CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(07): 694-705
DOI: 10.1055/a-1860-0562
GebFra Science
Statement

Stellungnahme der DGGG – Empfehlungen zur Betreuung und Versorgung von weiblichen Minderjährigen, die mutmaßlich von akuter sexualisierter Gewalt bzw. einer Vergewaltigung betroffen sind

Artikel in mehreren Sprachen: English | deutsch
Nicole Balint
1   Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Matthias David
1   Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Jörg M. Fegert
2   Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Germany
,
Lina Ana Fryszer
3   Klinik für Gynäkologie mit Brustzentrum, Campus Charité Mitte, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany (Ringgold ID: RIN14903)
,
Astrid Helling-Bakki
4   World Childhood Foundation (Deutschland), Stiftung für hilfsbedürftige Kinder, Geschäftsführung, Stuttgart, Germany
,
Bernd Herrmann
5   Ärztliche Kinderschutzambulanz, Klinik für Neonatologie und allgemeine Pädiatrie, Klinikum Kassel, Kassel, Germany
,
Christine Hirchenhain
6   Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Germany (Ringgold ID: RIN39063)
,
Ulrike Schmidt
7   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Germany
,
Sibylle Maria Winter
8   Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Campus Virchow-Klinikum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Childhood-Haus Berlin, Berlin, Germany
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Abstract

Objective The recommendations presented here aim to further improve and standardise the medical care of persons affected by sexual violence, particularly female minors in Germany who have been raped. The recommendations are primarily addressed to gynaecologists working in hospitals or private practices and complement the detailed child protection guidelines of the Federal Republic of Germany.

Method After an extensive selective search of the literature, these recommendations were compiled by an interdisciplinary group of experts in a three-stage process at the request of the Board of the DGGG and were adopted by consensus.

Summary This DGGG Statement is divided into two parts according to the age of the affected person (about 14 to 17 years of age/pubertal; 0 to about 13 years of age/prepubertal). There are medical, structural and forensic reasons for this. The Statement provides many recommendations, ranging from how to deal with minors presumed to be victims of acute sexual violence or rape, to the initial emergency care, type of care (e.g., confidential securing of evidence), how to take the patient’s history, the appropriate medical forensic examinations, and medical, psychological and psychosocial care and aftercare.


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Einleitung

Eine Vergewaltigung (lat. Stuprum) wird nach der Istanbul-Konvention definiert als „… nicht einverständliche, sexuell bestimmte orale, vaginale oder anale Penetration einer anderen Person mit einem Körperteil oder Gegenstand …“ [1].

Laut einer 2005 veröffentlichten repräsentativen Untersuchung im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gaben 5,5% der befragten Frauen an, seit dem 16. Lebensjahr mindestens einmal vergewaltigt worden zu sein, 4,3% hatten mindestens eine versuchte Vergewaltigung und zwischen 1 und 5,4% unterschiedliche Formen sexueller Nötigung erlebt [2]. Bei Jugendlichen liegt die Prävalenz nach einer in Deutschland durchgeführten Studie bei 3% [3]. Dies wirkt sich individuell unterschiedlich ausgeprägt und zum Teil lebenslang beeinträchtigend auf die körperliche und psychosoziale Gesundheit der Betroffenen aus.

Wie Studien aus den USA gezeigt haben, werden zwei Drittel bis drei Viertel der sexuellen Übergriffe auf Jugendliche durch Personen begangen, die der Betroffenen bekannt sind [4]

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont die Wichtigkeit der medizinischen Erstversorgung nach sexualisierter Gewalt. Sie stellt gleichzeitig eine Frühintervention dar und dient der Bewältigung dieser negativen Erfahrungen [5] [6]. Eine empathische, nicht wertende und kompetente Erstversorgung wird von den Betroffenen als große Unterstützung erlebt. Die ärztliche Versorgung kann einerseits den individuellen Heilungs- und Verarbeitungsprozess positiv beeinflussen [7] [8]. Andererseits sind Ärztinnen und Ärzte die in diesem Zusammenhang am häufigsten konsultierten professionellen Helferinnen und Helfer [2].

Diese Stellungnahme soll zur weiteren Verbesserung und Standardisierung der ärztlichen Versorgung von Betroffenen sexualisierter Gewalt, insbes. von einer Vergewaltigung betroffenen weiblichen Minderjährigen in Deutschland beitragen.

Sie wendet sich vor allem an Frauenärztinnen und Frauenärzte in der Klinik und in der Niederlassung und ist an eine im Frühjahr 2022 publizierte Stellungnahme von Fryszer et al. zur Versorgung und Betreuung von weiblichen erwachsenen mutmaßlichen Stuprum-Betroffenen* angelehnt [9].

Außerdem wird ausdrücklich auf die umfassende Kinderschutzleitlinie der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 2019, aktualisiert 2022, hingewiesen [10].

Die vorliegende DGGG-Stellungnahme ist entsprechend dem Alter der Betroffenen (ca. 14 bis 17 Jahre/pubertär; 0 bis ca. 13 Jahre/präpubertär) zweigeteilt. Dies hat medizinische, strukturelle und forensische Gründe.

