Psychiatr Prax 2022; 49(04): 174-176
DOI: 10.1055/a-1813-8713
Editorial

Wir müssen etwas tun – es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel

We Have to do Something – Time for a Paradigm Shift
Arno Deister
Apl. Professor der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Arno Deister

Nicht weil es schwierig ist, wagen wir es nicht –
sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwierig

(Lucius Annaeus Seneca, 1–65 n. Chr.)

Das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie befindet sich aktuell unzweifelhaft in einer gravierenden Umbruchssituation. Die Anzeichen dafür sind vielfältig: Die Zahlen der Behandlungsfälle nehmen weiter zu, die stationäre Verweildauer nimmt ab. Nach längerer Zeit der Reduktion der Bettenzahl nimmt jedoch seit einiger Zeit die Zahl der Betten in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken auch wieder zu. Ökonomische Rahmenbedingungen werden zunehmend mehr zur Basis therapeutischer Entscheidungen; es bestehen ausgeprägte Fehlanreize, insbesondere durch einseitige Unterstützung stationärer Versorgung. Demgegenüber sind ambulante und aufsuchende Behandlungsformen deutlich unterfinanziert. Und eines der gravierendsten Probleme für die Zukunft besteht sicherlich darin, dass der Personalmangel, insbesondere im Bereich der Pflege und der Ärztinnen und Ärzte, weiter zunimmt. Kurz: Ein an den Bedürfnissen und dem Bedarf von Patientinnen und Patienten orientierte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung ist schwieriger denn je. Dabei ist die Erwartung an die Gesellschaft, dass sie sich entscheiden muss, wie viel sie einsetzen will, um das zu leisten, was Menschen mit psychischen Erkrankungen benötigen, mindestens so alt wie die Psychiatrie-Enquête – also bald ein halbes Jahrhundert.

In dieser Situation ist es unabdingbar, eine Diskussion darüber zu führen, was wir für eine gute Psychiatrie benötigen. Wir brauchen eine Orientierung am Menschen, ausreichend Zeit für Therapie, soziale Gerechtigkeit und vor allem Qualität. Wir brauchen dazu einen Konsens zwischen allen Beteiligten – zwischen von psychischer Erkrankung betroffenen Menschen und deren Angehörigen, den in diesen Bereichen tätigen Menschen sowie der Gesellschaft insgesamt.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel – und wir brauchen ihn bald. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel von der Orientierung an den Strukturen der Anbieter hin zu der Orientierung an den Bedürfnissen und dem Bedarf der Patienten, von der Finanzierung von Einzelleistungen hin zur Finanzierung von Aufgaben, von der Orientierung am Behandlungssetting zur Settingunabhängigkeit und von der Verfolgung von Partialinteressen zur Übernahme von Verantwortung in der Region. Diese Veränderungen werden nicht möglich sein, ohne dass dies von der Gesundheitspolitik nicht nur unterstützt, sondern auch aktiv gefördert wird. Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die laufende Legislaturperiode zeigt hoffnungsvolle Perspektiven auf. Die Umsetzung dieser Perspektiven ist bisher jedoch noch ein nicht eingelöstes Versprechen. Die Hoffnung auf eine vollständige Umsetzung wird aktuell durch die Verschiebung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die unter dem Eindruck der großen Krisen, denen wir uns ausgesetzt sehen, stehen und den daraus folgenden Umschichtungen von Finanzmitteln auf eine harte Probe gestellt [1].

Die politischen Ziele sind ja durchaus ambitioniert: Über allem steht der politische Wille, dass eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung und eine menschliche und qualitativ hochwertige Medizin und Pflege angestrebt werden. Dazu brauche es eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik, die Arbeitsbedingungen müssten verbessert, Innovationen ermöglicht und die Digitalisierung vorangetrieben werden. Grundlage für all dies sei eine stabile Finanzierung des Gesundheitswesens. Die Gesundheitsförderung und Prävention sollen in den Vordergrund gestellt werden, bisher unnötig stationär erbrachte Leistungen sollten ambulant erbracht werden. Für geeignete Leistungen wird eine sektorengleiche Vergütung angestrebt. Der gesetzliche Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern soll ausgeweitet werden, um innovative Versorgungsformen zu stärken. Die Budgetierung der hausärztlichen Honorare soll aufgehoben, geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung sollen abgebaut werden. Bezüglich der Psychiatrie und Psychotherapie wird konkret eine bundesweite Aufklärungskampagne zur Entstigmatisierung psychischer Störungen angekündigt. Die psychotherapeutische und psychiatrische Bedarfsplanung soll reformiert werden. Insbesondere für Menschen mit schweren und komplexen Erkrankungen soll die ambulante Versorgung verbessert werden. Im stationären Bereich soll für eine leitliniengerechte psychotherapeutische Versorgung und eine bedarfsgerechte Personalausstattung gesorgt werden.

Die Versorgungrealität sieht in vielen Bereichen noch völlig anders aus: Den inzwischen seit fast 20 Jahren bestehenden Modellprojekten für eine innovative Versorgungstruktur wird der Zugang zur Regelversorgung trotz eindeutiger wissenschaftlicher Nachweise der fachlichen und ökonomischen Wirksamkeit verweigert. Die Diskussionen über eine zukunftsfähige Personalbemessung im Gemeinsamen Bundesausschuss beschäftigen sich in keiner Weise mit einer Verbesserung der Qualität, sondern belasten die Versorgung in der Region zusätzlich. Dringend notwendige Anreize für eine bessere Versorgung werden durch existenzgefährdende Sanktionen ersetzt. Auch die Diskussion über eine Verbesserung der Koordination der Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in der Region ist in Ansätzen stecken geblieben. Eine Qualitätssicherung, die unabhängig von den jeweiligen Behandlungssettings wäre, ist nicht erkennbar. Die Liste weiterer Beispiele wäre lang.

