Psychiatr Prax 2022; 49(01): 8-10
DOI: 10.1055/a-1695-6019
Editorial

Wie erleben Nutzer*innen die Versorgung? Vom Mehrwert partizipativ-kollaborativer Forschung

How do Users Experience Psychiatric Care? The Value of Participatory-Collaborative Research
Sebastian von Peter
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
,
Rosa Glück
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
,
Lena Göppert
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
,
Jenny Ziegenhagen
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
,
Helene Krispin
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
,
Patrick Jänchen
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
,
Timo Beeker
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf
› Author Affiliations
 

Die Forderung nach Partizipation von Nutzer*innen und Bürger*innen in der Gesundheitsforschung ist in vielen Ländern (z. B. Kanada, USA, Großbritannien, Irland, Niederlande) zu einem festen Bestandteil von Gesundheitsreformen und Forschungsförderung geworden [1] [2] [3]. Auch in Deutschland wird dieses Kriterium zunehmend zu einer wissenschaftspolitischen Forderung [4] [5]. Partizipation meint dabei nicht ausschließlich Informationsvermittlung oder Beratung, sondern die Etablierung partnerschaftlicher Arbeitsprozesse [6]. Eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und kontinuierliche Reflexion des Forschungsprozesses in Hinblick auf Machtverhältnisse sind dabei entscheidend [7].

Im Bereich der seelischen Gesundheit gibt es vor allem in der anglo-amerikanischen Wissensland-schaft ein reichhaltiges Spektrum an unterschiedlichen Ansätzen und Traditionen, die, oft auch umstritten, der partizipativen Forschung zugerechnet werden: Neben nutzer- und betroffenengeleiteter Forschung [8] [9] können hier Ansätze der betroffenenkontrollierten [10] und kollaborativen Forschung [11] sowie Teile der Mad Studies [12] eingeordnet werden. Gegenüber diesen Entwicklungen gibt es in Deutschland einen deutlichen Nachholbedarf.

Im Co-Lab Psychische Gesundheiten* an der Medizinischen Hochschule Brandenburg [13] werden theoriebildende, angewandte und methodenreflexive Forschungsprojekte umgesetzt. Der Begriff Gesundheiten* wird im Plural und mit Asterisk genutzt, um unterschiedliche Formen des Befindens einzuschließen und um die Binarität psychisch krank/gesund zu hinterfragen. In der Mehrheit der Projekte des Co-Labs arbeiten Mitarbeiter*innen, die selbst Erfahrungen mit psychischen Krisen, Beeinträchtigungen, Erkrankungen, Normabweichungen und dem Versorgungssystem haben und die nachfolgend Forscher*innen mit Erfahrungsexpertise (= EE) genannt werden.

In den Jahren 2015–2020 wurden im Co-Lab zwei Evaluationsprojekte der Modellversorgung nach § 64b SGBV umgesetzt. Inzwischen gibt es 22 Modellprojekte, die durch eine budgetäre Abrechnung eine stärkere Flexibilisierung und Ambulantisierung der psychiatrischen Krankenhausversorgung erlauben [14]. Das Team des Projektes EvaMod64b (Laufzeit 2015–2016) [15] war nur durch Forscher*innen ohne EE besetzt, die 11 sog. struktur- und prozessbezogene Merkmale entwickelten, die wesentliche Abläufe der Modellversorgung fassen [14]. In der partizipativen Prozessevaluation der PsychCare-Studie (Modul B – Laufzeit 2017–2020) [16] arbeitete ein gemischtes Team aus Forscher*innen mit und ohne EE kollaborativ zusammen, wobei letztere auf der Basis ihrer reflektierten Positionalität und akademischen bzw. beruflichen Qualifikationen mitarbeiteten.

Ursprünglich zu Trainingszwecken wurde in der PsychCare-Studie das Material von 15 zentralen Fokusgruppen aus der EvalMod64b-Studie erneut und mithilfe einer an die Grounded Theory angelehnten Methode ausgewertet. Die Forscher*innen mit EE wurden dabei explizit gebeten, entlang ihrer Erfahrungsexpertise offen zu codieren. Als Ergebnis wurden dadurch 1) bereits vorhandene Codes neu definiert und 2) eine Menge neuer Codes entwickelt. Diese Codes wurden in einem theoriebildenden Prozess zu einem zweiten Merkmalssatz, den 12 sog. erlebensbezogenen Merkmalen weiterverarbeitet (Manuskript eingereicht), die, entsprechend der kollaborativen Zusammenarbeit des Forschungsteams, das Erleben der Modellversorgung aus Sicht von Nutzer*innen beschreiben.

In [ Tab. 1 ] finden sich beispielhaft Auszüge aus den Merkmalssätzen beider Studien. Während die Merkmale aus der EvaMod64b-Studie v. a. organisationsbezogene Anliegen aus Sicht von Mitarbeiter*innen fassen, greifen die Merkmale aus der PsychCare-Studie für Nutzer*innen relevante Themen auf. Entscheidend dabei ist, dass beide Merkmalssätze im Ursprung aus demselben Fokusgruppenmaterial entwickelt wurden, sodass wir die unterschiedliche Teamzusammensetzung – im ersten Fall nur Forscher*innen ohne EE, im zweiten Fall kollaborative Zusammenarbeit von Forscher*innen mit und ohne EE – für diese Unterschiede verantwortlich sehen ([ Tab. 1 ]).

