Psychiatr Prax 2022; 49(02): 64-66
DOI: 10.1055/a-1736-4190
Editorial

Soziales Eingebundensein und Gesundheit

Social Integration and Health
Steffi G. Riedel-Heller
Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Universität Leipzig, Medizinische Fakultät
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Steffi G. Riedel-Heller (Fotorechte: © Stefan Straube, UKL)

Menschen sind soziale Wesen. Die menschliche Entwicklung ist zwingend an den sozialen Kontext gebunden. Die Relevanz sozialen Eingebundenseins wird besonders in der aktuellen COVID-19-Pandemie deutlich. Die notwendigen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes, wie z. B. die Einschränkung sozialer Kontakte, führen zu vermehrter Einsamkeit. Wahrscheinlich waren noch nie so viele Menschen in Deutschland einsam. Daten der NAKO-Gesundheitsstudie zeigten auf der Grundlage von über 100 000 Befragten, dass 31,7 % der Deutschen im Mai 2020 einsam waren, insbesondere Frauen und junge Menschen [1].

Einsamkeit und soziale Isolation

Soziale Isolation und Einsamkeit werden oft im selben Atemzug genannt, wobei die soziale Isolation eher ein objektives Maß darstellt und den geringeren Umfang des sozialen Netzwerks anzeigt. Einsamkeit ist eher eine subjektive Sicht und reflektiert das Erleben der Menschen, das Bewerten einer Situation: Einsamkeit entsteht dabei aus einer gefühlten Diskrepanz zwischen tatsächlichem vs. gewünschtem In-Gesellschaft-Sein. Natürlich sind soziale Isolation und Einsamkeit korreliert, wobei die soziale Isolation eher ein Prädiktor für Einsamkeit ist als umgekehrt [2] [3]. Zur Messung sozialer Isolation werden oft unzureichende Proxy-Assessments genutzt, wie z. B. allein leben oder das Nichtvorhandensein sozialer Aktivität, aber es stehen auch etablierte Instrumentarien wie die Lubben-Social-Network-Scale, die Social-Isolation-Scale oder der Social-Network-Index zur Verfügung. Ähnlich ist es bei der Einsamkeit – oft wird diese mit einem einzigen Item erfragt, z. B. „Wie häufig fühlten Sie sich in den letzten 4 Wochen einsam?“ Dies hat sich als verzerrungsanfällig erwiesen. Es stehen etablierte Instrumentarien, wie UCLA-Loneliness-Scale oder die De Jong Gierveld-Scale zur Verfügung.


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Was macht einsam?

Für Einsamkeit gibt es meist keine einzelne Ursache, sondern wir haben es eher mit einem Ursachengefüge auf verschiedenen Ebenen zu tun. Dabei gibt es Faktoren, die eher individuell sind oder mit den engeren Beziehungskonstellationen zu tun haben, aber auch Nachbarschaften und weitere soziale Kontexte und die ganze Gesellschaft betreffen. Beispiele für individuelle Faktoren sind z. B. biologische Faktoren wie genetische Ausstattungen und Fähigkeiten der sozialen Kognition, psychologische Faktoren, Persönlichkeitsfaktoren (z. B. Offenheit für Erfahrungen, Neurotizismus) als auch die körperliche Funktionsfähigkeit. Bei den engeren Beziehungen spielen frühe Kindheitserfahrungen und eine daraus resultierende Bindungsfähigkeit, aber auch die soziale Kontrolle eine Rolle. In größeren sozialen Kontexten wie Nachbarschaften und Gemeinden können Möglichkeiten für Bildung, Gesundheitsfürsorge und Arbeit die soziale Integration fördern oder hemmen; ebenso können bauliche Umwelten wirken. Nicht zuletzt spielen soziale und kulturelle Normen in der Gesellschaft (fernöstliche vs. westliche Traditionen) eine wichtige Rolle [4]. Maike Luhmann unterscheidet mehr distale und proxymale Risikofaktoren sowie allgemeine und gruppenspezifische (z. B. Arbeitslosigkeit) und bringt in ihrem Modell auch Lebensereignisse als Auslöser mit ein [5].


