ergopraxis 2022; 15(06): 38-40
DOI: 10.1055/a-1768-9443
Perspektiven

Der Dünger zum Aufblühen – Selbstfürsorge

Lisa Holtmeier
 

Kaum jemand kommt auf die Idee, eine Pflanze unter Druck zu setzen, dass sie jetzt gefälligst blühen soll. Und doch tun Menschen dies – und zwar oft im Umgang mit sich selbst. Dabei sind sie ähnlich wie Pflanzen, die nur Pflege brauchen, um gut zu gedeihen, sich stabil zu verwurzeln und aufzublühen. Hier kommen eine kleine Pflegeanleitung und paar Rezepte für super Dünger, an dem es im Alltag oft fehlt.


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Ist es die Schuld der Pflanze, wenn sie nicht wächst oder gar eingeht? Wächst sie schneller, wenn man sie unter Druck setzt? Oder fehlt es ihr vielleicht an Dünger und Pflege, um sich prächtig zu entwickeln?Quelle: © S. Schhaf/Thieme

Viele Therapeut*innen sorgen sich hervorragend um ihre Klient*innen, aber miserabel um sich selbst. Die gesunde Selbstfürsorge bleibt oft im wuseligen Behandlungsalltag komplett auf der Strecke. Dabei ist sie die Grundvoraussetzung, um diesen Beruf gesund durchführen zu können. Wenn Sie sich nicht gut um sich selbst kümmern, können Sie langfristig nicht gut für andere Menschen da sein. Dieser Aspekt geht in Ausbildung, Studium und sämtlichen Fort- und Weiterbildungen oft komplett unter. Selbstfürsorge darf mehr und mehr als Gesundheitsförderung und Prävention verstanden werden. Interessant ist, dass Selbstfürsorge oft sehr engstirnig betrachtet wird. Viele Menschen verstehen darunter nur Meditation, Entspannungsübungen, Yoga oder einen Besuch im Wellnesstempel. Dabei geht Selbstfürsorge weit darüber hinaus.

Gesunde Kommunikation

Bei den meisten Therapeut*innen besteht jeder dritte bis vierte Satzanfang aus den zwei Worten „Ich muss …“. Das sorgt für die sofortige Ausschüttung der Stresshormone Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin und teilweise Dopamin. Der Körper ist in Alarmbereitschaft, bei jedem dritten bis vierten Satz. Achten Sie doch mal darauf, wie oft „ich muss“ über Ihre Lippen huscht! Dabei stehen viele Therapeut*innen in ihrem Alltag sowieso schon unter „Dauerstrom“ – sie vergessen, genug zu trinken und teilweise auch ausreichend zu essen. Ständig wandert der Blick zur Uhr, um bloß nicht den zeitlichen Rahmen zu verlassen. Denn – Sie kennen das – kommt man zu einem Termin zu spät, kommt man zu allen folgenden Terminen auch zu spät. Druck ist also schon genug da, deshalb ist es empfehlenswert, sprachlich auf diesen Druck zu verzichten. Das ist ganz einfach: Statt „ich muss“ empfiehlt sich ein „ich werde“. „Ich werde heute noch drei Berichte schreiben“ fühlt sich ganz anders an als „ich muss heute noch drei Berichte schreiben“.


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Innere Dialoge

Zur Kommunikation zählen auch die inneren Dialoge. Auch damit setzen sich einige Therapeut*innen gehörig unter Druck und versetzen ihr gesamtes System in Stress. „Die Therapieeinheit hätte ich noch besser vorbereiten können.“ „Die Klientin müsste eigentlich noch schneller Fortschritte machen. Ich muss mich mehr anstrengen.“ „Ich habe mich zu lange mit dem Klienten unterhalten. Ich muss mich mehr auf die Behandlung als solches konzentrieren.“

Oft fühlen sich Therapeut*innen dafür verantwortlich, dass die Klient*innen Fortschritte machen und ihre Ziele erreichen. Dabei lassen sie außer Acht, dass auch die Klient*innen einen Teil der Verantwortung für ihren Behandlungserfolg tragen, indem sie beispielsweise bemüht sind, therapeutische Inhalte daheim umzusetzen und regelmäßig und pünktlich zu ihren Therapieterminen zu erscheinen. Wer sich für alles verantwortlich fühlt, kann nach Feierabend nur sehr schwer von der Arbeit „abschalten“. Die „Reflexionsschleifen“ nehmen kein Ende. Bei einigen mündet die Selbstreflexion irgendwann in Selbstvorwürfe. Hilfreich kann hierbei ein bewusstes Ritual nach Feierabend sein.

Selbstfürsorge ist weit mehr als Meditation und Yoga.