Die Betreuung und Versorgung von weiblichen Jugendlichen ab 14 Jahren als Betroffene von sexueller Gewalt insbes. nach einer mutmaßlichen Vergewaltigung ähnelt in der medizinischen Befunderhebung derjenigen bei erwachsenen Frauen, sodass Frauenärztinnen und Frauenärzte (bzw. entsprechend qualifizierte Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, ggf. unter Beiziehung von Rechtsmedizinerinnen und -medizinern) diese Aufgabe übernehmen können und sollten. Häufig erfolgt der Erstkontakt im Rahmen pädiatrischer Notfallambulanzen, sodass je nach lokalen Gegebenheiten eine interdisziplinäre Versorgung sinnvoll ist.

Die spezifischen psychischen und entwicklungsbedingten Besonderheiten von Jugendlichen müssen dabei berücksichtigt werden. Daher werden in diesem ersten Teil der Stellungnahme ausführliche Handlungsempfehlungen zur Befunderhebung gegeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine strikte Altersgrenze aufgrund der Heterogenität der Pubertätsentwicklung nicht sinnvoll sein kann, sodass diese orientierenden Altersgrenzen im Sinne von präpubertärem und pubertärem Entwicklungsstand zu verstehen sind.

Die im Zusammenhang mit einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch bei präpubertären Mädchen bis zum Alter von ca. 13 Jahren notwendige kindergynäkologische Untersuchung sollte hingegen unbedingt durch im Kinderschutz erfahrene gynäkologische oder pädiatrische Fachärztinnen bzw. Fachärzte mit besonderer Expertise in der kindergynäkologisch-forensischen Diagnostik erfolgen.

Die Autorinnen und Autoren dieser Stellungnahme empfehlen explizit, dass bei Nichtvorliegen einer solchen Expertise in einer Klinik oder Praxis eine zügige Weiterleitung an ein entsprechendes Zentrum, eine Kinderschutzambulanz oder, sofern verfügbar, ein Childhood-Haus erfolgt.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass in Deutschland nach § 176 StGB jegliche sexuelle Handlung an einer Person unter 14 Jahren strafbar ist. Bei Jugendlichen zwischen 14 bis 17 Jahren müssen andere Tatmerkmale für eine Strafbarkeit hinzutreten (§ 182 StGB) [10].

Auf die Empfehlungen der Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin zur Durchführung forensisch-medizinischer Untersuchungen wird explizit verwiesen [11].


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Methodik

Die Empfehlungen dieser Stellungnahme wurden zwischen Dezember 2021 und April 2022 im Auftrag des Vorstands der DGGG erarbeitet. Es wurde eine selektive Literaturrecherche in den Datenbanken PubMed, Livivo und Google Scholar durchgeführt, die sich auf die Suche nach Publikationen, die bis Dezember 2021 erschienen waren und die sich auf die Betreuung und Versorgung von weiblichen Minderjährigen bzw. Kindern und Jugendlichen nach akuter sexualisierter Gewalt bzw. einer Vergewaltigung bezogen (Suchbegriffe: Kinder, Jugendliche, Vergewaltigung, Stuprum, sexueller Übergriff, sexuelle Gewalt, forensische Untersuchung, psychische, psychosoziale Versorgung, Kinderschutz), konzentrierte. Außerdem wurden einschlägige nationale und internationale Monografien sowie Leitlinien, Empfehlungen und Stellungennahmen nationaler und internationaler Fachgesellschaften herangezogen. Als wichtige Grundlage dienten auch die „Empfehlungen zur Betreuung und Versorgung von weiblichen mutmaßlichen Stuprum-Betroffenen“ von Fryszer et al. (2022). Unter Einbeziehung der Ergebnisse dieser umfangreichen Literaturrecherchen wurde von einer interdisziplinär besetzten Gruppe von Expertinnen und Experten in einem dreistufigen Verfahren im Sinn eines nominalen Gruppenprozesses eine Textvorlage erarbeitet, ausführlich diskutiert und ergänzt und schließlich in einem gemeinsamen formalen Konsens verabschiedet.


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Weibliche Jugendliche bzw. pubertäre Minderjährige (orientierend: 14 bis 17 Jahre)

Allgemeine Empfehlungen zur Erstversorgung

Die Erstversorgung nach sexueller Gewalt/mutmaßlicher Vergewaltigung ist dreigeteilt und interdisziplinär. Sie umfasst die medizinisch-gynäkologischen und der forensisch-medizinischen Untersuchung sowie die psychosoziale Versorgung.

Eine polizeiliche Anzeige ist keine Voraussetzung für die Versorgung der Betroffenen.

Es besteht für die behandelnde Ärztin bzw. den behandelnden Arzt keine Pflicht zur polizeilichen Anzeige – weder als Institution noch als Privatperson.

Die medizinische und psychosoziale Versorgung sollte der Betroffenen unabhängig von einer polizeilichen Anzeige oder der sog. Vertraulichen Spurensicherung (VSS) immer angeboten bzw. empfohlen werden.

