind die Lungen vor allem
für die Sauerstoffaufnahme und die Kohlendioxidabgabe zuständig. Dieser Prozess erfolgt
im Lungenparenchym, dem funktionellen Anteil der Lungen. Dort findet die „äußere Atmung“,
der Gasaustausch, statt. Das Herz-Kreislauf-System ist für den Transport zum und vom
Zielgewebe weg zuständig. Im Zielgewebe findet die „innere Atmung“ statt [1]. Ohne Grundkenntnisse dieser Körperstrukturen und -funktionen sowie der pathophysiologischen
Veränderungen durch eine Erkrankung ist ein klinischer Denkprozess, ein Clinical Reasoning
(CR), nicht möglich.
Möchten Therapierende nun die Situation eines Patienten oder einer Patientin mit einer
Lungenerkrankung erfassen, braucht es Fakten. Doch wie viele Informationen benötigt
man, um im CR-Prozess Hypothesen zu formulieren und diese danach zu bestätigen oder
zu verwerfen?
Struktur- und Funktionshypothese
Struktur- und Funktionshypothese
Markus Schenker differenziert in seinem Buch „Analytische Atemphysiotherapie“ zur
Hypothesenformulierung in der Pneumologie die Strukturhypothese und die Funktionshypothese.
Eine frische oder chronische Läsion einer Struktur (Strukturebene) hat Auswirkungen
auf die Funktion (Funktionsebene). Ein operativer Eingriff am Thorax stört die strukturelle
Integrität: Es treten Schmerzen bei Bewegung auf, die Atembewegungen sind meistens
vermindert, es folgt eine Minderbelüftung. Auch eine chronische Vernarbung (Remodeling)
der Atemwege bei sich wiederholenden Entzündungen ist eine strukturelle Veränderung.
Eine Strukturhypothese beschreibt die Läsion einer oder mehrerer Strukturen [2]. Die Verteilung der Luft in den Lungen, die Belüftung, der Gasaustausch und die
Durchblutung gehören zu den Funktionen der Lunge. Eine Funktionshypothese beschreibt
die Störung einer oder mehrerer dieser Funktionen [2].
„Lungenmobil Merz“ als didaktische Hilfe
„Lungenmobil Merz“ als didaktische Hilfe
Eine didaktische Hilfe zur Berücksichtigung wichtiger Faktoren während der Beurteilung
einer Patientensituation in der Pneumologie unter Einschluss der verschiedenen Ebenen
der ICF ist das „Lungenmobil Merz“ ([ABB. 1]).
ABB. 1 Das „Lungenmobil Merz“ dient als didaktische Hilfe bei der Therapieplanung.
Quelle: Philippe Merz, Basel
Die Räder des Lungenmobils sind Parameter der klinischen Untersuchung. Der Einbezug
all dieser Parameter unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren erlaubt Therapierenden
eine umfassende Beurteilung der klinischen Situation.
Die Spirometrie gibt Auskunft über die Leitfähigkeit der Atemwege und die Entfaltung
der Lunge. Die Blutgasanalyse macht eine Aussage über den Gastransport und das Säure-Basen-Gleichgewicht.
Diese Räder des Lungenmobils werden der Funktionsebene zugeordnet. Das Röntgenbild
und die bildgebenden Verfahren stellen Strukturen dar. Sie geben einen Einblick in
die Strukturebene. Die Klinik und das Verhalten in der Belastung ermöglichen eine
Einschätzung der Belastbarkeit. Das Beachten der Achsen und Verbindungen des Lungenmobils
schult die Vernetzung von Klinik, Strukturebene und Funktionsebene verschiedener Organsysteme.
Es erlaubt den Übertrag auf die Aktivitäts- und Partizipationsebene.Die Achsen des
Lungenmobils sind Verbindungen der Ebenen:
-
Röntgenbild–Blutgaswerte–Spirometrie (Bezug Struktur – Funktion)
-
Röntgenbild–Klinik–Auskultation–Belastungstest (Bezug Struktur – klinisches Muster
– Funktion)
-
Spirometrie – Belastungstest (Lungenfunktion und Auswirkung auf die Belastbarkeit)
-
Spirometrie – Blutgaswerte (Lungenfunktion und Auswirkung auf den Gasaustausch)
Das Lenkrad hat eine Wechselbeziehung mit den Rädern. Die Problemanalyse als Lenkrad
verbindet und vernetzt die verschiedenen Parameter miteinander. Als Ganzes vermittelt
das Lungenmobil ein Bild des aktuellen Zustands von Patient*innen auf der Struktur-
und Funktionsebene sowie ein Bild der Belastbarkeit mit Berücksichtigung der Kontextfaktoren.
In das Lungenmobil einzusteigen, verlangt eine Auseinandersetzung mit der Struktur
und der Funktion sowie der Pathophysiologie der Lungen und des Herz-Kreislauf-Systems.
Weitere durch Komorbidität bedingte Faktoren und Organsysteme werden auf der Fahrt
integriert.
