Hintergrund
Ende 2023 verliert die aktuelle S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren
psychischen Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) [1 ] ihre Gültigkeit. Der ersten, im Jahre 2013 erschienenen Leitlinie soll nun eine
zweite Aktualisierung folgen. Den Empfehlungen der ersten beiden Auflagen liegen systematische
Literaturrecherchen zur Wirksamkeit verschiedener psychosozialer Therapien zugrunde.
Unter Einbindung von Betroffenen- und Angehörigenvertreter*innen, Expert*innen und
führenden Praxisvertreter*innen des Feldes erfolgte ein formalisiertes, im nominalen
Gruppenprozess auf Konsens zielendes Prozedere, um die Empfehlungen auf breite Füße
zu stellen. In vielen Bereichen konnten aufgrund der umfangreichen Evidenz klare Behandlungsempfehlungen
formuliert werden.
Diagnoseübergreifender Ansatz
Diagnoseübergreifender Ansatz
Eine Besonderheit dieser Leitlinie bleibt ihr diagnoseübergreifender Ansatz. Zielgruppe
der Leitlinie sind Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Gemeinsam ist den
Betroffenen, dass sie über eine lange Zeit mit ihren Symptomen, den Auswirkungen ihrer
Erkrankung und den erlebten Einschränkungen in verschiedenen Funktions- und Lebensbereichen
zurechtkommen müssen [2 ]. Aufgrund des frühen Beginns vieler psychischer Erkrankungen werden Lebensbiografien
schon frühzeitig beeinflusst. Die Behandlungsbedarfe sind in aller Regel komplex und
mit einer intensiven Inanspruchnahme psychiatrischer, psychotherapeutischer und psychosozialer
Hilfen verbunden [3 ]. Die Risiken sozialer Exklusion gegenüber der Allgemeinbevölkerung sind hoch. Viel
zu häufig sind die Betroffenen von der Teilhabe an Bildung und beruflicher Beschäftigung
ausgeschlossen [4 ]
[5 ] und die sozioökonomischen Bedingungen unbefriedigend [6 ]. Die Stigmatisierung gegenüber psychischen Erkrankungen ist nach wie vor hoch und
für die Betroffenen und ihre Angehörigen auf vielfältige Weise spürbar [7 ]. Auch hinsichtlich der somatischen Gesundheit sind Menschen mit schwerer psychischer
Erkrankung deutlich schlechter gestellt. Die Komorbidität und Mortalität sind vergleichsweise
hoch [8 ].
Vielfalt psychosozialer Interventionen
Vielfalt psychosozialer Interventionen
Die verschiedenartigen psychosozialen Therapien, die neben den somatischen und psychotherapeutischen
Ansätzen eine bedeutende Rolle in der Behandlung psychischer Erkrankungen spielen,
zielen darauf ab, die individuellen Möglichkeiten der Betroffenen für ein selbstbestimmtes
Leben zu erweitern sowie Gesundheit, Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe
zu verbessern. In der Leitlinie wurden diese erstmals für den deutschsprachigen Raum
systematisiert. Folgte man in der Leitlinie bisher einem pragmatischen Ansatz, mit
dem zwischen System- und Einzelinterventionen, den Ansätzen der Selbsthilfe und den
grundlegenden Aspekten psychosozialen Handelns unterschieden wurde, wird man in der
3. Auflage dem Recovery-Gedanken (noch) stärker gerecht und rückt den Menschen mit
seinen individuellen Bedarfen, Zielen und Teilhabebestrebungen in den Mittelpunkt.
Das Recovery-orientierte Modell
Das Recovery-orientierte Modell
Ausgehend vom Recovery-Ansatz und seinen verschiedenen Dimensionen [9 ]
[10 ] werden die psychosozialen Interventionen in einem Recovery-orientierten Modell der
psychosozialen Versorgung verortet. Im Zentrum steht der Recovery-Prozess, der hier
als ein „Prozess von persönlichem Wachstum und Entwicklung“ gesehen wird ([11 ] S. 45). Hierbei wird die persönliche, subjektive, personenzentrierte oder auch rehabilitative
Perspektive von Recovery betont [11 ]
[12 ]. Die äußeren Dimensionen, die sich um das Zentrum gruppieren (vgl. [
Abb. 1
]), stehen in enger Beziehung mit dem Recovery-Prozess und die hierunter subsumierten
Interventionen können diesen Prozess unterstützen. Neben der sozialen und kulturellen
sowie der beruflichen Teilhabe werden hier die Dimensionen Gesundheit und Wohlergehen
sowie Gesundheitskompetenz und Selbsthilfe adressiert. Mit konzeptionellen Ansätzen
wie der partizipativen Entscheidungsfindung, einer multiprofessionellen teambasierten
Behandlung oder einem Case-Management in der Gemeinde, können Behandlungsergebnisse
und -koordination verbessert werden. Innerhalb der verschiedenen Dimensionen, lassen
sich die psychosozialen Interventionen jeweils auf einer strukturellen und einer individuellen
Ebene einordnen. Bezogen auf die Dimension Gesundheit und Wohlergehen wird im Modell
deutlich gemacht, dass neben der individuellen Förderung von Sport und Bewegung und
einer gesundheitsförderlichen Haltung und Lebensweise durch geeignete und evidenzbasierte
Interventionen auch auf struktureller Ebene Interventionen erforderlich sind, um die
Gesundheit und das Wohlergehen schwer psychisch kranker Menschen zu verbessern. Erforderlich
ist dabei vor allem eine integrierte, koordinierte und umfassende Gesundheitsversorgung,
die alle notwendigen Behandlungselemente, einschließlich der somatischen Behandlung
umfasst.