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Einsamkeit in Deutschland

Im Folgenden werden Resultate berichtet, die sich auf die Zeit vor der aktuellen Pandemie beziehen. Das sozioökonomische Panel, eine große bevölkerungsrepräsentative Studie in Deutschland, zeigt, dass zwischen 5 und 10 % der Erwachsenen unter Einsamkeit leiden. Wenn diejenigen eingeschlossen werden, die sich manchmal einsam fühlen, steigt der Wert auf 10–15 % [6]. Eigene Ergebnisse der LIFE-Gesundheitsstudie konnten bei fast 10 000 18–69-Jährigen zeigen, dass 12,3 % sozial isoliert waren. Interessant ist der Altersgang: soziale Isolation steigt im Altersgang: bei den 60–69-Jährigen waren es schon 20,7 %, bei den 70–79-Jährigen 21,7 %. Diese Situation verschlechtert sich bei den Hochaltrigen [7]. Ergebnisse aus der AgeCoDe-AgeQualiDe-Studie zeigten (n = 942, mittleres Alter 86,4 Jahre), dass bei den über 80-Jährigen 32,3 % sozial isoliert waren [8].


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Nimmt Einsamkeit zu?

In den westlichen Ländern wird eine Epidemie von sozialer Isolation und Einsamkeit diskutiert. Dafür gäbe es gute Gründe: steigende Anzahl von Singlehaushalten, weniger Großfamilien, steigende Scheidungsraten, geringere Geburtenraten, zerstreute soziale Netzwerke durch Berufsmigration und Bevölkerungsalterung. Gleichwohl ist Vorsicht geboten – es gibt keine gesicherten Hinweise, dass der relative Anteil einsamer Menschen in den vergangenen Jahrzehnten bis zum Beginn der COVID-19-Pandemie stark zugenommen hat. Einschränkend muss gesagt werden, dass Einsamkeit und soziale Isolation erst seit einigen Jahren systematisch in repräsentativen Studien erfasst werden. Sehr deutlich ist jedoch der Anstieg der Einsamkeit mit der COVID-19-Pandemie.


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Macht Einsamkeit krank?

Einsamkeit macht nicht nur krank, sie tötet sogar. Holt-Lunstad et al. legten schon 2015 eine vielbeachtete Metaanalyse vor, in der sie zeigten, dass Einsamkeit und soziale Isolation mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden sind [9]. Eine aktuelle Metaanalyse zur Morbidität wurde von Park et al. 2020 publiziert [10]. Sie konnten zeigen, dass Einsamkeit mittelgroße bis große Auswirkungen auf alle Gesundheitsfaktoren hatte, wobei die größten Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden beobachtet wurden. Gleichwohl gibt es eine umfangreiche Literatur zu Einsamkeit und körperlichen Erkrankungen, insbesondere zum erhöhten Risiko von koronaren Herzerkrankungen und zum Schlaganfall [11]. Wenig überraschend ist der Befund von McClelland et al., die in ihrer Metaanalyse Einsamkeit und Suizidgedanken und suizidales Verhalten untersuchten. Sie konnten Einsamkeit als relevanten Prädiktor für Suizidgedanken und suizidales Verhalten identifizieren; Depression wirkte hierbei als Mediator [12]. Van As et al. publizierten jüngst ein systematisches Review auf der Grundlage von Längsschnittstudien bei älteren Menschen. Sie konnten hier den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und depressiven Symptomen im Längsschnitt zeigen und betonen die temporale Sequenz – zuerst Einsamkeit, dann Depressivität [13]. Eine Metaanalyse von Lara et al., die ebenfalls Längsschnittstudien bei älteren Personen einschloss, konnte einen Zusammenhang von Einsamkeit mit einem erhöhten Demenzrisiko aufzeigen [14]. Dies entspricht unseren eigenen Ergebnissen aus der Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (Leila75+) [15].


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Wie geht die Einsamkeit unter die Haut?

