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DOI: 10.1055/a-1747-2408
Ich bin Sexarbeiterin. Porträts und Texte



Die Schweiz kann in puncto Frauenrechte nicht gerade als Vorreiterin gelten. Das zeigt sich unter anderem daran, dass das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt wurde und die Frauen dann noch weitere 20 Jahre warten mussten, bis ihnen auch auf kantonaler Ebene überall der Gang zu Wahlurne gestattet wurde. Sexarbeiter:innen mussten ebenfalls lange warten: Erst am 8. Januar 2021 entschied das Schweizerische Bundesgericht, dass die in der Schweiz legale und steuerpflichtige Tätigkeit in der Sexarbeit nicht mehr als „sittenwidrig“ gilt. Für Sexarbeitende bedeutet dies eine Stärkung ihrer Arbeits- und Menschenrechte: Sie können nicht bezahltes Honorar nun einklagen und sind weniger moralisierender Stigmatisierung ausgesetzt.
Doch die Rechtslage zur Sexarbeit ist in der Schweiz – ähnlich wie in Deutschland und Österreich – weiterhin unübersichtlich und vielfach diskriminierend. Gleichzeitig gibt es durch die Lobbyarbeit der kleinen, aber lauten Anti-Prostitutionsbewegung politischen Druck in Richtung einer neuen Kriminalisierung. So wirbt die Kampagne „Für eine Schweiz ohne Freier. Stopp Prostitution“ (www.stopp-prostitution.ch) für die Einführung der schwedischen Verbotsgesetze (sog. „Sexkaufverbot“) in der Schweiz, da Prostitution per se „immer auch Gewalt gegen Frauen“ sei.
Längst hat sich jedoch mit „Sexarbeit ist Arbeit. Für die Rechte von Sexarbeitenden“ eine viel größere Kampagne in der Schweiz etabliert, die evidenzbasiert und menschenrechtsbasiert agiert und von zahlreichen Sexarbeits- und Beratungseinrichtungen sowie einzelnen Sexarbeiter:innen, Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und Personen des öffentlichen Lebens unterstützt wird (www.sexarbeit-ist-arbeit.ch). Die Schweizer „Sexarbeit ist Arbeit“-Kampagne steht im Einklang mit dem internationalen Forschungsstand zur Sexarbeit, wie er zuletzt im Schwerpunktheft 4/2020 dieser Zeitschrift vorgestellt wurde: Kriminalisierung lässt Sexarbeit nicht verschwinden und schützt erwiesenermaßen Sexarbeiter:innen auch nicht, sondern erschwert ihr Leben und setzt sie noch höheren Gesundheits- und Viktimisierungsrisiken aus.
ProCoRe (Prostitution Collective Reflexion) ist das nationale Netzwerk zur Vertretung der Interessen von Sexarbeitenden in der Schweiz. „Wir setzen uns für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden ein und anerkennen Sexarbeit als gesellschaftliche Realität sowie als professionelle Tätigkeit. Gleichzeitig bekämpfen wir Ausbeutung, Menschenhandel und Stigmatisierung in der Sexarbeit.“ So heißt es in der Selbstbeschreibung auf der Website (www.procore-info.ch). Um die Öffentlichkeit besser über die Realitäten in der Sexarbeit aufzuklären, hat ProCoRe in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe der Kampagne „Sexarbeit ist Arbeit“ nun einen Sammelband herausgegeben. Er enthält Porträts von zehn hinsichtlich Geschlecht, Alter, Migrationsgeschichte, Lebensumständen und Erfahrungen mit Sexualität sehr diversen Sexarbeiter:innen in der Schweiz. Viele Themen werden angesprochen: Wie schützen sich die Sexarbeiter:innen vor Übergriffen? Wie verbinden sie ihr Privat- und Geschäftsleben? Wie erleben sie die Freier? Wie beurteilen sie ihre Tätigkeit in der Sexarbeit? Was haben sie von Kolleg:innen gelernt? Welche anderen Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit haben sie?
Ergänzt werden diese Porträts durch vier einordnende Texte aus kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven, die unter anderem auf die bestehende Rechtslage und wünschenswerte rechtliche Verbesserungen, die Motive und Erforschung von Freiern sowie auf Probleme mit Rassismus in der Szene eingehen.
Der schmale Band mit vielen atmosphärischen Fotos eignet sich gut als anschaulicher Einstieg in die Materie. Die Darstellung ist dabei weder romantisiert noch dramatisiert. Vielmehr kommen Widersprüchlichkeiten und viele Zwischentöne zur Geltung. Das Buch ist in glänzendes Silberpapier eingeschlagen: Wer es anschaut, blickt in einen Spiegel. Denn die Auseinandersetzung mit Sexarbeit reflektiert immer auch eigene Gefühle und Wertungen. Deswegen ist für Fachleute im Bereich Sexualität die Haltungsklärung zu dem polarisierenden Thema der Sexarbeit so wichtig.
Nicola Döring (Ilmenau)
Publication History
Article published online:
08 March 2022
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