Pneumologie 2022; 76(07): 479-484
DOI: 10.1055/a-1832-2546
Stellungnahme

Untersuchung auf Tuberkulose bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine

Eine Handlungsempfehlung des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V. (DZK) in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Leitlinie Tuberkulose im Kindes- und Jugendalter und der Gesellschaft für pädiatrische Pneumologie (GPP)Screening for tuberculosis among refugee children and adolescents from UkraineA recommendation of the German Central Committee against Tuberculosis e. V. (DZK) together with the writing group pediatric tuberculosis of the Society of Pediatric Pneumology (GPP)
Folke Brinkmann
1   Universitätskinderklinik der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für pädiatrische Pneumologie/CF-Zentrum
,
Cornelia Feiterna-Sperling
2   Charité Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Pädiatrie m. S. Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin
,
Annette Günther
3   Helios Klinik Emil von Behring Berlin, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
,
Cornelia Breuer
4   Landeshauptstadt Dresden, Amt für Gesundheit und Prävention
5   Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V. (DZK), Berlin
,
Pia Hartmann
6   Labor Dr. Wisplinghoff Köln, Klinische Infektiologie
,
Markus Hufnagel
7   Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Abteilung Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie
,
Martin Priwitzer
8   Landeshauptstadt Stuttgart, Gesundheitsamt
,
Ralf Otto-Knapp
5   Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V. (DZK), Berlin
,
Peter Witte
5   Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V. (DZK), Berlin
9   Institut für Krankenhaushygiene, Mühlenkreiskliniken, Minden
,
Roland Diel
5   Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V. (DZK), Berlin
10   Institut für Epidemiologie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
,
Brit Häcker
5   Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V. (DZK), Berlin
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Zusammenfassung

Für geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine besteht ein erhöhtes Risiko einer Tuberkulose (TB) aufgrund ihrer Herkunft aus einem Land mit einer der höchsten Tuberkulose-Inzidenzen in der europäischen WHO-Region. Erhöht wird dieses Risiko zusätzlich durch Krieg und Flucht und dem oftmals damit verbundenen Aufenthalt in beengten Unterkünften sowie mangelnder Ernährung und unzureichender medizinischer Versorgung. Dazu kommt eine mögliche Exposition bei Aufenthalt in Gemeinschaftsunterkünften. Dieses Risiko kann in der aktuellen Situation individuell unterschiedlich hoch sein. Deshalb ist es wichtig, bei allen geflüchteten Kindern und Jugendlichen die Indikation für eine immundiagnostische Untersuchung hinsichtlich TB zu prüfen. Bei Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete besteht eine Verpflichtung zur Untersuchung nach Infektionsschutzgesetz (IfSG), für im privaten Bereich Untergebrachte sollte ein Angebot unterbreitet werden. Symptom- und/oder Thorax-Röntgen-basiertes TB-Screening haben bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen eine geringere Sensitivität und Spezifität für das Vorliegen einer Tuberkulose. Zudem soll in dieser Altersgruppe eine Exposition mit ionisierender Strahlung besonders restriktiv gehandhabt werden. Bei TB-gefährdeten Kindern und Jugendlichen wird daher empfohlen, primär einen Interferon-Gamma Release Assay (IGRA) oder einen Tuberkulinhauttest (THT) durchzuführen. Bei positivem Testergebnis sollen eine weitere Abklärung und Therapie gemäß bestehender nationaler Empfehlung erfolgen.


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Epidemiologie und medizinischer Hintergrund

Die TB-Inzidenz in Deutschland lag 2020 bei 5,0/100.000 Einwohner und bei Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren bei 1,4/100.000 Kinder [1]. Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit erkrankten im Vergleich zu deutschen Kindern etwa 12-mal so häufig an einer TB (Inzidenz 6,6 vs. 0,5) [1].

