Schlüsselwörter
Sexualdelikt - gynäkologische Untersuchung - genitale Verletzungen - Verletzungsmuster
- Rechtsmedizin
Einleitung
Bis zu einem Drittel der Frauen weltweit sind im Verlauf ihres Lebens von sexueller
oder körperlicher Gewalt betroffen [1]. Insgesamt zeigt sich über die
letzten Jahre, durch die stete Zunahme an Anzeigen und auch nach der Verschärfung
des Sexualstrafrechts im Jahr 2016, der Bedeutungszuwachs sexualisierter Gewalt in
unserer Gesellschaft [2], [3]. In Deutschland wurden 2020 insgesamt 81 630 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
registriert [3]. Daten einer Untersuchung des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen
und Jugend aus dem Jahr 2003 zeigen, dass 13% aller befragten Frauen in
Deutschland in ihrem Leben bereits Opfer von sexueller Gewalt waren. Bei derartigen
Umfragen handelt es um freiwillige Angaben, die lediglich eine Schätzung ermöglichen.
Dennoch ist zusätzlich
zu den gemeldeten Fällen eine hohe Dunkelziffer anzunehmen. Frauen nach einem
Sexualdelikt suchen in vielen Fällen eine ärztliche Untersuchungsstelle auf. Hierbei
gibt es international
unterschiedliche Versorgungsmöglichkeiten. Ein Großteil der Frauen nach Sexualdelikt
stellt sich in Notaufnahmen von Krankenhäusern vor und wird dann entweder von speziell
ausgebildetem
Pflegepersonal oder von ärztlichem Personal untersucht [4]. In vielen Ländern gehört die Untersuchung von Frauen nach Sexualdelikt zu einem
zentralen
Bestandteil der Tätigkeit von Gynäkologen/-innen.
In Deutschland ist keine gültige bundesweite Leitlinie zum Umgang bzw. zu der Versorgung
von Frauen nach Sexualdelikten publiziert und es wird deswegen auf lokale Handlungsempfehlungen
und
SOPs (Standard Operating Procedures) zurückgegriffen.
Begrenzte Daten zeigen, dass der Nachweis von genitalen und/oder extragenitalen Verlertzungen
medikolegale Konsequenzen im Hinblick auf Aufklärung und Verurteilung der Täter haben
kann [5], [6], [7].
Ziele der vorliegenden Analyse waren deshalb die systematische Erfassung von Verletzungsmustern
von Frauen nach Sexualdelikt im Rahmen einer durchgeführten Ganzkörperuntersuchung
sowie die
Evaluation des Stellenwertes der gynäkologischen Untersuchung.
Material und Methoden
Patientinnenkollektiv
Als Quellen zur retrospektiven Datenerhebung dienten die Patientenakten aller 692
Frauen, die aufgrund eines angegebenen Sexualdelikts im 5-Jahres-Zeitraum zwischen
dem 01.01.2013 und
31.12.2017 in der Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE),
Deutschland, die als zentrale Anlaufstelle für Sexualdelikte der Stadt gilt, vorstellig
waren.
Definitionen
In der hier vorgestellten Studie erfolgt die gemeinsame Untersuchung von Frauen nach
Sexualdelikten regelhaft in einem langjährig bewährten Modell interdisziplinärer Zusammenarbeit
durch
Ärzte/-innen der Gynäkologie und Rechtsmedizin. Die Betroffenen werden entweder
sofort gemeinsam gynäkologisch und rechtsmedizinisch untersucht, oder es erfolgt,
je nach Fallkonstellation,
die rechtsmedizinische Vorstellung am Folgetag in der rechtsmedizinischen Ambulanz.