Bei Minderjährigen ist grundsätzlich anzustreben, beide Sorgeberechtigte in die medizinische Untersuchung und ggf. die polizeiliche Anzeige sowie die (Vertrauliche) Spurensicherung einzubeziehen. Wenn nur ein Elternteil vor Ort ist, dürfen Ärztinnen und Ärzte bei Routineeingriffen (z. B. Spurensicherung) – sofern sie keine für das Gegenteil sprechenden Anhaltspunkte haben – davon ausgehen, dass der die Minderjährige begleitende Elternteil/Sorgeberechtigte im Innenverhältnis vom anderen Elternteil/Sorgeberechtigten im Rahmen familiärer Arbeitsteilung zur Entscheidung ermächtigt ist. Wenn kein Elternteil vor Ort ist, kann auch ein telefonisches Einverständnis unter Zeugen eingeholt werden. Bei umfassenderen Eingriffen (z. B. bei HIV-Prophylaxe) hingegen sollten schriftliche Einverständnisse beider Sorgeberechtigten vorliegen.

Wenn jedoch eine einsichtsfähige Minderjährige (in der Regel ab 14 Jahre) aufgrund ihres allgemeinen Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrechts zu respektierende Gründe dafür angibt, dass die Personensorgeberechtigten von der mutmaßlichen Vergewaltigung selbst, der medizinischen Untersuchung, der polizeilichen Anzeige oder der (Vertraulichen) Spurensicherung keine Kenntnis erlangen sollen, kann dies entfallen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Angaben der Minderjährigen zu der Annahme führen, dass beide oder einer der Personensorgeberechtigten als Täter bzw. Täterin infrage kommen.


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Allgemeine Grundlagen und Empfehlungen

  • Die Versorgung von minderjährigen Betroffenen von sexueller Gewalt/einer mutmaßlichen Vergewaltigung sollte interdisziplinär erfolgen.

  • Es sollten Räumlichkeiten mit einer ruhigen Atmosphäre für die Erstversorgung bereitstehen [14] [15] [16].

  • Wartezeiten sollten so kurz wie möglich gehalten werden.

  • Die versorgenden Ärztinnen, Ärzte und die beteiligten Pflegekräfte sollten in der Erstversorgung nach sexueller Gewalt/einer mutmaßlichen Vergewaltigung und in traumasensibler Gesprächsführung geschult sein [5] [6] [12] und mit den psychischen und entwicklungsbedingten Besonderheiten bei Adoleszenten vertraut sein [4] [13] [14]. Hierzu sollten regelmäßig Fortbildungen durchgeführt werden [5] [6].

  • Aus forensischer Sicht ist Facharztstatus wünschenswert. Wenn dies nicht möglich ist, sollte die (medizinisch-forensische) Untersuchung von geschulten Gynäkologinnen/Gynäkologen (bzw. entsprechend qualifizierten Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten, ggf. unter Beiziehung von Rechtsmedizinerinnen/-medizinern) durchgeführt werden. Spezifische Kenntnisse in der Diagnostik, altersgemäßen Gestaltung der Untersuchung, psychischer Faktoren, Bewertung der Befunde, Durchführung etwaiger Postexpositionsprophylaxen, rechtlicher Implikationen und der Nachsorge sind erforderlich [4] [15] [16] [17] [18] [19] [20].

  • Die Festlegung der forensischen Dringlichkeit der Untersuchung ergibt sich in erster Linie aus dem zeitlichen Abstand zum Ereignis und der daraus resultierenden Wahrscheinlichkeit des DNA-Nachweises – sofortige Untersuchungen sollten bei Adoleszenten bis 72 Stunden erfolgen. Bei präpubertären Kindern gilt ein Zeitfenster von bis zu 24 Stunden.

  • Bei einer Sprachbarriere sollte eine professionelle Dolmetscherin für die Anamneseerhebung, die Untersuchung und die Beratung hinzugezogen werden. Es ist bei eingeschränkter sprachlicher Kommunikation immer empfehlenswert, besonders im Hinblick auf eine etwaige polizeiliche Ermittlung, zu dokumentieren, wie, in welcher Sprache und in welcher Qualität die sprachliche Verständigung erfolgte.

  • Falls die Betroffene weibliches oder männliches Personal zur Versorgung vorzieht, sollte dieser Wunsch möglichst berücksichtigt werden [5] [11] [21] [22] (siehe auch § 81 der StPO). Die Untersuchung sollte immer im Beisein einer weiblichen Drittperson (medizinisches Personal) erfolgen [11], es sei denn, dies ist explizit von der Betroffenen nicht gewünscht.

  • Bei Vorliegen eines medizinischen Notfalls (schwere Verletzungen, Panikattacken, Dissoziation, Intoxikationen u. ä.) hat dessen Behandlung Vorrang [7] [23].


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Empfehlungen zum Umgang mit der Betroffenen

Grundsätzlich sollte der Minderjährigen im ersten Schritt ein Gespräch ohne Beisein der Eltern angeboten werden, es sei denn, die Minderjährige wünscht in dieser Situation ausdrücklich ein gemeinsames Gespräch mit den sorgeberechtigten Eltern. Im weiteren Verlauf sollten die sorgeberechtigten Eltern immer einbezogen werden, außer dies wird von der Minderjährigen ausdrücklich nicht gewünscht. Gegebenenfalls sollten getrennte Gespräche mit der Minderjährigen und den sorgeberechtigten Eltern geführt werden.