Diese Handlungsempfehlung versucht auf spezielle Faktoren und Fragen bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine einzugehen. Sie richtet sich an Ärztinnen und Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst und an alle Personen, die in die medizinische Betreuung geflüchteter Kinder und Jugendlicher nach deren Ankunft in Deutschland eingebunden sind. Die Ukraine hat eine der höchsten Inzidenzen für TB in Europa mit geschätzt 73/100.000 [2], wobei es regionale Inzidenz-Unterschiede gibt [3]. Dabei ist der Anteil von multiresistenten TB-Stämmen bei Erwachsenen mit 33 % in 2020 besonders hoch [4]. Bei vorbehandelten Patienten liegt dieser Anteil sogar bei 46 % [5]. Eine Untersuchung an Bevölkerungsgruppen in und aus Krisenregionen beschreibt ein erhöhtes Risiko einer TB-Exposition z. B. auch während der Flucht und bei Aufenthalten in Massenunterkünften [6].

Die TB-Inzidenz bei Kindern aus der Ukraine wurde durch das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) für 2019 für die Altersgruppe von 0–4 Jahren mit 9,4/100.000 und bei den 5–14-Jährigen mit 7,8/100.000 angegeben [7]. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2016 zeigte, dass bei syrischen Kriegsflüchtlingen (bei einer von der WHO für Syrien für 2015 angegebenen TB-Inzidenz von 17/100.000) beim initialen Screening in Belgien eine TB-Fallfindungsrate von 94/100.000 beobachtet werden konnte [8]. Ähnliche Entwicklungen sind auch infolge des Angriffskriegs in der Ukraine denkbar. Daher muss bei einer hohen Zahl an geflüchteten Frauen und Kindern mit einer relevanten Anzahl latent infizierter und erkrankter Personen gerechnet werden.

Generell ist das Risiko einer TB-Übertragung, das von Kindern ausgeht, geringer als bei Erwachsenen. Allerdings gibt es keine wissenschaftlichen Hinweise für eine Altersgrenze, ab der eine TB-Ansteckungsgefahr auf andere Personen sicher ausgeschlossen werden kann. Aus diesem Grund ist es bei TB-gefährdeten Kindern und Jugendlichen ebenso wichtig wie bei Erwachsenen, eine TB mit der bestmöglichen Methode auszuschließen. Eine Übersichtsarbeit beschreibt mehrere Fälle von Kindern mit einer pulmonalen TB, die bis zu 39 % der erwachsenen Kontaktpersonen infiziert haben [9]. Das höchste Risiko für Ansteckung ging von älteren Kindern mit mikroskopisch positivem Sputum aus, jedoch sind auch Ansteckungen durch Sputum-negative Kinder beschrieben. Bei bekanntem Kontakt zu einer TB oder bei klinischem Verdacht auf eine TB soll immer eine Abklärung gemäß bestehenden nationalen Empfehlungen erfolgen [10] [11].


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Gesetzlicher Hintergrund

Gemäß § 36 Absatz 4 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) haben Personen, die in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge oder Asylsuchende aufgenommen werden sollen, ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose vorhanden sind. Das Zeugnis muss sich bei Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet haben (mit Ausnahme von Schwangeren), auf eine Röntgenaufnahme der Lunge oder auf andere von den obersten Landesbehörden zugelassene Untersuchungsbefunde, z. B. IGRA, stützen. Nach IfSG ist bei Personen, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, von der Röntgenaufnahme abzusehen. Stattdessen ist ein ärztliches Zeugnis vorzulegen, dass nach sonstigen Befunden eine ansteckungsfähige Lungentuberkulose nicht zu befürchten ist. Auf welche Untersuchungsbefunde sich dieses Zeugnis stützen soll, kann entsprechend § 36 Absatz 6 IfSG von den Landesregierungen durch eine entsprechende Rechtsverordnung festgelegt werden und soll in dieser Empfehlung diskutiert werden.

Für Geflüchtete und deren Kinder, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, gibt es keine gesetzliche Untersuchungspflicht. Die Gesundheitsämter bieten nach § 19 IfSG Beratung und Untersuchung bezüglich TB an oder stellen diese in Zusammenarbeit mit Kinderärztinnen und Kinderärzten in medizinischen Einrichtungen sicher.


