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DOI: 10.1055/a-1780-1762
Psychotherapeutische Weiterbehandlung nach stationärer Behandlung bei schweren psychischen Erkrankungen
Psychotherapeutic Follow-Up Treatment After Inpatient Care for Severe Mental DisordersDie mit Abstand meisten Krankenhaustage in Deutschland sind bedingt durch rezidivierende depressive Störungen, gefolgt von Schizophrenien. Unter den Top 10 befinden sich gleich vier Indikationen aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen [1]. Die evidenzbasierten Behandlungsstandards für diese schweren Erkrankungen werden durch aktuelle Leitlinien bestimmt [2] [3].
Die Leitlinienempfehlungen lassen sich für schwere und rezidivierende Depressionen wie für Schizophrenien im Sinne einer phasenadaptierten sequenziellen Behandlung auffassen. Das heißt, es gibt z. B. bei Depressionen phasenadaptierte Empfehlungen für eine Akutbehandlungsphase, eine darauffolgende Erhaltungstherapiephase, ggf. zugleich Wiedereingliederungs-/Rehabilitationsphase und ggf. eine Rezidivprophylaxe. Bei Schizophrenien werden Behandlungssequenzen für die Akutphase, die postakute Stabilisierungsphase sowie die Remissionsphase definiert. Diese Behandlungsschritte sollten zeitnah sequenziell aufeinanderfolgen. Bei schweren Depressionen sollte die Psychotherapie schon in der Akutbehandlungsphase ein wesentlicher Therapiebaustein sein [2], wo sie große anhaltende Effekte hat [4]. Auch in der Erhaltungstherapiephase ist sie mit Evidenzgrad A empfohlen, da sie das Rezidivrisiko fast halbieren kann [2]. Während früher die Positivsymptomatik bei Schizophrenie als unzugänglich für psychotherapeutische Interventionen galt, sind kognitive Verhaltenstherapie und metakognitives Training inzwischen durch Evidenz wiederholt belegt worden. Auf Negativsymptomatik kann das psychotherapeutische Training sozialer Kompetenzen signifikante Effekte haben und Rezidiv- und Rehospitalisierungsraten können durch psychotherapeutische Familieninterventionen verringert werden. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass diese Therapien nach einer stationären Behandlung ambulant in ausreichender Stundenzahl fortgesetzt werden sollten [3].
Für die Routineversorgung in unserem Gesundheitssystem bedeuten diese Leitlinienempfehlungen, dass nach stationärer Behandlung wegen schwerer Depression oder akuter psychotischer Episode ambulant eine entsprechende spezifische Psychotherapie direkt anschließen sollte. Die Leitlinienevidenz lässt keinen Zweifel, dass durch konsequent umgesetzte phasenadaptierte Interventionen relevante Effekte zu erwarten sind, um Rückfälle, Rezidive und letztlich Chronifizierungen zu verhindern sowie die Teilhabe zu verbessern.
Doch wie sieht es in der alltäglichen Versorgung aus? Die wenigen verfügbaren Studien zur Routinebehandlung von Depressionen im deutschen Gesundheitssystem weisen leider größtenteils darauf hin, dass diese Empfehlungen insbesondere bezüglich der Psychotherapie in vielen Fällen nicht umgesetzt werden:
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Nur ein Viertel der Patient*innen mit der Diagnose „schwere Depression“ erhielten eine leitliniengerechte Kombinationsbehandlung aus Pharmakotherapie und Psychotherapie, wobei meist die Psychotherapie fehlte, wie die Analysen des „Faktencheck Gesundheit“ zeigten [5].
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92 % der wegen einer schweren Depression stationär behandelten Patienten*innen erhielten in einer Studie in Routinedaten nach Entlassung keine leitliniengerechte Weiterbehandlung. Nur 33 % erhielten überhaupt mindestens eine Stunde Psychotherapie innerhalb des einjährigen Beobachtungszeitraums und nur 13 % eine nach Stundenzahl adäquate Psychotherapie innerhalb des ersten Quartals nach Entlassung. Die leitliniengerechte Weiterversorgung hatte in einem Regressionsmodell Effekte auf die Krankenhaus-Wiederaufnahmeraten und die Übersterblichkeit der Patient*innen [6].
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Die Wartezeit zwischen Kontaktaufnahme und Beginn der Psychotherapie betrug durchschnittlich 18–20 Wochen. Weder Psychotherapiestrukturreform [7] noch die Aufsplittung von Kassensitzen konnte dies nennenswert verändern.
Zusammenfassend erfolgt also in vielen Fällen nach Entlassung aus stationärer Behandlung keine leitliniengerechte (Psycho-)Therapie und wenn doch, dann verbunden mit unverändert langen Wartezeiten. Angesichts der klinischen Alltagserfahrungen ist bei Schizophrenien von einer noch eingeschränkteren psychotherapeutischen Routineversorgung auszugehen, auch wenn dazu systematische Studien fehlen.