Die gynäkologische Untersuchung erfolgt mittels Spekulumeinstellung von regelmäßig
geschulten Assistenz-
oder Fachärzten/-innen der Gynäkologie unter oberärztlicher Supervision. Eine
Vorstellung der Frauen ist auch ohne polizeiliche Anzeige niedrigschwellig möglich
(sog. vertrauliche
Spurensicherung). Zur Auswertung wurden pro Fall 46 definierte, unabhängige Variablen
in einer Datenbank (Microsoft Excel 2007) erhoben. Als Verletzungslokalisationen wurden
genitale und
extragenitale Verletzungen unterschieden. Als Verletzungsmuster der genitalen
Verletzungen, die das äußere Genitale (Mons pubis, Labia majora et minora, Introitus,
posteriore Fourchette und
Fossa navicularis), das innere Genitale (Hymen, Vaginalwand) und den Analbereich
umfassen, wurden Schürfungen, Rissverletzungen, Hautunterblutungen und Rötungen nach
dem TEARS-Schema
unterschieden. Das TEARS-Schema (tear, ecchymosis, abrasion, redness, swelling,
übersetzt: Riss, Hämatom, Schürfung, Rötung, Schwellung) wurde etabliert, um die Genauigkeit
der
Interpretation und Dokumentation von genitalen Verletzungen zu verbessern [8], [9] Bei extragenitalen Verletzungen (Kopf,
Hals, Rumpf, obere und untere Extremitäten) wurde zwischen Schürfungen, Rötungen,
Hautunterblutungen sowie Kratz- und Bissverletzungen unterschieden (Mehrfachnennungen
waren möglich,
sonstige Verletzungen wurden ebenfalls vermerkt).
Statistische Analyse
Die statistische Auswertung erfolgte mit SPSS (IBM SPSS Statistics Version 23). Es
erfolgte eine deskriptive Analyse einzelner Variablen sowie der Vergleich mehrerer
kategorialer Variablen
hinsichtlich potenziell signifikanter Unterschiede mittels χ2-Test und Fisher-Exakt-Test. Zur Evaluation der Einflussfaktoren auf die Entstehung
genitaler und extragenitaler
Verletzungen erfolgte eine logistische Regression mit Rückwärtsselektion. Die
deskriptive Analyse der Häufigkeiten der einzelnen Variablen erfolgte mit einem Konfidenzintervall
von 95%. Ein
p-Wert < 5% wurde als statistisch signifikant gewertet.
Datenschutz
Die Datenauswertung erfolgte anonymisiert nach den Datenschutzrichtlinien der Medizinischen
Fakultät der Universität Hamburg unter Einhaltung der Vorgaben der guten wissenschaftlichen
Praxis.
Ergebnisse
Patientinnencharakteristika
Im Mittel waren die 692 Betroffenen 26,3 Jahre alt (Alterspanne 12 – 91 Jahre). Fast
75% der Betroffenen stellten sich innerhalb von 24 Stunden nach dem angegebenen Sexualdelikt
in der
Notaufnahme vor (49,9% binnen 12 h, 24,3% binnen 12 – 23 h, 21,3% binnen 24 – 71 h,
3,6% binnen 72 – 119 h und 0,3% nach 5 Tagen). In den meisten Fällen handelte es sich
bei dem angegebenen
Sexualdelikt um eine penil-vaginale Penetration (88,3%), die in den frühen Morgenstunden
zwischen 3:00 – 5:00 Uhr (17%) oder den späten Abendstunden zwischen 22:00 – 23:00 Uhr
(8%)
stattfand. In 53,9% der Fälle war der Täter (immer männlich) der Betroffenen
persönlich bekannt. Wenn es sich um einen wiederholten Missbrauch handelte (10,4%
der Fälle), wurde dieser in
57,4% von demselben Täter verübt.
Insgesamt erfolgte bei 95,2% der mutmaßlich Betroffenen eine rechtsmedizinische Untersuchung
und bei 87,5% eine gynäkologische Untersuchung, 84,9% der Betroffenen wurden von beiden
Fachdisziplinen untersucht. In 64,2% der Fälle wurde die mutmaßlich Betroffene
primär von der Polizei bzw. Beamten/-innen des Landeskriminalamts zur Untersuchung
vorgestellt und begleitet,
sodass bei 35,8% der mutmaßlich Betroffenen eine vertrauliche Spurensicherung
stattfand. Insgesamt erstatteten 83% der Betroffenen eine polizeiliche Anzeige. Weitere
Charakteristika sind in
[Tab. 1] dargestellt.