Zu beachten ist, dass sorgeberechtigte Eltern bei einem Vorfall sexueller Gewalt/einer mutmaßlichen Vergewaltigung häufig ebenfalls traumatisiert werden können, insbesondere, wenn sie selbst in ihrem Leben bereits sexualisierte Gewalt erfahren haben.

Falls sorgeberechtigte Eltern nicht in der Lage sind, die Minderjährige in dieser Situation ausreichend zu unterstützen, sollten zusätzliche anderweitige familiäre Unterstützung ermöglicht werden, ggf. über die Jugendhilfe.

Für die Situation, dass Minderjährige nach sexueller Gewalt ärztlich versorgt werden, ohne dass eine Einbeziehung der Eltern erfolgt, wird auf eine Stellungnahme des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) verwiesen [24].

  • Die Anwesenheit einer Begleitperson zur Unterstützung während der Versorgung sollte der Betroffenen angeboten werden (siehe auch § 81 der StPO). Diese Person sollte dann darüber informiert werden, dass sie als Zeugin bzw. Zeuge im Falle eines Gerichtsverfahrens herangezogen werden kann [22] [23].

  • Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter der Polizei sollen bei der körperlichen und/oder gynäkologischen Untersuchung nicht anwesend sein.

  • Alle Untersuchungsschritte sollten der Betroffenen verständlich erklärt und im Sinne des „informed consent“ durchgeführt werden [5] [8] [11] [25].

  • Der Betroffenen sollte einmalig und ohne darauf zu drängen die Möglichkeit der polizeilichen Anzeige erläutert werden.

  • Die Betroffene muss darüber informiert sein, dass die Untersuchung freiwillig ist, sie jederzeit Fragen stellen und die Untersuchung jederzeit beenden oder unterbrechen kann.

  • Eine etwaige (Teil-)Ablehnung der Untersuchung sowie Unterbrechungen und eine vorzeitige Beendigung sollten dokumentiert werden. Medizinische Untersuchung und Beweissammlung/Spurensicherung können das Gefühl von Scham und Kontrollverlust verstärken.

  • Es sollte kein Druck zu Untersuchung und Behandlung ausgeübt werden und die Betroffene sollte eine größtmögliche Kontrolle über den Untersuchungsprozess haben können.

  • Die Ärztin bzw. der Arzt sollte aktiv zuhören (validieren, die Narration der Betroffenen bestätigen, das Stressniveau im Blick behalten, beruhigend wirken, ins „Hier und Jetzt“ fokussieren, Ressourcen aktivieren, den Heilungsprozess betonen) und Ruhe und Sicherheit vermitteln. Kritik sollte unterlassen werden [5] [7] [8] [26] insbesondere weil durch negative soziale Reaktionen bspw. die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) gefördert werden kann [12] [26] [27] [28] [29] [30].

  • Es sollte sachlich und empathisch mit der Betroffenen umgegangen werden und ihr vermittelt werden, dass ihr geglaubt wird, ihr Trauma anerkannt wird und sie keine Schuld an dem Vorgefallenen trägt [12] [23] [26] [31]. Betroffene sollten sich sicher fühlen und dem betreuenden medizinischen Personal vertrauen können [32].

  • Es ist wichtig, im Falle fehlender Befunde zu thematisieren, dass dies die mutmaßliche Vergewaltigung nicht ausschließt.


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Information zu Formen der Versorgung (polizeiliche Anzeige, VSS, alleinig medizinische Versorgung)

Die Versorgung nach sexueller Gewalt/einer mutmaßlichen Vergewaltigung kann auf Wunsch der Betroffenen allein aus der medizinischen und psychosozialen Versorgung bestehen. Dennoch ist in jedem Fall eine ärztliche Dokumentation anzufertigen, denn selbst ohne weitere Spurensicherung stellt sie bei Bedarf und nach Entbindung von der Schweigepflicht eine sachdienliche Quelle für ein eventuelles Ermittlungsverfahren dar. Die Betroffene sollte aber sorgfältig darüber aufgeklärt werden, welchen Nutzen gesicherte Spuren in Form von Fotos und DNA-Abstrichen in einem etwaigen späteren Gerichtsverfahren haben können oder auch in Bezug auf Ansprüche der Opferentschädigung.

Vertrauliche Spurensicherung

Der minderjährigen Betroffenen wird, falls sie eine polizeiliche Anzeige nicht wünscht, die Option einer sog. Vertraulichen Spurensicherung (VSS) angeboten und erläutert. Die VSS ist eine anzeigenunabhängige Spurensicherung. Betroffenen wird eine gerichtsverwertbare ärztliche Dokumentation ihrer Verletzungen und eine Spurensicherung ohne sofortige Anzeigeerstattung ermöglicht.

Betroffene haben somit die Möglichkeit, sich körperlich und mental zu erholen, sich Unterstützung zu holen und gemeinsam mit ihren Eltern die Option einer Anzeige zu überdenken.

Abhängig von der Verwahrungszeit der gesicherten Spuren kann im Falle einer Anzeige zu einem späteren Zeitpunkt auf die gesicherten Materialien zurückgegriffen und diese ausgewertet werden. Die Betroffenen sollten über die Dauer der Verwahrung informiert werden und dieses mit ihrer Unterschrift bestätigen. Die jeweilige Verwahrdauer variiert abhängig vom Versorgungsstandort [33] [34] [35].