Fahren mit dem Lungenmobil braucht Übung durch Reflexion. Der Gewinn liegt im klaren
Abstecken der therapeutisch sinnvollen Interventionen. Das Lungenmobil ermöglicht
ein problemorientiertes Handeln sowie ein selbstkritisches Überprüfen der gewählten
Maßnahmen. Das folgende Fallbeispiel zeigt dieses Vorgehen auf.
Fallbeispiel – Anamnese
Der 62-jährige Herr Müller, dessen Name redaktionell verändert wurde, leidet an COPD
mit dem Schweregrad GOLD 2 (Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease).
Er kommt mit folgender Verordnung zur Physiotherapie: Verbesserung der Muskelfunktion
und der kardiopulmonalen Funktion sowie Mukusmobilisation. Bei der ersten Begegnung
verzieht Herr Müller das Gesicht und klagt über heftige, einstechende Schmerzen im
rechten Thorax. Er sagt: „Das kommt von den vielen Hustenattacken.“ Der übergewichtige
Patient hat Mühe, sein T-Shirt auszuziehen. Die Bewegung ist trotz der Einnahme von
Schmerzmitteln für ihn sehr schmerzhaft. In den letzten Monaten war der 62-Jährige
oft mit seinem Motorrad unterwegs. Seinen Tag verbringt er überwiegend sitzend am
PC. Die Nachtruhe sei wegen des Hustens und einer Schlafapnoe gestört. Er hat in Kürze
einen Termin im Schlaflabor. Im Anschluss daran wird er mit großer Wahrscheinlichkeit
eine Atemhilfe für die Nacht erhalten. Weiter erzählt der Patient, dass das Sekret
nur schwer mobilisierbar sei, eine zähe Konsistenz besitze und dass das Abhusten ihn
ermüde. Die Inhalation mit bronchienerweiternden Medikamenten zweimal am Tag schildert
er als unproblematisch.
Befund
Herr Müllers Befund setzt sich aus folgenden diagnostischen Maßnahmen zusammen:
-
Inspektion: In Ruhe ist das Atemmuster bis auf den einen oder anderen Aussetzer (der Patient
vergisst zu atmen) unauffällig. Die periphere Sauerstoffsättigung (SpO2) ist bei 94 Prozent. Der regelmäßige Puls bei 89. In der Belastung atmet Herr Müller
durch den Mund. Er wird kurzatmig. Dabei sinkt die SpO2 und die Herzfrequenz steigt. Der Patient erholt sich innerhalb von 2–3 Minuten vollständig.
Er hustet und würgt nach der Belastung, bis sich etwas Schleim löst.
-
Palpation: Das Gewebe am Thorax ist prall und fest, die Muskulatur verspannt. Die thorakale
Atembewegung auf der rechten Seite ist vermindert.
-
Auskultation: Die Lungen sind gut belüftet, die Atemgeräusche eher verstärkt. Das ist ein Zeichen
für einen erhöhten Widerstand in den größeren Atemwegen durch zähes Sekret.
-
Belastungstest: Im „Sit-to-Stand-Test“ (Dauer: 1 Minute) schafft der Patient nur die Hälfte des Solls
(18 Mal statt 36). Er gibt als limitierende Faktoren die Beinmuskulatur und die Atmung
an.
-
Fragebogen: Beim Ausfüllen des COPD Assessment Tests, CAT, erreicht der Patient einen Gesamtscore
von 21 (COPD ASSESSMENT TEST, CAT). Das spricht für eine dauerhaft eingeschränkte
Lebensqualität und Belastbarkeit.
Physiotherapeutische Diagnose und Prognose/Risiken
Physiotherapeutische Diagnose und Prognose/Risiken
Herr Müller kommt hilfesuchend in die Therapie. Er ist mit zähem Sekret und Hustenattacken
konfrontiert. In der Folge schmerzen seine Rippen. Sein Übergewicht und sein Bewegungsmangel
deuten auf eine Dekonditionierung hin. Außer der regelmäßigen Inhalation, die er gut
ausführt, scheinen das Husten- und Sekretmanagement sowie seine Wahrnehmung der Krankheitssymptome
ungenügend zu sein.
-
Strukturhypothese 1: Die Rippenwirbelgelenke sind gereizt.
-
Strukturhypothese 2: Das Übergewicht schränkt den Bewegungsradius ein.
-
Funktionshypothese 1: Die Sekretelimination ist gestört. Die Konsistenz des Sekrets
sowie die Technik sollten verbessert werden.
-
Funktionshypothese 2: Die Schlafapnoe ist ein Zeichen der Obstruktion der oberen Atemwege.
Der Patient ist offen für konkrete Maßnahmen, die seine Lebensqualität verbessern.
Er war früher Leistungssportler und kann sich auch vorstellen, ein Training zu absolvieren.
Behandlungsziele, -aufbau und Evaluationskriterien
Behandlungsziele, -aufbau und Evaluationskriterien
Als Nahziele formuliert sein Physiotherapeut die Reduktion der Schmerzen thorakal
durch die Anlage eines elastischen Rippentapes sowie die Reduktion des Gewebewiderstands.