Tab. 1 Charakteristika der Frauen nach Sexualdelikt.
|
Anzahl
|
Prozent
|
|
Alter in Jahren
|
|
|
395
|
57,4%
|
|
|
258
|
37,5%
|
|
|
31
|
4,5%
|
|
|
4
|
0,6%
|
|
Tatzeitpunkt
|
|
|
|
220
|
41,7%
|
|
|
308
|
58,3%
|
|
Täter
|
|
|
315
|
46,1%
|
|
|
368
|
53,9%
|
|
vorheriger Übergriff
|
|
|
588
|
89,6%
|
|
|
39
|
5,9%
|
|
|
29
|
4,4%
|
|
zeitlicher Abstand zum Delikt
|
|
|
342
|
49,9%
|
|
|
167
|
24,3%
|
|
|
146
|
21,3%
|
|
|
25
|
3,6%
|
|
|
6
|
0,9%
|
|
Substanzkonsum
|
|
|
394
|
59,4%
|
|
|
50
|
7,5%
|
|
|
14
|
2,3%
|
|
retrograde Amnesie
|
|
|
136
|
20,1%
|
|
|
126
|
18,7%
|
|
|
413
|
61,2%
|
|
HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP)
|
|
|
135
|
21,3%
|
|
postkoitale Kontrazeption
|
|
|
352
|
53,4%
|
|
Hepatitis-B-Impfung (aktiv)
|
|
|
20
|
3,9%
|
Verletzungsmuster
Im Rahmen der rechtsmedizinischen körperlichen Untersuchung konnten bei 78,6% der
Patientinnen extragenitale Verletzungen festgestellt werden. Demgegenüber fanden sich
im Rahmen der
gynäkologischen Untersuchung bei 28,5% genitale Verletzungen ([Tab. 2]). Insgesamt waren 15,7% der Frauen (n = 100) unverletzt. Von den Frauen, die genitale
Verletzungen aufwiesen (28,5%), wurden diese bei 63,4% am äußeren Genitale, bei
38,2% am inneren Genitale und bei 20,4% im Analbereich detektiert ([Tab. 2]). Bei den Verletzungen des äußeren Genitales handelte es sich zu 53,4% um Schürfungen,
zu 39,9% um Rissverletzungen, zu 37,3% um Rötungen der Haut und zu 32,4% um
Unterblutungen der Haut (Hämatome). Die Art der Verletzungen am inneren Genitale
wiesen eine ähnliche Häufigkeitsverteilung auf. Im Analbereich hingegen wurden am
häufigsten Rissverletzungen
gefunden (55,3%). Von allen Patientinnen, die genitale und extragenitale Verletzungen
aufwiesen, mussten 4 Patientinnen operativ versorgt werden (1× Orbitabodenfraktur,
1× retrobulbäres
Hämatom, 1× Sphinkterverletzung mit Analhämatom, 1× tiefer vaginaler Riss) und
eine Patientin erlitt eine Fraktur des Schambeins (penil-anale Penetration).
Tab. 2 Auflistung der genitalen und extragenitalen Verletzungsformen und -muster (Prozent
in Bezug auf alle genitalen bzw. extragenitalen Verletzungen, Mehrfachnennungen
möglich).
|
Anzahl
|
Prozent
|
|
Verletzungsformen
|
|
genitale Verletzungsformen
|
|
|
88
|
47,3%
|
|
|
75
|
40,3%
|
|
|
60
|
32,2%
|
|
|
40
|
21,5%
|
|
extragenitale Verletzungsformen
|
|
|
437
|
83,9%
|
|
|
296
|
56,8%
|
|
|
214
|
41,1%
|
|
|
165
|
31,7%
|
|
|
32
|
6,1%
|
|
Verletzungslokalisationen
|
|
genitale Verletzungslokalisationen
|
|
|
118
|
63,4%
|
|
|
71
|
38,2%
|
|
|
38
|
20,4%
|
|
extragenitale Verletzungslokalisationen
|
|
|
374
|
71,8%
|
|
|
335
|
64,3%
|
|
|
262
|
50,3%
|
|
|
140
|
26,9%
|
|
|
122
|
23,4%
|
Auch extragenitale Verletzungen wurden meist an mehreren Körperregionen gleichzeitig
festgestellt (71,2%). Hierbei fanden sich die meisten Verletzungen an der unteren
Extremität (71,6%),
der oberen Extremität (64,3%) oder dem Rumpf (50,3%). Seltener wiesen Patientinnen
auch Verletzungen am Kopf (26,9%) oder dem Hals (23,4%) auf.