Tab. 1

Unterschiede zwischen den Merkmalssätzen beider Studien, bedingt durch unterschiedliche Perspektivierung (s. Zeilen 1 und 2) und unterschiedliche Items (Zeilen 3 und 4).

struktur- und prozessbezogene Merkmale

(EvaMod64b-Studie)

erlebensbezogene Merkmale

(partizipative Prozessevaluation PsychCare)

Definition

Operationalisierung

Definition

Operationalisierung

Flexibilität im Settingwechsel

unproblematischer Wechsel Behandlungssetting (zeitnah, bürokratiearm)

1

Flexibilität

Ich habe verschiedene Möglichkeiten – eine Person kann den Behandlungsrahmen frei wählen und entsprechend seiner/ihrer Bedürfnisse nutzen.

Behandlerkontinuität

Implementierung einer team- und personbezogenen Kontinuität

2

Kontinuität

Ich muss nicht immer von vorne anfangen – eine Person erlebt Kontinuität von Personen, Orten und Abläufen.

freie Steuerung therapeutischer Maßnahmen

keine/weniger bürokratische Kontingenzen therapeutischer Entscheidungen

3

Autonomie

Ich bestimme selbst und werde darin unterstützt – eine Person erlebt sich selbstbestimmt und wird unterstützt, auch wenn die Mitarbeitenden nicht immer zustimmen.

berufsgruppenübergreifende Kooperation

Intensität der Kooperation zwischen den Berufsgruppen

4

Sicherheit

Ich bin nicht allein – eine Person erfährt während der Behandlung verlässliche Verfügbarkeit von Unterstützung und erlebt dadurch Halt und Sicherheit.

Darüber hinaus wurde im Rahmen der PsychCare Prozessevaluation deutlich, dass das Erleben von Nutzer*innen in klinischen Studiendesigns oft vernachlässigt wird. Während die Evaluation von Struktur-, Prozess- und Outcomequalität im Allgemeinen einen festen Platz hat, wird die Frage, wie ein Versorgungsangebot von Nutzer*innen konkret erlebt wird, oft nur auf Ebene der Prozessevaluation oder in Vorstudien verhandelt. Infolgedessen hat das Erleben von Nutzer*innen kaum oder gar keine Relevanz bzw. „power" für die Bewertung der Effektivität einer Intervention – ein Umstand, den die kollaborative Entwicklung der erlebensbezogenen Merkmale im Rahmen der partizipativen Prozessevaluation der PsychCare-Studie zu verändern sucht.

Zu diesem Zweck wurden die erlebensbezogenen Merkmale nach ihrer Entwicklung zum zentralen Instrument der Erhebung und Auswertung innerhalb der PsychCare-Prozessevaluation. Sie bildeten die Grundlage der Leitfadenentwicklung für die Umsetzung von problemzentrierten Interviews mit Nutzer*innen und wurden zu deduktiven Kategorien während der Auswertungsphase (Manuskript eingereicht). Außerdem wurde aus den Merkmalen ein standardisiertes Erhebungsinstrument entwickelt, das eine vergleichende Untersuchung zwischen Modell- und Regelversorgung ermöglichte (Manuskript eingereicht). Die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Evaluationsschritte zeigen eine signifikant höhere Ausprägung vieler Merkmalsbereiche in Kliniken der Modellversorgung (ibid).

Während dieser Arbeit haben sich die Rahmenbedingungen einer Prozessevaluation, so wie diese durch die MRC Guidelines für die Evaluation komplexer Interventionen empfohlen wird, gut für eine partizipativ-kollaborative Zusammenarbeit geeignet [17]. Im Gegensatz zu dem eher festgelegten Rahmen einer Outcomeevaluation lässt eine Prozessevaluation mehr Raum für kollaborative Aushandlungsprozesse über Fragestellungen und Vorgehensweisen, und auf diesem Weg vor allem mehr Gestaltungsspielräume und Entscheidungsmacht für Forscher*innen mit EE – das notwendige Kriterium dafür, um überhaupt von einer partizipativ-kollaborativer Zusammenarbeit sprechen zu können [18].

Die kollaborative Zusammenarbeit hat uns Teammitgliedern viel abverlangt [19]. Teilweise stark abweichende Perspektiven wurden in den Austausch gebracht. Dabei traten schmerzvolle Differenzen zutage, meist verursacht durch unterschiedliche Positionierungen im Verhältnis zum Forschungsfeld (Position als Nutzer*in versus Position als Mitarbeiter*in). Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit beruflichen und privaten Privilegien, eingenommenen oder zugeschriebenen Rollen, und mit differenten Motivationen und Zielvorstellungen innerhalb des Teams führten – vor allem auf der Seite der Forscher*innen mit EE – immer wieder zu Frust, Verletzungen und Missverständnissen, mit denen wir dann einzeln oder als Team umgehen mussten. Diese emotionale Arbeit wurde in vielen Teilen durch die Forscher*innen mit EE geleistet und hat sich gelohnt, wie die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit zeigen.

Im elektronischen Anhang sind die erlebnisbezogenen Merkmale der partizipativen Prozessevaluation herunterzuladen, inkl. der Codes, die während der qualitativen Auswertung des Interviewmaterials entstanden sind. Zur besseren Verständlichkeit bzw. Zugänglichkeit und um weitere Bedeutungen im Material zu erschließen, wurden diese Teilergebnisse und wesentlichen Schritte unseres Vorgehens in einfache Sprache übertragen. Dadurch wollen wir, im Sinne der partizipativen Forschung, einen kleinen Beitrag leisten, dass sich Wissenschaft öffnet und zugänglicher wird.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Sebastian von Peter
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Rüdersdorf, Medizinische Hochschule Brandenburg
Seebad 82/82
15562 Rüdersdorf
Deutschland   

Publication History

Article published online:
03 January 2022

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