Dafür gibt es zwei grundsätzliche Erklärungsansätze. Man geht davon aus, dass akuter und chronischer Stress körperliche Auswirkungen mit negativen gesundheitlichen Folgen hat. Einsamkeit selbst stellt einen enormen Stressor dar und hat einen direkten Effekt – dies wird als Haupt-Effekt-Modell beschrieben. Andererseits weiß man, dass soziales Eingebundensein eine Ressource ist und den Effekt von jedwedem Stress, sei es durch Erkrankungen, kritische Lebensereignisse oder andere Faktoren, abpuffert. Diesen Erklärungsansatz nennt man Stress-Puffer-Hypothese [10]. Viele Studien beschäftigen sich auch mit den konkreten Mechanismen. Dabei scheint längerfristige Einsamkeit zu einer maladaptiven chronischen Stressreaktion zu führen, die nachgelagerte Entzündungswege und ungünstiges Gesundheitsverhalten auslöst und schließlich in negativen gesundheitlichen Folgen kulminiert. Dies ist eine vereinfachte Darstellung, die Zusammenhänge sind komplex und teilweise bidirektional [10]. Es gibt eine Reihe von mechanistischen Studien, unter anderem auch aus der Leipziger LIFE-Gesundheitsstudie, die z. B. die Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und funktionellen und strukturellen Hirnveränderungen untersuchen [16].


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Was kann man gegen Einsamkeit tun?

Interventionsansätze umfassen (1) das Training sozialer Fertigkeiten/sozialer Kompetenzen, (2) die Erweiterung sozialer Unterstützung durch regelmäßige Kontaktangebote, Zuwendung und Gesellschaft, (3) die Erweiterung von sozialen Kontaktmöglichkeiten, also für neue Kontakte und (4) das Bearbeiten maladaptiver Kognitionen [17]. Obwohl auch neuere Übersichten vorliegen [18] [19], wird doch oft auf diese klassische Einteilung zurückgegriffen. Mann et al. 2017, die sich mit Interventionen gegen Einsamkeit bei psychisch Kranken beschäftigten, erweiterten diese Einteilung, indem sie zum einen die oben genannten direkten Interventionen aufführten, aber andererseits zusätzliche indirekte und breitere Zugänge zu Gesundheit, Wohlbefinden und sozialer Integration ansprechen [20]. Diese indirekten Interventionen für psychische Kranke fördern die soziale Integration. Beispiele sind dabei Anti-Armuts-Intervention, Beschäftigungsförderung (z. B. IPS), Bildung (z. B. im Rahmen von Recovery-Colleges) oder Interventionen im Bereich Wohnen. Mann et al. sehen diese Interventionen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: bei dem einzelnen einsamen Menschen, also beim Individuum, aber auch auf der Ebene von Nachbarschaften und Gemeinden sowie auf gesellschaftlicher Ebene [20]. Die beste Evidenz gibt es für Interventionen im Bereich sozialer Kognition. Auch andere Ansätze, wie z. B. zum Befriending, zeitigten ermutigende Resultate [21]. Es liegt natürlich auf der Hand, dass komplexere Interventionen auf der Ebene der Gemeinden oder gar der Gesellschaft schwerer zu evaluieren sind. Es gibt erheblichen Forschungsbedarf.


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Desiderate

Sozialpsychiater wissen es schon lange: Menschen sind soziale Wesen, die Bedeutung des sozialen Kontextes für Gesundheit und Krankheit ist enorm. Die Public-Health-Bedeutung von sozialer Isolation und Einsamkeit wurde in Deutschland bisher weitgehend unterschätzt. Die COVID-19-Pandemie wirkt auch hier wie ein Brennglas, vorhandene Problemfelder wurden verstärkt und sichtbar.

Dies kann Türen öffnen für dringend notwendige Schritte: eine programmatische Forschungsförderung zu psychosozialen Aspekten von Gesundheit und Krankheit, eine bessere Vernetzung von Stakeholdern zur Förderung von sozialem Eingebundensein und damit der Prävention psychischer Störungen sowie die konsequente wissenschaftliche Evaluierung von praktischen Initiativen. Es wird sehr deutlich, dass psychosoziale Aspekte zentrales Element eines Pandemiemonitorings und -managements sein müssen [22]. Eine Pandemiestrategie kommt ohne Public Mental Health nicht aus.


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller
Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP)
Universität Leipzig, Medizinische Fakultät
Philipp-Rosenthal-Straße 55
04103 Leipzig
Deutschland   

Publication History

Article published online:
04 March 2022

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