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Rationale für die Untersuchung bei Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft

Eine frühe und effektive Fallfindung durch zeitnahe Untersuchungen bei Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft ist wichtig vor dem Hintergrund:

  • der räumlich oft beengten Unterbringung: Jede infektiöse TB kann zu einer Gefährdung einer großen Anzahl von Kontaktpersonen führen,

  • des Kontaktes mit vulnerablen Personengruppen in den Aufnahmeeinrichtungen (Kleinkinder, Schwangere, Immungeschwächte, Unterernährte u. a.), die durch PatientInnen mit offener TB exponiert werden,

  • der hohen Mobilität (z. B. Umverteilungen) der Geflüchteten innerhalb Deutschlands, aufgrund derer zu anderen Zeitpunkten bzw. Anlässen die zeitnahe Diagnose und Einleitung der Therapie mit regelmäßigen Nachkontrollen schwierig sind.


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Untersuchungsansätze für Tuberkulose bei Kindern

Tuberkulosespezifische Anamnese und körperliche Untersuchung

Die Untersuchung sollte in jedem Fall eine gezielte Anamnese nach Risikofaktoren und/oder Hinweisen auf das Vorliegen für eine TB sowie eine körperliche Untersuchung (inkl. Lymphknotenstatus, Gewicht, idealerweise auch Größe) beinhalten.


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Symptombasierte Untersuchung

Die klassischen Symptome für eine TB (insbesondere chronisch-progredienter Husten, Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust) finden sich bei Kindern und Jugendlichen seltener als bei Erwachsenen und viele Fälle präsentieren sich oligo- oder asymptomatisch. Eine Studie von 2006 aus Südafrika zeigte für die typische Symptomtrias von Husten, Nachtschweiß und Gewichtsverlust bei Kindern unter drei Lebensjahren eine Sensitivität von 52 %. Eine weitere Studie aus Südafrika von 2015, welche Kinder und Jugendliche < 15 Jahren eingeschlossen hat, bestätigt die geringe Sensitivität klinischer Symptome [12]. Sie zeigt, dass einzig ein Gewichtsverlust eine Sensitivität von 82 % aufwies, jedoch mit einer geringen Spezifität von nur 33 % [12]. Die WHO-Empfehlung eines symptombasierten Screenings für Geflüchtete unter 15 Jahren ist hilfreich für Regionen mit limitierten Ressourcen, allerdings lässt sich diese globale Empfehlung nicht auf die aktuelle Situation in Mitteleuropa übertragen [13]. In einer aktuellen Schweizer Untersuchung gaben 31 % (43/138) der Kinder, bei denen eine TB diagnostiziert wurde, keine Symptome an [14].


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Thorax-Röntgen-basierte Untersuchung

Im Gegensatz zu Erwachsenen hat die Thorax-Röntgen-Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen eine geringere TB-Detektionsrate. Die am häufigsten beobachtete radiologische Pathologie bei Lungen-TB von Kindern und Jugendlichen ist eine Hiluslymphknotenvergrößerung, deren Vorliegen jedoch unspezifisch sein kann [15]. Klassische Manifestationsarten wie isolierte Parenchymherde sind seltener als bei Erwachsenen, Pleuraergüsse und Kavernen werden nur sehr selten beobachtet. In einer südafrikanischen Studie bei < 2-Jährigen hatten lediglich 28 % der Kinder mit kulturell gesicherter TB ein Thorax-Röntgenbild, das für eine pulmonale TB suggestiv war [16]. Bei älteren Kindern steigt die Sensitivität der Thorax-Röntgen-Untersuchung zwar an, erreicht jedoch nur unbefriedigende Werte von durchschnittlich 63 % in einer anderen südafrikanischen Studie [12]. Ein Thorax-Röntgenbild eignet sich daher bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren nicht als primäre Untersuchungsmethode. Zudem ist in dieser Altersgruppe aufgrund der höheren Strahlenempfindlichkeit des kindlichen Organismus ein besonders restriktiver Umgang mit ionisierender Strahlung zu fordern.