Warum scheitert unser Versorgungssystem vielfach daran, gerade den Schwerstbetroffenen, die zuvor lange in stationärer Behandlung waren, Zugang zu leitliniengerechten, phasenadaptierten und hochwirksamen Psychotherapien zu geben? Drei Faktoren könnten eine Rolle spielen:
Erstens fehlt es an Anreizstrukturen und Steuerungselemente seitens des Gesundheitswesens. Das aktuelle System legt die Verantwortung für eine leitliniengerechte, sequenzielle, phasenadaptierte Therapie in die Hände der Betroffenen selber: In der von Wartelisten und Anrufbeantworterschleifen gekennzeichneten Konkurrenz um Therapieplätze haben diejenigen, welche diese Plätze am dringendsten benötigen würden, durch die mit der Erkrankung einhergehenden schweren Funktionsdefizite Nachteile. Für die selbstständig arbeitenden Psychotherapeut*innen fehlen außerdem Anreize, diesen Gruppen der Schwerbetroffenen entgegenkommende Angebote zu machen, sodass ihnen Kapazitätsausweitungen im System kaum zugutekommen. Die Honorare sind die gleichen wie für leichter Betroffene, die Therapieprozesse bei häufigen Komorbiditäten wie Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen wesentlich komplexer [8] und aufgrund der Funktionsdefizite wie auch Rezidivrisiken die Ausfall- und Abbruchwahrscheinlichkeiten höher.
Zweitens haben wir kaum Wissen über die Outcomes unserer Routinebehandlungspraxis und damit auch keine Orientierung, das System im Sinne einer iterativen Optimierung hin zu einer besseren Versorgung zu entwickeln. Hier besteht eine Chance darin, dass Initiativen für einen besseren Zugang zu (anonymen) Routinedaten oder auch Verlaufsuntersuchungen auf Basis der elektronischen Patientenaktendaten neue Möglichkeiten in der Evaluation der Versorgungssequenzen bieten und damit eine Basis für rationalere gesundheitspolitische Steuerungen.
In einem dritten Punkt müssen wir uns als (forschende) psychiatrisch und/oder psychotherapeutisch Tätige ein Stück weit selber hinterfragen: Die wissenschaftliche Community wie auch die Gesellschaft insgesamt sind sehr auf die Entwicklung neuer Einzelinterventionen fixiert, wie z. B. aktuell in den USA der Hype um Halluzinogene in der Depressionsbehandlung zeigt. Natürlich ist jeder neue Weg aus der Therapieresistenz zu begrüßen, jedoch werden damit auf Populationsebene für „Volkskrankheiten“ wie Depressionen kaum signifikante Verbesserungen zu erzielen sein. Vielmehr müssen wir dafür bei den eher chronisch oder rezidivierend verlaufenden schweren psychischen Erkrankungen unser Gesundheitssystem endlich mehr als integriertes System ineinandergreifender Interventionen begreifen – und davon sollte nach aktuellem Evidenzstand bei schwer psychisch Kranken die Psychotherapie ein wichtiger Teil sein.
Aber es gibt auch gute Nachrichten: Zwei Modelle integrierter Versorgung könnten zukünftig helfen, die beschriebenen Versorgungslücken zu schließen. Erstens könnte die bereits beschlossene und in diesem Jahr startende ambulante Komplexbehandlung ein wichtiger Baustein für eine besser integrierte und leitliniengerechte Versorgung werden [9]. Hier ist die regionale Vernetzung von niedergelassenen Psychiatern, Psychotherapeuten, psychiatrischen Kliniken, psychiatrischer Pflege und Spezialtherapeuten vorgesehen. Allerdings stehen die für den Erfolg dieser Netzwerke entscheidenden finanziellen Anreizstrukturen noch nicht fest und bislang sind sie leider nur für eine kleine Gruppe von Patient*innen mit sehr ausgeprägten Funktionsdefiziten (GAF < 50) vorgesehen. Zweitens sollten auch Modelle leitliniengerechter ambulanter psychotherapeutischer Follow-up-Behandlung durch die Krankenhäuser selber ermöglicht werden [10]. Aktuell sind die Abrechnungssysteme der psychiatrischen Institutsambulanzen leider in den meisten Bundesländern so limitiert, dass damit eine leitliniengerechte psychotherapeutische Versorgung kaum möglich ist. Um hier keine für den ambulanten Sektor bedrohlich erscheinende Konkurrenz entstehen zu lassen, könnten diese Versorgungswege zeitbegrenzt auf Fälle beschränkt sein, die gerade aus stationärer Behandlung entlassen wurden oder wo sich eine stationäre Behandlung abwenden lässt und die im ambulanten Sektor keine zeitnahe leitliniengerechte Weiterbehandlung finden. So gäbe es zugleich einen Antrieb für die ambulanten Netzwerke, eine zeitnahe leitliniengerechte Versorgung anzubieten.