Bei den extragenitalen Verletzungen handelte es sich in 83,9% um Hautunterblutungen
(Hämatome), Schürfverletzungen (56,8%) und Rötungen der Haut (41,1%). Kratzverletzungen
(6,1%) und
Bissverletzungen (6,1%) waren seltener zu finden ([Tab. 2]). Insgesamt erlitten jedoch 1,2% (n = 8) der Frauen durch die Gewalteinwirkung eine
Fraktur,
meist die Knochen des Gesichtsschädels betreffend, und 0,6% (n = 4) der Betroffenen
ein Schädel-Hirn-Trauma.
Risikofaktoren für Verletzungen
Ein anamnestischer Alkoholkonsum der Betroffenen (Hazard Ratio [HR] 1,95; 95%-Konfidenzintervall
[KI] 1,21 – 3,12, p = 0,006) und ein jüngeres Alter der Betroffenen zwischen 25 – 49
Jahren
(HR 1,75; 95%-KI 1,07 – 2,85, p = 0,025) waren mit dem Vorliegen extragenitaler
Verletzungen assoziiert. War der Täter der betroffenen Frau persönlich bekannt, zeigten
sich signifikant
seltener extragenitale Verletzungen (HR 0,60; 95%-KI 0,36 – 0,99, p = 0,046).
Es zeigte sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Untersuchungszeitpunkt
und der Detektion
von extragenitalen Verletzungen (p = 0,173). Als Risikofaktor für das Vorliegen
von genitalen Verletzungen konnte eine anale Penetration (HR 1,89; 95%-KI 1,08 – 3,29,
p = 0,025) und ein
höheres Lebensalter der Betroffenen zwischen 50 – 74 Jahre (HR 3,00; 95%-KI 1,02 – 8,87,
p = 0,046) ermittelt werden ([Tab. 3]).
Tab. 3 Einflussfaktoren auf genitale und extragenitale Verletzungen. Signifikante Vergleiche
sind fett markiert dargestellt.
|
genitale Verletzung
|
extragenitale Verletzungen
|
|
n
|
HR
|
95%-KI
|
p-Wert
|
n
|
HR
|
95%-KI
|
p-Wert
|
|
Alter in Jahren
|
|
|
214
|
|
|
|
266
|
|
|
|
|
|
143
|
0,649
|
0,40 – 1,06
|
0,084
|
170
|
1,75
|
1,07 – 2,85
|
0,025
|
|
|
15
|
3,004
|
1,02 – 8,87
|
0,046
|
18
|
2,86
|
0,63 – 13,02
|
0,174
|
|
|
1
|
–
|
–
|
–
|
2
|
–
|
–
|
–
|
|
anamnestischer Alkoholkonsum
|
|
|
183
|
|
|
|
199
|
|
|
|
|
|
190
|
1,01
|
0,61 – 1,67
|
0,981
|
257
|
1,95
|
1,21 – 3,12
|
0,006
|
|
Tatzeit
|
|
|
204
|
|
|
|
258
|
|
|
|
|
|
169
|
0,85
|
0,51 – 1,42
|
0,537
|
198
|
0,71
|
0,44 – 1,16
|
0,173
|
|
Täter
|
|
|
123
|
|
|
|
184
|
|
|
|
|
|
250
|
0,73
|
0,45 – 1,20
|
0,215
|
272
|
0,6
|
0,36 – 0,99
|
0,046
|
Retrograde Amnesie und Konsum von Substanzen
Nur 61,2% der Patientinnen gaben an, sich vollständig an den Übergriff erinnern zu
können. 20,1% gaben einen vollständigen Erinnerungsverlust und 18,7% eine lückenhafte
Erinnerung an die
mitgeteilte Tat und ihre konkreten Umstände an. Als Risikofaktoren für eine Erinnerungslücke
konnten der anamnestisch freiwillige Konsum von Alkohol (59,8%) und die anamnestisch
unfreiwillige Verabreichung von Betäubungsmitteln durch den Täter (toxikologischer
Nachweis in 2,3%) (K.-o.-Tropfen, Drogen, Alkohol) erfasst werden (p < 0,001).
