Zeitschrift für Palliativmedizin 2022; 23(02): 61-62
DOI: 10.1055/a-1730-0909
Editorial

Palliativversorgung – Segeln hart am Wind

Liebe Leserin, lieber Leser,

was hat „Segeln hart am Wind“ mit Palliativversorgung zu tun? Vielleicht haben auch Sie dazu gleich eine Assoziation? Für uns als Kongresspräsidentinnen und Kongresspräsident des 14. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) 2022 in Bremen, war dies eine passende Metapher für unser Kongress-Motto.

„Segeln hart am Wind“ bedeutet beim Segeln im kleinstmöglichen Winkel zum Wind zu segeln, mit hohem Risiko, den Widrigkeiten zu trotzen – Grenzerfahrung und Herausforderung zugleich. Daran angelehnt wollen wir uns beim 14. wissenschaftlichen Fachkongress der DGP, der vom 28.09.–01.10.2022 in Bremen stattfinden wird, im maritimen Umfeld des Nordens Grenzerfahrungen und Herausforderungen der Palliativversorgung widmen.

Die Palliativversorgung ist multiprofessionell aufgestellt und hat eine Fachrichtung geformt, die immer mehr fachliche, aber auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Dadurch ist sie mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Nicht nur die Pandemie, sondern auch Entwicklungen in der praktischen Arbeit, die an die palliativen Fachkräfte neue und erweiterte Aufgaben stellen, sind als Gründe zu benennen. Dies verändert die Qualität und die Quantität der palliativen und hospizlichen Arbeit und den Anspruch an die Behandlung, Begleitung und Versorgung. Die Arbeitszufriedenheit ist immer wieder auf die Probe gestellt, abhängig von der Arbeitsbelastung, von Teamaspekten und Zusammenhalt. Vermehrte konsiliarische Anfragen an Palliativteams, haben die Palliativversorgung zu einem zwar gefragten, aber auch sehr arbeitsintensiven Fachbereich gemacht.

Die Forschung rund um die Palliativversorgung ist in den letzten Jahren gewachsen. Lange wurden Forschungsgelder hart umkämpft und teilweise nur sehr zaghaft in diesem – so schien es – eher kleinen, politisch und gesellschaftlich randständig betrachteten Gebiet, bewilligt. Diese Zeiten scheinen überwunden, zumindest sind qualitative als auch quantitative Forschungsprojekte mit einem palliativen Schwerpunkt in Deutschland zunehmend verbreitet und zudem umfangreicher. Nicht selten schließen sich Institutionen zu multizentrischen Studien zusammen. Doch ist dies immer geschickt? Kann bei solchen umfassenden Projekten die angestrebte Qualität mit den Finanzierungsmodalitäten und Personalkapazitäten gehalten werden? Vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs wird bei der Fülle der Aufgaben womöglich überfordert und auch erfahrene Wissenschaftler*innen äußern, dem Tempo nicht mehr standhalten zu können. Neben fraglichen strukturellen Arbeitsbedingungen in der Forschung sind auch die emotionalen Belastungen von Patient*innen, ihren An- und Zugehörigen sowie dem Fachpersonal durch Studiendesigns gestiegen. Wie viel Forschung darf also sein? Gibt es für die Empirie auch ethische Grenzen, die nicht in einen Kriterienkatalog einer Ethikkommission fallen? Was wäre gut zu wissen und was kann den Patient*innen, ihren Angehörigen und auch den Expert*innen zugemutet werden? Es bedeutet „Segeln hart am Wind“, ein Austarieren zwischen Bedarf an Wissen sowie ethischen und rechtlichen Grenzen.

Genau an diesen Grenzbereichen und den damit verbundenen Herausforderungen setzt der 14. DGP-Kongress in Bremen an. Kommen Sie nach Bremen, um die Chance zu nutzen, sich darüber auszutauschen, sich diskursiv auseinanderzusetzen und neue Blickwinkel kennenzulernen. Wir laden alle Berufsgruppen und Fachrichtungen ein, sich nicht nur den fachlichen Wind in nordischer Manier um die Nase wehen zu lassen.

Damit reflektiert der Kongress auch den gestiegenen Bildungsanspruch und die damit verbundenen strukturellen Veränderungen: So stellen z. B. die reformierte Pflegeausbildung (Stichwort Generalistik) und sich etablierende Module im Medizinstudium neue Anforderungen an allgemeine und spezialisierte Kompetenzen von Palliativversorgung. Neue Wege in der Lehre müssen geebnet und etabliert werden und sollten Besonderheiten der Multiprofessionalität durch interprofessionelle Lernkonzepte berücksichtigen. Der qualitative und quantitative Anspruch steigt und unterstreicht die Relevanz eines Hochschulstudiengangs mit Masterqualifikation. Diese Aspekte sollen in Bremen aktiv und angeregt durch Vorträge diskutiert werden. Gerade in der Diskussion ist jeder Beitrag wertvoll, denn alle Beteiligten der Palliativversorgung sollten ihre unterschiedlichen langjährigen Erfahrungen einbringen.

Gleichzeitig müssen wir die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben in der Öffentlichkeit befördern und die Diskussion bei Bürgerinnen und Bürgern anregen. Sterben gehört zum Leben und der frühzeitige Zugang zur Palliativversorgung fördert die Symptomlinderung und Lebensqualität bei einer chronischen unheilbaren Krankheit. Für den angestrebten Kulturwandel muss viel bewegt werden: Zugänge zu fachlich guten und gleichzeitig nachvollziehbaren Vorträgen müssen gewährleistet werden, es bedarf der Räume und der Zeit, um mitzudiskutieren und sich durch neue Erkenntnisse und Anregungen eine Meinung bilden zu können.

Vor dem Kongress wird es von April bis August eine von der Hochschule Bremen in Kooperation mit der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie der Universitätsmedizin Rostock veranstaltete Online-Ringvorlesung „Dem Leben mehr Sterben geben“ zum Kulturwandel in der Palliativversorgung geben. Die Ringvorlesung baut auf dem Prinzip der „offenen Hochschule“ auf – alle Menschen lernen an einem Ort lebenslang und haben einen multiprofessionellen sowie interdisziplinären Austausch. Bürgerinnen und Bürger, Interessierte, Studierende – alle sind herzlich willkommen – sagen Sie es gerne weiter.

Das hybrid geplante Kongressformat wird dafür sorgen, dass eine Teilnahme definitiv möglich ist, ob in Präsenz, vor Ort, online aus dem Büro oder vom heimischen Sofa aus. Sie können viele Vorträge online direkt verfolgen und sich vor Ort am Mikrofon oder via Online-Chat an Diskussionen beteiligen. Auch das Rahmenprogramm drum herum soll für Sie zu Hause zu verfolgen sein. So wird z. B. das Bürgerforum aus der Kulturkirche in Bremen live übertragen.

Wir freuen uns auf Sie in Bremen – Ihre Kongresspräsident*innen,

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Prof. Dr. Henrikje Stanze
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Prof. Dr. Anne Letsch
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Prof. Dr. Christian Junghanß


Publication History

Article published online:
25 February 2022

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