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Immundiagnostische Testung

Für die immundiagnostische Untersuchung stehen derzeit der THT und der IGRA zur Verfügung. Beide Verfahren identifizieren neben einer TB-Erkrankung auch eine latente tuberkulöse Infektion (LTBI). Sie können deshalb auch im Kindes- und Jugendalter nur als Vortest für die weitere Abklärung einer TB verwendet werden. In den letzten 10 Jahren sind viele Studien bei Kindern durchgeführt worden, welche die Wertigkeit dieser beiden Testmethoden im Kindesalter untersucht haben (zusammengefasst in den Metaanalysen [17] [18]). Die Sensitivität des THT und der IGRAs liegen im Kindes- und Jugendalter durchschnittlich zwischen 60–80 %. Neuere Studien zeigen auch bei jüngeren Kindern (2–4 Jahre) eine vergleichbare Sensitivität von IGRA und THT von > 90 % [19]. Darüber hinaus erlauben die Testverfahren keine Aussage, ob es sich um eine frische oder länger zurückliegende Infektion handelt. Bei jüngeren Kindern ist dies weniger relevant, da die Infektion aufgrund des jungen Lebensalters ja noch nicht lange zurückliegen kann und das Progressionsrisiko bei Kindern unter 5 Jahren zudem grundsätzlich hoch ist.

Abhängigkeit des Vorhersagewertes des IGRA von der Infektionsprävalenz

Der positiv prädiktive Wert (PPW/PPV/Vorhersagewert) gibt für den verwendeten Test die Wahrscheinlichkeit an, dass bei positivem Ergebnis tatsächlich eine Infektion vorliegt [20]. Es ist zu beachten, dass der PPV von der Prävalenz der Infektion in der untersuchten Personengruppe abhängt. Um möglichst wenig falsch positive Testergebnisse zu erhalten, muss daher die Infektionsprävalenz im Sinne einer Vortestwahrscheinlichkeit möglichst hoch sein. Belastbare Daten bezüglich der Infektionsprävalenz in dem Kollektiv der geflüchteten Kinder aus der Ukraine liegen naturgemäß nicht vor und können nur abgeschätzt werden. Bei diesem Punkt gab es in der Gruppe erhebliche Diskussionen über die Gewichtung der Empfehlung. Während die beratenden Kinderärztinnen und -ärzte des DZK die Individualmedizin stärken wollten und dafür eine Übertherapie in Kauf nehmen würden, konnten die Kolleginnen und Kollegen mit epidemiologischem Fokus einem generellen Screening mittels IGRA aufgrund der begrenzten Spezifität ohne Erhöhung der Vortestwahrscheinlichkeit durch eine symptombasierte Untersuchung und TB-spezifische Anamnese nicht zustimmen.

Letztendlich haben wir die Empfehlung zur Testung großzügig gestellt, denn die Verantwortung für die medikamentöse Therapie verbleibt natürlich in individualmedizinischer Hand.

Beim Einsatz eines THT ist insbesondere bei Kindern zu beachten, dass das Testergebnis durch Kreuzreaktion durch eine BCG (Bacille-Calmette-Guerin)-Impfung ein falsch-positives Testergebnis zeigen kann [21]. In der Ukraine wird die BCG-Impfung für Neugeborene am linken Oberarm empfohlen, bis 2018 wurden für THT-negative Kinder ab 7 Jahren auch Revakzinationen durchgeführt [22]. Die Impfrate in der Ukraine lag 2019 bei 84 % [23]. Zu beachten ist, dass die BCG-Impfung bei jungen Kindern vor disseminierten und schweren Verläufen schützt, nicht aber vor einer Infektion oder pulmonalen Erkrankung [24].


Interpretation des THT Nach Fachinformation ist eine Induration des THT von > 5 mm als positives Ergebnis zu werten. Ohne bekannte TB-Kontaktanamnese stellt eine Induration von ≥ 10 mm eine Indikation für weitere Untersuchungen unabhängig vom BCG-Impfstatus dar. Das Ergebnis soll in Millimeter der ausgemessenen Induration in einem Impfpass dokumentiert werden. Der Einfluss einer BCG-Impfung auf die Größe der THT-Reaktion ist beschrieben. Eine systematische Übersichtsarbeit, welche Daten von über 230.000 Kindern eingeschlossen hat, schätzt, dass bei einer Induration von ≥ 10 mm lediglich 2,6 % der THT-Testergebnisse aufgrund einer BCG-Impfung im 1. Lebensjahr falsch positiv werden [25]. Daten zur möglichen Beeinflussung der THT-Ergebnisse durch eine BCG-Impfung mit den in der Ukraine verwendeten BCG-Stämmen liegen momentan nicht vor. Bei einem positivem THT-Testergebnis bei einem BCG-geimpften Kind sollte daher eine Kontrolle des Ergebnisses durch einen IGRA erfolgen.