Durchführung der postkoitalen Empfängnisverhütung und der HIV-Postexpositionsprophylaxe
Im Rahmen der Vorstellung wurde nach Erhebung der Anamnese in 53,4% eine postkoitale
Empfängnisverhütung durch die/den behandelnde/-n Gynäkologin/-en empfohlen und an
die Patientinnen
ausgehändigt. Hingegen wurde eine Postexpositionsprophylaxe zum Schutz vor einer
HIV-Infektion (HIV-PEP) nur in 21,3% der Fälle verschrieben, und 3,9% der Patientinnen
erhielten eine Impfung
gegen Hepatitis B (aktiv) ([Tab. 1]). Das Auftreten genitaler Verletzungen führte zu einer häufigeren Durchführung einer
PEP (29,1%, n = 50) mit Verletzung
vs. 19,5% ohne Verletzung (n = 84, p < 0,012) wie auch einer Hepatitis-B-Impfung
(40%, n = 8 mit Verletzung vs. 28,5%, n = 167 ohne Verletzung, p < 0,028).
Psychiatrische Erkrankung
Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Anamnese und/oder frühere Selbstverletzungen
der betroffenen Patientinnen wurden in 13,4% der Fälle angegeben.
Diskussion
In der hier vorgestellten Studie über Frauen nach Sexualdelikt konnte gezeigt werden,
dass durch eine kombinierte gynäkologische und rechtsmedizinische Untersuchung bei
der Mehrzahl der
Patientinnen Verletzungen detektiert werden konnten, deren Entstehung anamnestisch
mit dem angegebenen Delikt assoziiert waren.
Durch die interdisziplinäre Untersuchung der Betroffenen und die ausgewertete Fallzahl
erscheint die Verteilung der genitalen und extragenitalen Verletzungsmuster aussagekräftig
und auf
andere Standorte übertragbar.
Der hohe Anteil von genitalen Verletzungen in unserer Untersuchung mit 28,5% belegt
den Stellenwert der gynäkologischen Untersuchung. In der Literatur variiert der Nachweis
genitaler
Verletzungen nach Sexualdelikten zwischen 6% [10] und 87% [11]. Dies lässt sich durch Unterschiede bezüglich der
Einschlusskriterien der Patientinnen in die Studien, der Definition von genitalen
Verletzungen, der Latenz zur Tatzeit und der Untersuchungsmethode erklären [12], [13], [14]. Flüchtige Befunde (Hautrötungen, Schwellungen) werden in manchen Studien nicht
systematisch
erfasst [12], [15] und können sich bei längerer Latenz einer späteren Nachweisbarkeit entziehen. Im
Gegensatz zu Studien,
die zeigen konnten, dass bei Frauen, die innerhalb von 72 Stunden nach einem Sexualdelikt
untersucht wurden, signifikant mehr genitale Verletzungen detektiert werden konnten
[16], [17], [18], konnten wir dies in unserem Kollektiv nicht bestätigen. Durch die zumeist
tatzeitnahe gynäkologische Untersuchung in unserem Kollektiv sowie die Dokumentation
der Intimverletzungen nach dem TEARS-System scheint eine relevante Unterschätzung
genitaler Verletzungen in
dieser Studie unwahrscheinlich.
Das Fehlen einer genitalen Verletzung schließt allgemein anerkannt ein Sexualdelikt
nicht aus [12]. Gleichzeitig belegt das Vorliegen von genitalen
Verletzungen auch kein Sexualdelikt, da auch nach einvernehmlichen Geschlechtsverkehr
Verletzungen nachgewiesen werden können [17]. Bei sexuell aktiven Frauen
kann es im Einzelfall Schwierigkeiten in der Differenzierung zur Herkunft von
Befunden geben. Der Nachweis von Verletzungen ist aus morphologischer Sicht aber gut
geeignet, um attestierte
Penetrationsmechanismen und mitgeteilte Details einer Tathandlung sachverständig
einzuschätzen und zu bewerten.