Unabhängig von einer etwaigen Spurensicherung oder von der Lagerzeit des gesicherten Spurenmaterials kann aktuell bis zu 20 Jahre nach der Tat Anzeige erstattet werden. Die Frist im Strafrecht beginnt generell, wenn die letzte Tathandlung abgeschlossen ist. Bei Sexualstraftaten gibt es jedoch eine besondere Regelung. Hier beginnt die Verjährungsfrist erst, wenn das Opfer das 30. Lebensjahr vollendet hat. Diese Fristen geben jedoch nur eine Orientierung: Die rechtsverbindliche Entscheidung trifft die jeweilige Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht. Bei zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen wegen vorsätzlicher Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung und wegen vorsätzlicher Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit sieht das Gesetz eine Verjährungsfrist von 30 Jahren vor (siehe: https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/wissenswertes/recht).

Bei der Vertraulichen Spurensicherung ist eine wörtliche Dokumentation der ärztlichen Erstbefragung besonders wichtig, da es keine polizeiliche Vernehmung gibt. Diese sollte immer erfolgen und stets nicht suggestiv sein.


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Versorgung nach einer polizeilichen Anzeige

Im Falle einer polizeilichen Anzeige müssen die einsichtsfähige Minderjährige und/oder die Personensorgeberechtigten darüber informiert werden, dass sie die behandelnde Ärztin bzw. den behandelnden Arzt von der ärztlichen Schweigepflicht im Hinblick auf die dokumentierten Befunde und die Spurensicherung gegenüber der Polizei und Justiz befreien müssen [25].

Sofern bereits eine Beauftragung als Sachverständige/r vorliegt, unterliegt die Untersuchung nicht mehr der ärztlichen Schweigepflicht. Befunde und Inhalte des Gesprächs müssen mitgeteilt werden; darüber ist die untersuchte Person vorab zu informieren.

In jedem Fall einer angefragten Herausgabe von Unterlagen benötigt die Ärztin bzw. der Arzt bei Minderjährigen eine von der einsichtsfähigen Minderjährigen und/oder deren Sorgeberechtigten unterschriebene Schweigepflichtentbindung vor der Weitergabe von Informationen an die Ermittlungsbehörden.

Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin empfiehlt eine interdisziplinäre Untersuchung durch gynäkologisches und rechtsmedizinisches ärztliches Personal [11]. Von diesem Vorgehen kann je nach Versorgungsstandort bzw. Zuständigkeiten sowie abhängig von personellen und strukturellen Möglichkeiten sowie vom Verletzungsmuster bei der Betroffenen abgewichen werden. Dabei müssen immer die Qualitätsstandards zur sachdienlichen Befunddokumentation und Spurensicherung erfüllt sein [11] [36].

In vielen Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin haben sich interdisziplinäre Kinderschutzgruppen etabliert, die neben der pädiatrischen Versorgung auch forensische Expertise und Ressourcen zur Versorgung von gewaltbetroffenen Kindern und Jugendlichen anbieten, nicht selten auch in Kooperation mit der jeweiligen gynäkologischen Abteilung oder Klinik (DGKiM 2020; https://dgkim.de/kinderschutzgruppen).

Im Falle einer medizinisch-forensischen Untersuchung wird die Verwendung speziell dafür entwickelter Spurensicherungskits [5] [11] [36] [37] empfohlen. Diese sollten sowohl Vorlagen für die Anamneseerhebung als auch Materialien für die medizinisch-forensische Untersuchung und Anweisungen zu deren richtiger und systematischer Durchführung und zur Spurensicherung enthalten [11]; eine Materialzusammenstellung in Absprache mit der regional zuständigen Polizeibehörde/Kriminaltechnik hat sich bewährt.


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Anamnese

  • Die Anamneseerhebung beinhaltet eine allgemeine, gynäkologische sowie die Tat betreffende Anamnese.

  • Die Anamneseerhebung sollte nicht suggestiv erfolgen (möglichst offene und „W“-Fragen: Was? Wie? Wo? Wann?) und wörtlich dokumentiert werden.

  • Sowohl die medizinische Anamnese als auch die Anamnese zum Tathergang lenken die klinische sowie medizinisch-forensische Untersuchung und Spurensicherung, die medizinische Versorgung (bspw. Einschätzung des Risikos für sexuell übertragbare Krankheiten oder für die Entstehung einer Schwangerschaft) und weitere erforderliche Unterstützungsmaßnahmen für die Betroffene [23] [38].

  • Das Erfragen von Details zum Tathergang sollte sich – um die Belastung für die Betroffenen zu begrenzen – auf das für die Untersuchung, Versorgung und Spurensicherung notwendige Maß beschränken [11].