Interaktion THT/IGRA mit Impfungen und Infektionen (Masern, m-RNA-Impfstoffen gegen SARS-CoV-2) Eine Masernimpfung oder Maserninfektion kann zu einer temporären Suppression der zellvermittelten Immunantwort und damit zu einem falsch-negativen THT-Testergebnis führen [26]. Diese Annahme gilt auch für IGRA-Untersuchungen [27]. Das immundiagnostische Screening soll deshalb zeitgleich (IGRA) oder vor einer MMR-Impfung (THT oder IGRA) durchgeführt werden. Falls eine Masernimpfung kürzlich verabreicht wurde oder eine Masernerkrankung vorliegt, sollen 4–6 Wochen Abstand für die Testung eingehalten werden [26]. Für ähnliche Interaktion nach SARS-CoV-2-Impfung mit m-RNA-Impfstoffen liegen keine Daten vor, diese sind jedoch nicht auszuschließen [28]. Deshalb sollte eine immundiagnostische Testung entsprechend den Empfehlungen bezüglich des Zeitabstandes der Masernimpfung erfolgen.


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Wahl des immundiagnostischen Testverfahrens nach Altersgruppe

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Abb. 1 Empfohlenes altersadaptiertes Vorgehen bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine bei indikationsgerechter Untersuchung (s. o.). Roter Pfeil: pathologisches Testergebnis bzw. pathologisches Röntgenbild, blauer Pfeil: unauffälliges Testergebnis bzw. unauffälliges Röntgenbild; IGRA: Interferon-Gamma release Assay; THT: Tuberkulin-Hauttest; LTBI: latente tuberkulöse Infektion; # Präventive Therapie; * nach mikrobiologischer Diagnostik resistenzgerechte Therapie und Indexsuche
  • Kinder < 5 Jahre: Entgegen früheren Empfehlungen ist in dieser Altersgruppe nach neueren Daten der IGRA und THT in dieser Situation als gleichwertig anzusehen ([Abb. 1]).

  • Kinder und Jugendliche 5 bis < 15 Jahre: In dieser Altersgruppe kann bevorzugt ein IGRA oder alternativ ein THT verwendet werden ([Abb. 1]).


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Einordnung der Untersuchungsansätze

Eine ausschließlich symptombasierte Untersuchung erreicht keine zufriedenstellende Sensitivität zur Detektion einer TB in dieser Altersgruppe. Das Thorax-Röntgenbild wird aus Gründen des Strahlenschutzes nur selektiv zur gezielten weiteren Abklärung von pathologischen immundiagnostischen Testergebnissen oder TB-verdächtiger Symptomatik empfohlen. Zusammenfassend stellen immundiagnostische Testverfahren, im Vergleich zur alleinigen symptombasierten oder radiologischen TB-Diagnostik, die geeignetste Methode für eine Erstuntersuchung von TB-gefährdeten Geflüchteten im Kindes- und Jugendalter dar.

Bei positivem Testergebnis soll eine weitere Abklärung auf TB gemäß bestehender nationaler Empfehlung erfolgen. Sind diese weiterführenden Untersuchungen unauffällig, liegt definitionsgemäß eine LTBI vor.


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Empfehlungen zur Untersuchung von aus der Ukraine geflüchteten Kindern und Jugendlichen auf Tuberkulose (TB)

Die Untersuchung auf TB nach § 36 IfSG soll vor oder unverzüglich nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft durchgeführt werden.

Dezentral oder privat unterbrachte Kinder und Jugendliche sollten bei Vorliegen von zusätzlichen Risikofaktoren (siehe unten) ein Angebot zur TB-Untersuchung erhalten. Ein möglicher Anlass kann die Vorstellung in einer kinder- oder hausärztlichen Praxis oder die Untersuchung zur Einschulung bzw. Kita-Aufnahme sein. Die Schaffung einer Möglichkeit, IGRAs für diese Indikation im kassenärztlichen Bereich abzurechnen, würde die Voraussetzungen zur Umsetzung dieser medizinisch sinnvollen Untersuchungen deutlich verbessern.