Aus dem gleichen Grund und aufgrund des hohen Anteils an extragenitalen Verletzungen
von 78,6% erscheint eine zusätzliche Ganzkörperuntersuchung bei der Betreuung von
Frauen nach Sexualdelikt
notwendig.
Als Risikofaktoren für das Auftreten von genitalen Verletzungen konnten wir die anale
Penetration und ein höheres Alter der Betroffenen ermitteln. Die mit dem höheren Lebensalter
einhergehende postmenopausale vaginale Schleimhautatrophie kann Verletzungen begünstigen
[19]. Das erhöhte Auftreten genitaler Verletzungen mit steigendem
Alter konnte in einer amerikanischen Studie mit 819 Patientinnen (20% genitale
Verletzungen) [20] und einer dänischen Studie mit 249 Patientinnen (32%
genitale Verletzungen) [21] sowie einer australischen Studie mit 1266 Patientinnen (24,5% genitale Verletzungen)
[18]
ebenfalls beobachtet werden. Die unfreiwillige(n) anale(n) Pentration(-sversuche)
gehen ebenfalls mit einer erhöhten Verletzungswahrscheinlichkeit einher. Als risikoerhöhend
für das Auftreten
von Verletzungen gelten außerdem die Art der Penetration bzw. die Nutzung von
Gegenständen, Betäubungsmittelkonsum und die Beziehung des Opfers zum Täter. So treten
laut Sugar et al. (2004)
vermehrt extragenitale Verletzungen auf, wenn die Betroffene dem Täter unbekannt
war [20]. Auch in unserer Untersuchung wiesen die Patientinnen mehr
extragenitale Verletzungen bei unbekanntem Täter auf (HR 0,60; 95%-KI 0,36 – 0,99,
p = 0,046). Es kann spekuliert werden, dass in dieser Täter-Opfer-Beziehung ein höheres
Maß an körperlicher
Gewalt angewendet wird. Zilkens et al. (2017) stellten einen Zusammenhang zwischen
der Betäubung der Opfer durch Sedativa und weniger genitalen Verletzungen fest [18] und schlussfolgerten, dass intoxikierte und schläfrige Patientinnen weniger Widerstand
leisten und so das Verletzungsrisiko geringer sei [21]. In
unserer Untersuchung konnten wir einen Zusammenhang zwischen einer vollständigen
oder teilweise bestehenden Erinnerungslücke und der Angabe von Alkoholkonsum zeigen,
allerdings ohne
Auswirkungen auf das existente genitale Verletzungsmuster. Demgegenüber und in
Übereinstimmung mit Maguire et al. (2009) konnten wir in unserem Kollektiv mehr extragenitale
Verletzungen bei
angegebenem Alkoholkonsum erfassen (HR 1,95; 95%-KI 1,21 – 3,12, p = 0,006) [16]. Einschränkend muss erwähnt werden, dass die Einnahme von Alkohol und/oder
Drogen in unserer Untersuchung nur anamnestisch erhoben wurde und kein routinemäßiges
toxikologisches Screening durchgeführt wurde. Dieses erfolgte in unserem Kollektiv
nur auf Anordnung der
Ermittlungsbehörden. K.-o.-Tropfen konnten bei Betroffenen, die eine Erinnerungslücke
in Bezug auf den Tathergang angeben haben, in unserer Untersuchung nur in 2,3% der
Fälle (n = 14)
laborchemisch detektiert werden.
Im Rahmen der gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung könnte, durch Aufklärung über die
möglichen Folgen von freiwilligem hohem Alkoholkonsum, gerade bei jungen Frauen Prävention
betrieben
werden. Frauenärzte/-innen kommt hierfür eine wichtige präventive Rolle zu.
Im Rahmen der Erstversorgung von Opfern sollte der Fokus auch auf der psychologischen
Betreuung der Patientinnen und dem Unterbreiten von niedrigschwelligen Kontaktmöglichkeiten
liegen. Dies
wird durch den hohen Anteil an psychiatrisch vorerkrankten Patientinnen in unserem
Kollektiv verdeutlicht. Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Anamnese und/oder
Selbstverletzungen
wurden in unserer Untersuchung in 13,4% der Fälle angegeben, wobei die Prävalenz
dieser Erkrankung in ganz Deutschland nur bei 2,7% liegt [22]. In
internationalen Studien wird ebenfalls ein hoher Anteil der Betroffenen von 25,8 – 39,7%
[18], [20] mit psychiatrischer
Vorerkrankung beschrieben. Durch eine zeitnahe psychologische Betreuung der Frauen
können typische Folgen von sexueller Gewalt, wie Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen
(PTSB)
und Angststörungen, zumindest adressiert werden [23]. Eine psychologische Versorgung ist jedoch im Rahmen einer Vorstellung in der Notaufnahme
schwierig zu
bahnen.