  • In der Anamnese sollten folgende Punkte enthalten sein:

    • die Umstände des Übergriffs einschließlich Datum, Uhrzeit, Ort, Anzahl der beteiligten/im Raum befindlichen Personen inkl. einer konkreten Nachfrage, ob von (Tat-)Beteiligten (z. B. mit einem Handy) fotografiert wurde, Einsatz von Waffen, körperlicher Gewalt, Fesseln, anderen Gegenständen und sonstiger Gewalt oder Drohungen, Schilderung einer eventuellen Gewalt gegen den Hals (Würgen u. ä.) und damit verbundenem Kot- oder Urinabgang, Wahrnehmungsveränderungen, Schluckbeschwerden, Halsschmerzen, Heiserkeit und Fremdkörper- bzw. Globusgefühl (Subjektive Wahrnehmungsveränderung im Zusammenhang mit einem Halsangriff sollen unbedingt offen erfragt werden, um die forensische Verwertbarkeit zu gewährleisten.);

    • Angaben zu einer evtl. bestehenden Erinnerungslücke oder Verdacht auf eine Intoxikation.

    • Angaben zu oralen, vaginalen oder anorektalen Kontakten oder zur Penetration sowie zum Auftreten oder Fehlen einer Ejakulation und/oder der Verwendung eines Kondoms durch den Täter;

    • Informationen zu Blutungen bei Täter, Täterin oder Betroffener; diese können für die Beurteilung des Risikos einer Hepatitis- oder HIV-Übertragung relevant, dies kann aber auch forensisch für die Einschätzung der Verletzungsschwere wichtig sein;

    • Angaben zu einvernehmlichen sexuellen Aktivitäten vor oder nach dem Übergriff, einschließlich Details über die Stelle des Kontakts (oral, genital, anorektal) und die Verwendung von Kondomen;

    • Informationen dazu, ob sich die Betroffene seit dem Übergriff abgewischt, geduscht, gebadet hat oder ob sie die Kleidung gewechselt, etwas gegessen, Zahnpasta oder Mundwasser benutzt, Einläufe gemacht, einen Tampon, eine Binde oder ein Barriere-Kontrazeptivum gewechselt oder entfernt hat;

    • die Dokumentation aktuell bestehender Beschwerden/Schmerzen bei der Betroffenen.


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Empfehlungen zur medizinisch-forensischen Untersuchung

Die medizinisch-forensische Untersuchung kann nach einer polizeilichen Anzeige oder im Rahmen einer VSS durchgeführt werden. Zur medizinisch-forensischen Untersuchung gehört die Beschreibung der psychischen Verfassung der Betroffenen, die umfassende körperliche Untersuchung und Verletzungsdokumentation, die gynäkologische Untersuchung und die Spurensicherung.

Bei der Durchführung der medizinisch-forensischen Untersuchung ist zu beachten:

  • Eine Einverständniserklärung der Betroffenen ist die Voraussetzung für eine medizinisch-forensische Untersuchung [11].

  • Wenn die Betroffene nicht einwilligungsfähig ist, bspw. im Falle einer Intoxikation, darf eine medizinisch-forensische Untersuchung erst dann erfolgen, wenn die Einwilligungsfähigkeit wieder gegeben ist, alternativ muss die Einwilligung einer betreuenden Person (z. B. bei psychiatrischen Erkrankungen) oder ein richterlicher Beschluss (bspw. bei Patientinnen im Koma) vorliegen. Ob der Wunsch der Eltern, die Untersuchung in diesen Fällen durchzuführen, ausschlaggebend ist, ist ein moralisches Dilemma, da der Wunsch der potenziell einwilligungsfähigen Jugendlichen nicht bekannt ist. Zumindest kann bei jüngeren Kindern davon ausgegangen werden, dass die Sorgeberechtigten im besten Interesse ihres Kindes entscheiden. Bei Jugendlichen sollte abgewartet werden, bis Einwilligungsfähigkeit eintritt [4].

  • Betroffene sollten – wenn sie diese planen – ermutigt werden, die forensische körperliche Untersuchung so schnell wie möglich nach dem Übergriff durchführen zu lassen [23].

  • Die medizinische Versorgung sollte möglichst im Anschluss an die medizinisch-forensische Untersuchung durchgeführt werden.

  • Falls von der Betroffenen diese zwar im Moment abgelehnt wird, aber prinzipiell eine medizinisch-forensische Untersuchung geplant ist, sollte sie darüber informiert werden, bis zur Untersuchung Bäder/Duschen/Umkleiden zu vermeiden; Kondome, falls verwendet, aufzubewahren; Essen, Trinken, Rauchen zu vermeiden, wenn der Übergriff eine orale Penetration beinhaltete; aktuell verwendete Tampons o. ä. vaginal zu belassen (diese sollten erst nach dem Abstrich vom äußeren Genitale entfernt werden); den ersten/nächsten Urin in einem sauberen, verschließbaren Behältnis aufzufangen.

Folgende Forderungen werden an die medizinisch-forensische Untersuchung gestellt:

  • Bei der gesamten Untersuchung und Spurensicherung soll nach einem standardisierten Untersuchungsprotokoll bzw. Dokumentationsbogen vorgegangen werden. Sehr zu empfehlen sind Spurensicherungskits, die Protokolle mit den entsprechenden Untersuchungsbögen enthalten.