Das sind nämlich die entscheidenden Punkte bei den Modellen: Erstens, finanzielle Anreize und Strukturen zu schaffen, in denen es nicht mehr in der Verantwortung der schwerkranken Patient*innen ist, in Konkurrenz zu weniger schwer Betroffenen verzweifelt nach Möglichkeiten für die eigene psychotherapeutische Behandlung zu suchen. Für die Steuerung von leitliniengerechten, phasenadaptierten Behandlungsketten sollte das Gesundheitssystems verantwortlich sein. Dazu gehört auch, die knappen Ressourcen wie Psychotherapie dem Schweregrad der Erkrankung entsprechend zuzuweisen. Zweitens, systematisch zu evaluieren, dass diese Angebote bei den Betroffenen ankommen und wie sie sich auf die Outcomes auswirken. Und drittens fehlt bei den bisher angedachten Modellen eine Einbindung der Hausärzt*innen, die immerhin die Hälfte der ambulanten Versorgung auch bei schweren psychischen Krankheiten übernehmen [5] [6].
Positiv betrachtet liegen in der Realisierung dieser evidenzbasierten Versorgungssequenzen in integrierten Behandlungsnetzwerken mit besonderem Fokus auf der phasenadaptierten Psychotherapie schwerkranker Patient*innen sowie deren systematischer Evaluation riesengroße Potenziale. Durch die vernetzte und in den Anreizstrukturen evidenzorientiertere Routineversorgung der Zukunft können bessere Outcomes erreicht, Chronifizierungen und Rezidiven vorgebeugt und eine bessere Teilhabe ermöglicht werden.
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Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Augurzky B, Decker S, Leber R. et al. BARMER Krankenhausreport 2021. Berlin: BARMER Verlag; 2021: 1-136
- 2 DGPPN, BÄK, KBV, AWMF. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung. 2. Auflage, Version 5. AWMF-Register-Nr.: nvl-005 2015. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-005.html
- 3 DGPPN. S3-Leitlinie Schizophrenie. AWMF-Register Nr. 038-009 Langfassung, Stand: 15.03.2019. 2019: 1-359 https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html
- 4 Cuijpers P, Quero S, Noma H. et al. Psychotherapies for depression: a network meta-analysis covering efficacy, acceptability and long-term outcomes of all main treatment types. World psychiatry 2021; 20: 283-293
- 5 Melchior H, Schulz H, Härter M. Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bertelsmann Stiftung; 2014: 1-144
- 6 Wiegand HF, Saam J, Marschall U. et al. Probleme beim Übergang von der stationären zur ambulanten Depressionsbehandlung – Analyse administrativer Versorgungsdaten einer großen deutschen Krankenkasse. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: 472-479
- 7 Singer S, Maier L, Paserat A. et al. Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz vor und nach der Psychotherapiestrukturreform. Psychotherapie 2021;
- 8 Kraus C, Kadriu B, Lanzenberger R. et al. Prognosis and improved outcomes in major depression: a review. Translational Psychiatry 2019; 9: 127
- 9 https://www.g-ba.de/themen/psychotherapie/berufsgruppenuebergreifende-versorgung-fuer-schwer-psychisch-erkrankte/ abgerufen am 15.02.2022
- 10 https://www.dgppn.de/presse/stellungnahmen/stellungnahmen-2020/dialogforum.html#1 abgerufen am 15.02.2022
Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
05 April 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Augurzky B, Decker S, Leber R. et al. BARMER Krankenhausreport 2021. Berlin: BARMER Verlag; 2021: 1-136
- 2 DGPPN, BÄK, KBV, AWMF. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung. 2. Auflage, Version 5. AWMF-Register-Nr.: nvl-005 2015. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-005.html
- 3 DGPPN. S3-Leitlinie Schizophrenie. AWMF-Register Nr. 038-009 Langfassung, Stand: 15.03.2019. 2019: 1-359 https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html
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- 5 Melchior H, Schulz H, Härter M. Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bertelsmann Stiftung; 2014: 1-144
- 6 Wiegand HF, Saam J, Marschall U. et al. Probleme beim Übergang von der stationären zur ambulanten Depressionsbehandlung – Analyse administrativer Versorgungsdaten einer großen deutschen Krankenkasse. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: 472-479
- 7 Singer S, Maier L, Paserat A. et al. Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz vor und nach der Psychotherapiestrukturreform. Psychotherapie 2021;
- 8 Kraus C, Kadriu B, Lanzenberger R. et al. Prognosis and improved outcomes in major depression: a review. Translational Psychiatry 2019; 9: 127
- 9 https://www.g-ba.de/themen/psychotherapie/berufsgruppenuebergreifende-versorgung-fuer-schwer-psychisch-erkrankte/ abgerufen am 15.02.2022
- 10 https://www.dgppn.de/presse/stellungnahmen/stellungnahmen-2020/dialogforum.html#1 abgerufen am 15.02.2022