Mittelfristige Ziele sind eine verbesserte Atemwahrnehmung und Hustenkontrolle durch
den Einsatz eines einfachen PEP-Systems (PEP: Positive Expiratory Pressure – exspiratorische
Bremse) sowie die Atemwahrnehmung unter Belastung.
COPD Assessment Test (CAT)
COPD-Fragebogen
Der COPD Assessment Test (CAT) ist ein validierter Fragebogen zur Beurteilung und
Verlaufskontrolle der COPD. Seine acht Fragen umfassen neben den unmittelbaren Symptomen
von Seiten der Lunge auch allgemeine, den Alltag bestimmende Beschwerden. Seine Sensitivität
ist ausreichend, um Veränderungen im Krankheitsbild zu erfassen.
Erreichen Patient*innen weniger als 10 Punkte, bedeutet das, dass die meisten Tage
gut sind; die COPD hindert sie zwar an der einen oder anderen Aktivität, dauerhafte
Beschwerden bestehen jedoch nicht. Sinnvoll ist die Wahrnehmung körperlicher Aktivität
(Lungensport).
Bei über 30 Punkten sind die Lebensqualität und Belastbarkeit sehr stark und dauerhaft
eingeschränkt; hier müssen alle verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten (Beendigung des
Tabakkonsums, Medikamente, Lungensport, Sauerstoffbehandlung) hinsichtlich eines möglichen
Einsatzes geprüft werden [3].
Den Test findet man online unter: bit.ly/Test_CAT
Langfristige Ziele sind die Teilnahme an einem Programm der pulmonalen Rehabilitation
mit Patientenedukation und Trainingseinheiten sowie die apparative Versorgung während
der Nacht. Folgende Evaluationskriterien legt er mit seinem Therapeuten fest:
-
Schmerzen mittels Schmerzskala
-
Anzahl der Hustenattacken/Mobilisierbarkeit des Sekrets
-
Gesamtscore beim CAT
-
Score beim „Sit-to-Stand-Test“
Ausschnitt aus einer Behandlungssequenz
Ausschnitt aus einer Behandlungssequenz
Im Folgenden ist ein exemplarischer Ausschnitt aus einer Behandlungssequenz dargestellt.
Der Einsatz eines einfachen Strohhalms – im Sinne einer PEP-Atmung, die der Patient
in einer atemerleichternden Stellung durchführt, hat die Atemwahrnehmung verbessert
([ABB. 2]). Die Atmung wurde bewusster durchgeführt. Außerdem hat der Strohhalm eine Atemvertiefung
ermöglicht: Nach einer längeren Exspiration folgte eine vertiefte Einatmung. Und schließlich
hat das Hilfsmittel eine kontrollierte und verlängerte Ausatmung ausgelöst. Das ist
wichtig, da die verlängerte Atmung das Zentralisieren von Sekret unterstützt und das
Abhusten erleichtert.
ABB. 2 Einsatz von Positive Expiratory Pressure (PEP)
Quelle: © Philippe Merz, Basel
Der Patient war von dem einfachen Hilfsmittel „Strohhalm“ überzeugt und hat ihn sofort
in seinem Alltag am Computer eingesetzt. In den folgenden Therapien hatte Herr Müller
immer einen Strohhalm dabei. Die erfolgreiche Atemwahrnehmung in Ruhe konnte in eine
kontrollierte Belastung im Sitz ([ABB. 3]) und später bei Belastung im Stand mit dem Theraband übernommen werden.
ABB. 3 Aktivierung im Sitz
Quelle: © Philippe Merz, Basel
Für die manuelle Bearbeitung des Gewebes aus einer atemerleichternden Stellung im
Sitz am Tisch sollte Herr Müller das Armgewicht auf Kissen abgeben. Das Lagern in
Flexionsstellung der Schultergelenke brachte den Brustkorb in eine Einatmungsstellung.
Die Hand des Therapeuten folgte den Atemexkursionen des Patienten und betonte danach
die Exspiration mit einer Verschiebung des Gewebes zur Wirbelsäule hin. Herr Müller
reagierte spontan mit einer vertieften Inspiration beim nächsten Atemzug. Im Anschluss
ging es bei Herrn Müller darum, dass er Bewegung und Atmung miteinander koordiniert:
Mit der Flexionsstellung in der Wirbelsäule kombinierte Herr Müller die Einatmung;
mit dem extensorischen Aufrichten sollte er die Exspiration kombinieren.
Fazit
Menschen wie Herr Müller, die sehr motiviert in die Behandlung kommen und selbstverantwortlich
üben, bringen gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung mit. Gibt man
ihnen Hilfsmittel an die Hand, die sie einfach in den Alltag integrieren können, überzeugt
das Patient*innen. Atemerleichternde Stellungen mit Gewichtabgabe und in einer Einatmungsstellung
erleichtern das Atmen und optimieren den Einsatz der Hilfsmittel. Mithilfe einer Wahrnehmungsschulung
befähigen Therapeut*innen die Patient*innen, in Ruhe und Belastung ihre Atmung zu
kontrollieren.
Philippe Merz