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Feierabendrituale

Leiten Sie Ihren Feierabend mit einem oder mehreren festen Ritualen ein. Ein paar Beispiele:

  • Ortswechsel: Verlassen Sie den Arbeitsplatz bewusst und begleiten Sie dies durch ein paar Sätze im inneren Dialog, zum Beispiel: „Alles, was ich heute erlebt und erfahren habe, lasse ich hier“, „ich befreie mich von allen Eindrücken und genieße ab jetzt meinen Feierabend“, „ich beende den Praxistag in Dankbarkeit“.

  • Umziehen: Nutzen Sie das Umkleiden als bewusstes Ritual, um die „Therapeut*in-nenrolle“ abzulegen. Egal, ob es bei Ihnen Arbeitskleidung gibt oder nicht. Ich empfehle, sich ganz bewusst bestimmte Kleidung auszusuchen, die Sie ausschließlich bei der Arbeit tragen. Diese können Sie morgens bewusst anziehen, um sich auch die Rolle der Therapierenden „anzuziehen“, und abends genauso wieder ablegen. Manchmal braucht es etwas Training, doch es funktioniert nach einiger Zeit richtig gut und kann dazu beitragen, „Abstand“ zu gewinnen.

  • Playlist: Erstellen Sie sich eine Feierabend-Playlist, die Sie auf dem Rückweg in der Bahn, im Auto oder auf dem Fahrrad hören. Diese Musik wird Ihr Gehirn irgendwann mit dem Modus „Feierabend“ verknüpfen. Das kann Ihnen dabei helfen, den Tag mit Musik abzuschließen.

  • Journaling: Vielleicht hilft es Ihnen, die Ereignisse des Tages in einem Notizbuch niederzuschreiben. Was habe ich heute erlebt? Was hat mich sehr gefordert? Was war heute richtig gut? Dieses Schreiben erleben einige Menschen als Entlastung. Dabei muss das Ritual nicht viel Zeit in Anspruch nehmen: 5 bis 15 Minuten können völlig ausreichend sein.

  • Feierabendaktivität: Starten Sie mit einer festen Aktivität nach dem Heimkommen. Vielleicht eine kurze Yoga-Einheit, drei kurze Sportübungen oder ein Spaziergang an der frischen Luft. Tipp: Wenn Sie mögen, notieren Sie diese Aktivitäten in einem Gewohnheitstracker. Das stellt eine gewisse Verbindlichkeit dar und kann zusätzlich motivieren.

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Selbstfürsorge während der Arbeitszeit

Mit wenig Aufwand können Sie im Arbeitsalltag etwas für Ihre Selbstfürsorge tun. Auch hierfür ein paar Bespiele:

  • Bereiten Sie sich am Morgen eine Flasche mit Wasser (vielleicht mit Zitrone oder anderen Früchten) oder eine Kanne Tee vor. Nehmen Sie sich vor, dieses Gefäß bis zum Ende des Arbeitstages auszutrinken.

  • Lüften Sie regelmäßig durch und atmen sie dabei bewusst ein und aus.

  • Kreisen sie zwischen den Klient*innen kurz die Schultern oder bauen Sie eine halbe Minute lang Dehnübungen ein.

  • Sorgen Sie für Pausen. Und nutzen Sie sie bitte auch als solche. Pausen sind nicht für Telefonate mit Klient*innen oder das Schreiben von Berichten da. Nehmen Sie eine ausgewogene Mahlzeit zu sich, legen Sie eine Kurzmeditation ein, gehen Sie an die frische Luft, atmen Sie bewusst durch. Sie können frei wählen und Ihre Pausengestaltung Ihren Bedürfnissen anpassen. Achten Sie in der Pause auf einen achtsamen Social-Media-Konsum, denn auch dieser kann das Gehirn ziemlich auf Trab halten und wirkt oft nicht wirklich entspannend! Manche Therapeut*innen kümmern sich in ihrer Pause um die Sorgen und Probleme ihrer Freund*innen. Auch das ist nicht sehr erholsam.


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Tipps kompakt

So gelingt die Selbstfürsorge

  • Ersetzen Sie den Satzanfang „ich muss“ durch „ich werde“.

  • Achten Sie auf Ihre inneren Dialoge.

  • Machen Sie sich bewusst, dass Sie nicht für alles zu 100 Prozent verantwortlich sind.

  • Führen Sie ein Feierabendritual ein.

  • Trinken Sie ausreichend.

  • Machen Sie bewusst Pausen.

  • Nutzen Sie kleinere Päuschen, um bewusst durchzuatmen.

  • Machen Sie sich Ihre inneren Antreiber bewusst.


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Die Krux mit den „inneren Antreibern“

Im Alltag sind es oft unsere „inneren Antreiber“, die uns von unserer Selbstfürsorge abhalten. In der Transaktionsanalyse werden fünf innere Antreiber beschrieben:

  • Sei perfekt!

  • Sei stark!