  • Bei der Spurensicherung müssen bestimmte Abläufe eingehalten und eine lückenlose Beweismittelkette gesichert werden. Gesicherte Spuren sind für später nachvollziehbar aufzubewahren oder im Fall einer Anzeige an die begleitenden Polizeibeamten zu übergeben [8] [39].

  • Beweismittel wie Kleidung, Slipeinlagen, Tampons, Kondome etc. sollen in getrennten Papier- oder in speziellen Spurensicherungstüten gesichert werden. Wenn keine polizeiliche Anzeige erfolgt, können diese zunächst durch die Klinik oder – bei entsprechender Absprache im zuständigen rechtsmedizinischen Institut – sachgerecht verwahrt werden.

  • Die Beweismittel dürfen der untersuchten Person selbst nicht ausgehändigt werden, um die Anerkennung als Beweismittel in einem späteren juristischen Verfahren zu gewährleisten; dies gilt auch für alle sonstigen erhobenen Spuren und Proben.

  • Es soll eine detaillierte Inspektion des gesamten Körpers erfolgen, wobei zu beachten ist, dass die Entkleidung immer nur in Teilschritten erfolgt. Hierbei sollte mit der allgemeinen körperlichen Untersuchung und Spurensicherung begonnen und dann erst zur anogenitalen Untersuchung übergegangen werden.

  • Bei der körperlichen und der anogenitalen Untersuchung müssen alle Verletzungen nach Größe, Form, Farbe, ggf. Verletzungstiefe und genauer Lokalisation erfasst und sollten zusätzlich fotografisch sowie durch Einzeichnung in ein Ganzkörperschema dokumentiert werden [8] [11] [36]; der Farbeindruck von Hämatomen sollte immer auch verbalisiert werden (cave: Farbverfälschung bei Fotodokumentation im Kunstlicht). Auch das Fehlen von Verletzungen (sog. Negativ-Befunde), geringfügig erscheinende Verletzungen (sog. Bagatellverletzungen) oder eine Weigerung seitens der Betroffenen, bestimmte Areale untersuchen zu dürfen, sind zu dokumentieren. Bei Schilderung eines Angriffs gegen den Hals der Betroffenen ist unbedingt auf das Vorhandensein von Petechien im Gesicht zu achten (v. a. Augenregionen, einsehbare Lidbindehäute, Mundschleimhaut, retroaurikulär) und dies bzw. auch ihr Fehlen zu dokumentieren.

  • Für die Einordnung und Bewertung der somatischen Befunde hat sich das sog. Adams-Schema etabliert [10] [14] [16] [17].

  • Das Fotografieren von Verletzungen ist außerhalb des Anogenitalbereiches eine sinnvolle Ergänzung zur grafischen Dokumentation in Ganzkörperschemata und zur Beschreibung von Befunden. Es sollte sensibel mit diesem Medium umgegangen werden, die dezidierte Zustimmung zu Fotografien als Teil der Untersuchung ist einzuholen. Wenn eine Fotodokumentation erfolgt, sollte dies im Bericht vermerkt werden. Es sollte eine Porträtaufnahme der Betroffenen zur späteren Zuordnung erfolgen. Es sollten aussagekräftige Detailaufnahmen und Aufnahmen mit Maßstäben (Übersichtsaufnahme und Detailaufnahme mit Maßstab; senkrecht auf die Verletzung und den Maßstab fotografieren; vorzugsweise Verwendung des ABFO-Winkellineals No. 2) und Farbskala erfolgen, die geschützt der Dokumentation anzufügen sind [11]. Vor allem das Fotografieren des Anogenitalbereichs kann von den Betroffenen als beschämend wahrgenommen werden [11], daher sollten keine Übersichtsaufnahmen des Anogenitalbereichs gemacht werden. Es sollten aussagekräftige Detailaufnahmen, vorzugsweise kolposkopisch, erfolgen, die geschützt der Dokumentation anzufügen sind [21]. Das Kolposkop hat sich mittlerweile als fachlicher Standard bei der Erhebung und Dokumentation von Genitalbefunden etabliert und wird entsprechend der AWMF-Kinderschutzleitlinie vorausgesetzt [10] [14].

  • Digitale Aufnahmen sollten nicht gelöscht werden (auch nicht vermeintlich undeutliche Fotos). Dies dient der Absicherung der Untersuchenden.

  • Die Asservierung von am Körper befindlichen Spuren sollte möglichst parallel zur Untersuchung durchgeführt werden, um der Betroffenen mehrere sich wiederholende Untersuchungsschritte zu ersparen [40].

  • Das Ausmaß der Spurensicherung ist abhängig von den Charakteristika der Tat (bspw. von der Art der Penetration, dem Ausmaß der Gewalteinwirkung und dem zeitlichen Abstand zur Tat).

  • Abhängig von den Anamneseangaben sollten folgende Abstriche erfolgen [10] [11] [36]:

    • die Spurennahme soll „von außen nach innen“ erfolgen, um Spurenverschleppungen zu vermeiden.

    • bei vaginaler Penetration: äußeres Genitale, Scheidenvorhof. (Eine Spekulumuntersuchung ist nicht routinemäßig erforderlich, kann aber eine gezieltere Abstrichabnahme aus dem hinteren Vaginalgewölbe, dem vorderen Vaginalgewölbe und dem Zervikalkanal ermöglichen. Ob eine Spekulumuntersuchung durchgeführt wird, sollte mit der Betroffenen eingehend besprochen werden, und diese sollte nur mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung erfolgen, um Retraumatisierungen zu vermeiden.) Abschließend Abstriche vom Damm/perianal.