Abb. 1 „Recovery-orientiertes Modell der psychosozialen Versorgung“.
Psychosoziale Interventionen können in den verschiedenen Dimensionen unterschiedliche
spezifische Ziele und Funktionen haben und sind deshalb dimensionsübergreifend relevant.
Im Modell werden diese Interventionen mit einem Sternchen hervorgehoben. Das trifft
beispielsweise auf die Künstlerischen Therapien zu. Hierbei können die Schwerpunkte
sowohl auf der therapeutischen Beziehungsgestaltung als auch in der Erweiterung von
Möglichkeiten sozialer und kultureller Teilhabe, beispielsweise durch künstlerische
Angebote im Museumsraum, liegen. Spezifische Ansätze – wie Biografiearbeit und Tanz
– können beispielsweise auf ein stärkeres Empowerment bzw. auf eine Verbesserung von
Gesundheit und Wohlergehen zielen. Auch die in der Literatur weit verbreitete Einteilung
der ergotherapeutischen Zielbereiche in Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit
macht deren dimensionsübergreifende Bedeutung deutlich. Exemplarisch verwiesen werden
soll hier auf den Bereich der Produktivität, der nach ergotherapeutischem Verständnis
zweckgebundene Betätigungen umfasst, die den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit
sichern (Dimension berufliche Teilhabe) oder beispielsweise durch Kindererziehung
oder Ehrenamt einen Beitrag für andere Personen oder die Gesellschaft leisten (soziale
Teilhabe). Ebenso ließen sich für die Genesungsbegleitung zahlreiche unterschiedliche
Ziele benennen, die beispielsweise in einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse
durch die Bereicherung von Peer-Mitarbeiter*innen in multiprofessionellen Teams, in
einer verbesserten sozialen Teilhabe durch eine Stärkung sozialer Netzwerke oder in
einer verbesserten somatischen Gesundheit durch eine Unterstützung beim Navigieren
durch das Gesundheitssystem liegen können.
Fazit
Das Recovery-orientierte Modell der psychosozialen Versorgung erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit. Vielmehr gehen die Autor*innen davon aus, dass es weitere Therapien
und Ansätze gibt und geben wird, die sich hier verorten lassen. Das Modell ist auf
Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung angelegt. Bereits jetzt verdeutlicht es die
große Relevanz psychosozialer Therapien für den individuellen Recovery-Prozess. Dabei
wird verschiedenen Ansätzen, wie beispielsweise denen des Supported Employment und
des Supported Housing oder dem Trialog und Peer Support ein besonderes Potenzial zugeschrieben,
persönliches Recovery zu unterstützen [13 ]. Recovery ist auf das Engste mit gesellschaftlicher Teilhabe verknüpft, die spätestens
mit der Ratifizierung der UN-BRK durch Deutschland im Jahre 2009 als eines der wesentlichsten
Ziele in der Versorgung dieser Menschen definiert wird. In der S3-Leitlinie „Psychosoziale
Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ wird internationale wissenschaftliche
Evidenz zusammengetragen, die aufzeigt, welche Möglichkeiten sich in wissenschaftlichen
Studien als wirksam erwiesen haben, die gesellschaftliche Teilhabe schwer psychisch
kranker Menschen, aber auch deren Gesundheit und Gesundheitskompetenz sowie Behandlungsergebnisse
durch innovative Ansätze zu verbessern. In der geplanten Neuauflage der Leitlinie
werden sich die Empfehlungen zu psychosozialen Therapien und zur Förderung von Selbsthilfe
stringent an den im Modell definierten Recovery-Dimensionen und ihren zugrunde liegenden
Zielen, Wünschen und Bedarfen der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen orientieren.