Zu erfragende Risikofaktoren für Tuberkulose bei Kindern und Jugendlichen

Die Prüfung der nachfolgend genannten Punkte kann bei der Identifikation von TB-gefährdeten Kindern und Jugendlichen (im Rahmen der gesetzlich vorgeschrieben Untersuchung, aber auch darüber hinaus) helfen. Diese sollen mit einem immundiagnostischen Test weiter untersucht werden, um infizierte und erkrankte Kinder rasch zu erkennen. Bei unzureichender Möglichkeit der Kommunikation sollte großzügig getestet werden.

  1. Tuberkulosetypische Symptome/Symptome, die auf eine TB hinweisen können:
    Ältere Kinder und Jugendliche: Fieber, Gewichtsverlust, Nachtschweiß, produktiver Husten, Hämoptysen
    Säuglinge und Kleinkinder: Gedeihstörung, Spielunlust, häufig unspezifische Symptome,

  2. Positive Familienanamnese – Tuberkulosevorerkrankungen bei den Geflüchteten selbst wie auch im familiären Umfeld,

  3. Bekannte kürzlich zurückliegende TB-Exposition oder wissentlicher Kontakt zu TB z. B. auf der Flucht (dabei ist entsprechend den Empfehlungen zur Umgebungsuntersuchung auch der Abstand zwischen Exposition und Test zu beachten) [11],

  4. Dauer und Umstände der Flucht

    • Längerer Aufenthalt in beengten, schlecht belüfteten Räumlichkeiten mit vielen Menschen, z. B. Schutzräumen etc. [4]

    • Längere Flucht- und Kriegsanamnese [6],

  5. Besonders vulnerable Risikogruppen (Kinder und Jugendliche mit HIV-Infektion, iatrogener Immunsuppression oder chronischer Erkrankung) und Kinder < 5 Jahren sollten aufgrund des hohen Progressionsrisikos und des Risikos eines schweren Verlaufs der TB (Miliartuberkulose, tuberkulöse Meningitis) großzügig getestet werden.


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Weitere Diagnostik auf Tuberkulose

Bei einem positiven immundiagnostischen Test muss eine entsprechende weiterführende Diagnostik auf eine TB erfolgen und bei Diagnosestellung wird eine Therapie entsprechend der nationalen Leitlinie empfohlen [10] [11]. Ergibt sich aus den Untersuchungen kein Anhalt für das Vorliegen einer TB, ist von einer LTBI auszugehen und eine Chemoprävention nach Evaluation von Resistenzen und ausführlicher Beratung empfohlen.


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Chemoprävention bei latenter tuberkulöser Infektion (LTBI)

Aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche,

  • die nach Indikationsstellung (siehe oben) mit einem immundiagnostischen Test positiv getestet wurden,

  • keine klinischen Symptome bzw. sonstige Hinweise auf das Vorliegen einer Organtuberkulose zeigen,

  • und eine unauffällige Thorax-Röntgen-Untersuchung haben

sollen eine präventive Therapie der LTBI nach aktueller Empfehlung erhalten [10].

Vor Beginn ist eine ausführliche, falls erforderlich durch Sprachmittler unterstützte, Aufklärung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Sorgeberechtigten zur Verbesserung der Therapie-Adhärenz erforderlich. Individuell sollten die Voraussetzungen für die vollständige Einnahme der Chemoprävention gegeben sein.

Bei Kindern mit einer LTBI wird die Effektivität der Chemoprävention in einer systematischen Übersichtsarbeit und Meta-Analyse bei medikamentensensiblem Bakterienstamm mit 91 % angegeben [29]. Bei Kindern aus der Ukraine mit einer LTBI soll aufgrund der hohen MDR-Rate des Herkunftslandes gezielt nach möglichen TB-Kontakten gefragt und gesucht werden, um das Erregerresistenzprofil der Indexperson zu identifizieren.