Das Risiko für eine unerwünschte Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung variiert
nach Alter der Patientin und vorhandener Kontrazeption und liegt bei ungefähr 5% [24]. Das Risiko einer HIV-Infektion liegt je nach Vaginal-, Oral- bzw. Analverkehr zwischen
0,001 – 0,03% [25], [26]. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die postkoitale Verhütung in über der Hälfte der
Fälle innerhalb von 120 Stunden nach dem Delikt verordnet wurde, während die
PEP nur in 21,3% der Fälle indiziert war und durchgeführt wurde. Die Beratung
durch Frauenärzte/-innen bezüglich ungewollter Schwangerschaften und Infektionen ist
somit ein weiterer wichtiger
Bestandteil der Erstversorgung. Das Auftreten genitaler Verletzungen erhöhte hierbei
die Indikationsstellung zur HIV-PEP und auch zur Hepatitis-B-Impfung. Es gibt keine
bundeseinheitliche
Empfehlung zur Indikation der HIV-PEP nach Sexualdelikten. Eine strenge Indikationsstellung
besteht nur einem bekannt positivem HIV-Status des Täters.
Limitationen der vorliegenden Studie sind der retrospektive Charakter der Datenerhebung
mit einem möglichen Selektionsbias. Hierdurch könnte z. B. auch die hohe Rate an psychiatrischen
Vorerkrankungen erklärt werden. Einschränkend muss außerdem erwähnt werden, dass
die Angaben zur Tathandlung als solcher, zum Tatzeitpunkt, zum Substanzkonsum und
der psychiatrischen
Vorerkrankung nur anamnestisch erfolgten und nicht durch kriminalpolizeiliche
Ermittlungsergebnisse verifiziert werden konnten (Recall Bias). Es ist aus der praktischen
Arbeit im Themenkontext
bekannt, dass ein Teil der anamnestischen Angaben zu Tatdetails, z. B. auch hinsichtlich
der Freiwilligkeit, sich nachträglich als nicht mehr verifizierbar herausstellen,
auch und gerade bei
Patientinnen mit psychiatrischen Vorerkrankungen.
Ob die Patientinnen im Nachhinein Hilfsangebote suchten bzw. annahmen, konnte in unserer
Studie nicht ausgewertet werden. Weiter ist das hier ausgewertete Verletzungsspektrum
nur auf das hier
untersuchte Kollektiv anwendbar, ein Transfer auf kindliche und jugendliche Betroffene
ist nicht möglich.
Schlussfolgerung
Eine kombinierte rechtsmedizinische Ganzkörperuntersuchung mit gynäkologischer Untersuchung
von Frauen nach angegebenem Sexualdelikt ermöglicht eine fachgerechte und gerichtsverwertbare
Dokumentation und Beurteilung von Verletzungen.
Die gynäkologische Untersuchung stellt einen elementaren Bestandteil und Grundpfeiler
in der medizinischen Versorgung von Frauen nach Sexualdelikten dar, da 28,5% der Betroffenen
Verletzungen
im Genitalbereich aufwiesen. Zudem erhalten mehr als die Hälfte der Frauen eine
postkoitale Verhütung, die von Frauenärzten/-innen indiziert wird. Nach unseren Ergebnissen
scheinen ein junges
Lebensalter, Konsum von Alkohol, die Verabreichung von Betäubungsmitteln und das
Vorliegen psychiatrischer Erkrankungen Risikofaktoren für das Auftreten von Sexualdelikten
und damit
assoziierten Verletzungen zu sein. Eine interdisziplinäre Versorgung von weiblichen
Opfern nach Sexualdelikten könnte als Vorbild einer nationalen Leitlinie dienen.