Was können wir nun unter der Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen verstehen? Zunächst einmal geht es darum, diese Bedürfnisse zu erkennen, ernst zu nehmen und zur Basis der Versorgungsstrukturen in der Region zu machen. Dies bedeutet keine unkritische Übernahme von subjektiven Erwartungen. Die Berücksichtigung der berechtigten Bedürfnisse der betroffenen Menschen und deren Angehörigen muss jedoch ein Maßstab sein, aus dem sich ein konkreter und umsetzbarer Bedarf im Gesundheitswesen ergibt. Die Berücksichtigung der unveräußerlichen Menschenrechte, die Beachtung von Autonomie und Selbstbestimmung, das ernsthafte Bemühen um Partizipation sowie die möglichst weitgehende Vermeidung von Zwang sind zentrale Bestandteile eines so definierten Bedarfs.

Der Maßstab der Gerechtigkeit manifestiert sich insbesondere in einer gerechten Ressourcenverteilung und in der Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung. Eine gerechte Ressourcenverteilung muss sich an der großen Häufigkeit psychischer Erkrankungen, dem teilweise massiven und lebenslangen Leiden unter psychischen Störungen, aber insbesondere auch an der Sicherstellung von verantwortlicher Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ausrichten. Wir alle sind aufgefordert dafür zu sorgen, dass die Beteiligten in der psychiatrischen Versorgung mehr Zeit haben – mehr Zeit für Therapie, mehr Zeit für therapeutisch gestaltete Beziehung. Das Garantieren von ausreichender therapeutischer Zeit ist nicht nur entscheidend für die Erfüllung des Bedarfs, sondern bildet auch die Grundlage dafür, die Tätigkeit in der Psychiatrie und Psychotherapie attraktiv für alle Beteiligten zu halten. Ohne diese Attraktivität wird es nicht möglich sein, engagierte und kompetente Menschen für eine Tätigkeit im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie zu gewinnen. Eine Beschleunigung der abwärts gerichteten Spirale des Personalmangels wäre – und ist – die unausweichliche und gefährliche Folge. Personalbemessung muss sich an der erforderlichen Zeit orientieren, die Voraussetzung ist für die Schaffung einer ausreichenden Qualität in der Versorgung. Dies betrifft insbesondere die Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Individualisierte Psychotherapie, gezielte psychosoziale Unterstützung, aber auch die Weiterentwicklung von biologischen Therapieverfahren benötigen Zeit – und sie benötigen natürlich auch Geld [2] [3].

Qualität muss unabhängig von den Behandlungssektoren gedacht, gefordert und beurteilt werden. Maßstab für die Hilfe und Behandlung dürfen nicht die traditionell gewachsenen und heute weitgehend überholten Strukturen der Versorgung sein. Das bestehende fragmentierte und gespaltene Finanzierungs- und Versorgungssystem führt nicht nur zu Brüchen in der therapeutischen Beziehung, sondern häufig auch zum Abbruch der Behandlung – und damit zur Verschlechterung der Situation von Patientinnen und Patienten. Wir brauchen ein umfassendes und vernetztes Angebot von Diagnose, Behandlung, Rehabilitation und Hilfe, das in der Nähe der Patientinnen und Patienten verfügbar ist. Ein Versorgungssystem, das an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten orientiert und in verschiedenen Stufen des Bedarfs organisiert ist. Die Zukunft der psychiatrischen Versorgung liegt in einem an den Bedürfnissen der Patienten orientierten flexiblen Versorgungssystem. Für das Erreichen dieses Zieles ist es erforderlich, die Erkenntnisse und Erfahrungen aus Modellprojekten für die Regelversorgung zu nutzen und die vorhandenen therapeutischen Angebote im Sinne eines gestuften Versorgungskonzepts zu organisieren. Ohne eine grundlegende Umgestaltung des Finanzierungssystems werden diese Ziele jedoch nicht erreicht werden können. Es muss auch ökonomische Anreize dazu geben, sektoren- und settingübergreifend zu arbeiten – auch bezogen auf Maßnahmen, die zwar in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern geregelt sind, die aber inhaltlich eng miteinander verbunden sind.

Das Konzept der regionalen Verantwortung steht für den notwendigen Paradigmenwechsel. Es steht für eine am Bedarf in einer definierten Region orientierte Versorgung. Es steht für die Verbindung von institutioneller und persönlicher Verantwortung für eine gute Qualität, für Verantwortung, für strukturelle und funktionale Vernetzung mit der Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und für die Verantwortung für die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Nur die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für die Menschen mit psychischen Erkrankungen, deren Angehörige und das gesamte Versorgungssystem einschließlich der Schaffung der dafür erforderlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen wird ein zukunftsfähiges psychosoziales Gesundheitssystem in der Region möglich – und erfolgreich – machen [4] [5].


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Arno Deister
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Niemannsweg 147
24105 Kiel
Deutschland   

Publication History

Article published online:
06 May 2022

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