Sofern es anamnestisch keinen Hinweis auf einen Kontakt zu einer MDR-TB gibt, soll die Chemoprävention bevorzugt mit der Kombination von Isoniazid (10 mg/kg/KG 1-mal täglich per os, maximale Tagesdosis 300 mg) plus Rifampicin (15 mg/kg/KG 1-mal täglich per os, maximale Tagesdosis 600 mg) für 3 Monate erfolgen. Alternativ kann Isoniazid (10 mg/kg/KG 1-mal täglich per os, maximale Tagesdosis 300 mg) für 9 Monate oder Rifampicin (15 mg/kg/KG 1-mal täglich per os, maximale Tagesdosis 600 mg) für 4 Monate empfohlen werden [30] Die drei Behandlungsstrategien sind vergleichbar effektiv, auch findet sich kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko einer Hepatotoxizität bei der Kombinationstherapie von Isoniazid und Rifampicin [15] In jedem Fall scheint eine kürzere Therapiedauer günstiger hinsichtlich der Adhärenz zu sein und sollte deshalb bei Kindern und Jugendlichen bevorzugt werden [15].

Besteht der Hinweis auf eine Infektion mit einem resistenten Erreger, ist unter Berücksichtigung möglicher Risikofaktoren eine chemopräventive Therapie entsprechend des Resistogramms des Indexfalls in Rücksprache mit einem spezialisierten Zentrum empfohlen. Kontakte können über das Infotelefon des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose (www.dzk-tuberkulose.de/) oder des Forschungszentrums Borstel/Nationales Referenzzentrum für Mykobakterien (fz-borstel.de/index.php/de/) vermittelt werden.

Wenn ein Resistogramm der Indexperson vorliegt, sollte nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiken eine Chemoprävention wenn möglich mit einem Fluorchinolon (Moxifloxacin/Levofloxacin) und 1–2 weiteren als sensibel getesteten Tuberkulosemedikamenten begonnen und unter entsprechenden Kontrollen über 6 Monate durchgeführt werden [31].


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Nachsorge

Es sollte beachtet werden, dass die Erfolgserwartung bei der präventiven Therapie bei Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine durch mögliche Medikamentenresistenzen – insbesondere die in ca. 33 % der Fälle auftretende Multiresistenz – eingeschränkt ist. Daher müssen die Erziehungsberechtigten über die Möglichkeit des Auftretens einer Tuberkulose trotz Chemoprävention ausreichend aufgeklärt werden. Die WHO empfiehlt in diesem Fall klinische Untersuchungen über einen Zeitraum von 2 Jahren [13] [32]. Aufgrund der geringeren Sensitivität der symptombasierten Diagnostik und der hohen Resistenzraten sollten nach Abschluss einer Chemoprävention neben klinischen auch radiologische Kontrollen direkt nach Abschluss sowie nach 12 Monaten erfolgen [33]. Diese Kontrollen sind ebenfalls erforderlich, wenn keine Chemoprävention durchgeführt wurde, z. B. bei Ablehnung durch die Sorgeberechtigten und sollten dann nach 6 und nach 12 Monaten erfolgen.


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BCG-Impfung

Eine BCG-Impfung wird in Deutschland grundsätzlich nicht empfohlen. Dies betrifft auch geflüchtete Kinder mit unklarem BCG-Impfstatus oder in Deutschland geborene Kinder von Geflüchteten [34].


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Evaluation

Die Herausforderung eine große Anzahl an Geflüchteten zu untersuchen, sollte durch eine Evaluation der durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen begleitet werden.


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Interessenkonflikt

R. D. erhielt Honorare und Reisekostenunterstützung für Vorträge bei Veranstaltungen, die von Hain Lifescience, Mikrogen, Oxford Immunotec, Qiagen oder Quidel gesponsert wurden.
Die anderen Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Brit Häcker
DZK – Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose e. V.
Walterhöferstr. 11, Haus Q
14165 Berlin
Deutschland   

Publication History

Article published online:
24 May 2022

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Abb. 1 Empfohlenes altersadaptiertes Vorgehen bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine bei indikationsgerechter Untersuchung (s. o.). Roter Pfeil: pathologisches Testergebnis bzw. pathologisches Röntgenbild, blauer Pfeil: unauffälliges Testergebnis bzw. unauffälliges Röntgenbild; IGRA: Interferon-Gamma release Assay; THT: Tuberkulin-Hauttest; LTBI: latente tuberkulöse Infektion; # Präventive Therapie; * nach mikrobiologischer Diagnostik resistenzgerechte Therapie und Indexsuche