  • Streng dich an!

  • Sei gefällig! Mach es allen recht!

  • Beeil dich!

All unsere inneren Antreiber haben eine sehr positive Absicht: „Sei perfekt“ steht für Genauigkeit, „sei stark“ für innere Stärke. „Streng dich an“ symbolisiert Ehrgeiz und Durchhaltevermögen, „sei gefällig“ heißt, sich loyal, tolerant und freundlich zu verhalten. „Beeil dich“ steht für Schnelligkeit und Flexibilität. Hinter jedem Verhalten steckt in der Regel eine positive Absicht oder Bedürfnisbefriedigung, so auch hier. Das ist es, was Menschen antreibt.

Es zeigt sich aber auch, dass viele Menschen sich durch diese Antreiber unter Druck setzen. „Die Therapiestunde muss perfekt durchgeplant und durchgeführt werden.“ (Sei perfekt!) „Ich darf mir das nicht zu Herzen nehmen. Ich muss mich mehr abgrenzen.“ (Sei stark!) „Ich muss nach Feierabend auf jeden Fall noch die drei neuen Studien lesen.“ (Streng dich an!) „Ich kann jetzt keine Grenzen setzen. Ich muss da jetzt durch.“ (Sei gefällig!) „Ich muss mich beeilen. Komm ich zu einer Klientin zu spät, komme ich zu allen zu spät!“ (Beeil dich!) Schon beim Lesen kann sich unser System durch diese Sätze gestresst fühlen. Aber so sieht der Alltag vieler Menschen aus, und genau das ist das Gegenteil von Selbstfürsorge. Die inneren Antreiber können auf Dauer ein Burn-out-Verursacher sein.

Deshalb darf es neben den inneren Antreibern auch innere Erlauber geben. Auf das gesunde Gleichgewicht kommt es an. So wie bei vielen anderen Dingen im Leben auch.


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Erlauben Sie mal!

Wenn sich der innere Antreiber „sei perfekt“ bemerkbar macht, darf der innere Erlauber „ich erlaube mir, Fehler zu machen“ aktiv werden. Wenn sich der innere Antreiber „sei stark“ zeigt, dürfen Sie sich die innere Erlaubnis „ich erlaube mir, Unterstützung anzunehmen“ geben. Auf „streng dich an“ darf zukünftig die Antwort „es darf leicht für mich sein“ lauten. Sie können und müssen es nicht allen Menschen recht machen. Konzentrieren Sie sich lieber darauf, ob Sie es sich selbst recht machen. Statt „sei gefällig“ könnte die Antwort lauten „ich achte auf mich und meine Bedürfnisse“. „Ich erlaube mir, Pausen zu machen“ könnte die Antwort auf den letzten Antreiber „beeil dich“ sein.

Nehmen Sie in Zukunft diese Antreiber bewusst wahr, um sich in den jeweiligen Situationen die entsprechende Erlaubnis zu geben. Das gezielte Wahrnehmen dieser Antreiber unterstützt Sie darin, im nächsten Schritt Ihr Verhalten zu adaptieren.

Fazit

Gesunde Kommunikation, Feierabendrituale, Selbstfürsorge während der Arbeitszeit und das Gleichgewicht zwischen inneren Antreibern und Erlaubern sind der Dünger und die Pflege, die wir Menschen brauchen, um stabile Wurzeln zu bilden, gesund zu bleiben und aufzublühen.

Lisa Holtmeier


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Autorin

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Lisa Holtmeier ist Ergotherapeutin (BSc.), Gründerin von WORDSEED, Kommunikationscoach und Podcasterin. Sie hält Vorträge, gibt Fortbildungen und coacht Praxen im Bereich der internen und externen gesunden Kommunikation. Kommunikation wird in ihrer Arbeit als betriebliche Gesundheitsförderung eingesetzt. WORDSEED: Worte säen – Gesundheit, Zufriedenheit und Motivation ernten. E-Mail: durchstarter@wordseed.de

Publication History

Article published online:
01 June 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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Lisa Holtmeier ist Ergotherapeutin (BSc.), Gründerin von WORDSEED, Kommunikationscoach und Podcasterin. Sie hält Vorträge, gibt Fortbildungen und coacht Praxen im Bereich der internen und externen gesunden Kommunikation. Kommunikation wird in ihrer Arbeit als betriebliche Gesundheitsförderung eingesetzt. WORDSEED: Worte säen – Gesundheit, Zufriedenheit und Motivation ernten. E-Mail: durchstarter@wordseed.de
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Ist es die Schuld der Pflanze, wenn sie nicht wächst oder gar eingeht? Wächst sie schneller, wenn man sie unter Druck setzt? Oder fehlt es ihr vielleicht an Dünger und Pflege, um sich prächtig zu entwickeln?Quelle: © S. Schhaf/Thieme