    • bei analer Penetration: Damm/perianal, Rektum

    • bei oraler Penetration: Mund. (Hierbei ist es wichtig, die Tupfer möglichst in den Wangentaschen und Lippenumschlagsfalten abzureiben.)

  • Zurückhaltung bei der Spekulumuntersuchung wird auch dann empfohlen, wenn unabhängig von dem geschilderten Ereignis noch kein vaginaler Geschlechtsverkehr erfolgt ist. Hier ist u. U. ein tiefer Vaginalabstrich „blind“ vorzunehmen.

  • Es sollten Abstriche von möglicherweise vorhandenen Blut-, Speichel- oder Spermaflecken, von Verletzungen und unter den Fingernägeln der Betroffenen mit befeuchteten Abstrichträgern erfolgen; alle Abstrichabnahmeorte sind genau zu dokumentieren.

  • Auf die korrekte Beschriftung der Probenröhrchen ist stets zu achten.

  • Für eventuelle DNA-Analysen kann bei der Betroffenen ein Wangenschleimhautabstrich genommen werden [11]. Alternativ kann die Betroffenen-DNA über eine Blutprobe (EDTA-Röhrchen) gesichert werden.

  • Zum Nachweis von Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum oder -verabreichung sind Blut- und Urinproben erforderlich [11]. Testung auf Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum oder -verabreichung sollten selektiv, d. h. im Verdachtsfall (Amnesie um die Tat, manifeste Symptome, Verdacht durch Betroffene etc.), erfolgen [35]. Dabei ist zu beachten:

    • Am häufigsten kann im Falle von Sexualdelikten mit V. a. Bewusstseinsbeeinträchtigung der Betroffenen durch Alkohol, Drogen oder Medikamente Alkohol nachgewiesen werden [41] [42] [43] [44] [45]. Der Nachweis von Ethanol im klinischen Labor erfüllt nicht die Anforderungen an eine forensische Blutalkoholbestimmung, kann aber eine Orientierung geben.

    • Durch den Täter/die Täterin können verschiedene Substanzen wie Benzodiazepine, γ-Butyrolacton (wird zu Gamma-Hydroxybuttersäure [GHB] verstoffwechselt) und GHB selbst, Ketamin, Anticholinergika, Antihistaminika und Muskelrelaxanzien eingesetzt worden sein [43].

    • Die Substanzen können unter Umständen nur für einen kurzen Zeitraum nach der Tat nachgewiesen werden, bspw. GHB für 6–8 Stunden im Blut und ca. 12 Stunden im Urin [43]. Daher sollte die Probennahme (Blut und Urin) möglichst schnell (am besten vor der eigentlichen Spurensicherung) durchgeführt werden. Bei größerem Zeitabstand zur Tat können u. U. Haaranalysen erfolgen [46].


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Empfehlungen zur medizinischen Versorgung

Falls die Betroffene ausschließlich eine medizinische Untersuchung und Versorgung, aber keine (Vertrauliche) Spurensicherung wünscht, sollte dennoch erläutert werden, dass die Möglichkeit einer Spurensicherung besteht und was diese umfasst. Sollte die Betroffene diese dennoch explizit ablehnen, so ist ihr Wunsch unbedingt zu akzeptieren und zu dokumentieren.

Auch im Falle einer rein medizinischen Versorgung sollte immer ein Dokumentationsbogen verwendet werden; er führt sicher durch den gesamten Untersuchungsgang und kann in einem etwaigen späteren Strafverfahren als „Beweismittel“ dienen.

Allgemeine Empfehlungen

  • Körperliche Verletzungen müssen adäquat erfasst, dokumentiert und versorgt werden, ggf. sollten dabei andere Fachdisziplinen involviert werden.

  • Der Tetanus-Impfstatus sollte erhoben werden und falls indiziert, sollte eine Impfung erfolgen.

  • Nach Gewalt gegen den Hals (Würgen/Drosseln) sollte stets eine HNO-ärztliche Untersuchung veranlasst werden. Eine zusätzliche Durchführung eines CT oder MRT ist nur in Ausnahmefällen nötig und sollte nur bei medizinischer Indikation erfolgen.

  • Betroffenen im reproduktionsfähigen Alter sollte die Durchführung eines Schwangerschaftstests (im Urin) angeboten werden.

  • Betroffenen im reproduktionsfähigen Alter sollte ggf. eine Notfallkontrazeption angeboten werden (Ulipristalacetat, Levonorgestrel, in Ausnahmefällen eine intrauterine Kupferspirale) [6].


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Sexuell übertragbare Erkrankungen

(Näheres in der AWMF-Leitlinie „Sexuell übertragbare Infektionen – Beratung, Diagnostik und Therapie“ Kapitel 4.3.2. Diagnostik von sexuell übertragbaren Infektionen bei sexuellem Missbrauch [47].)

Bei Kindern und Jugendlichen nach körperlich-sexuellem Übergriff soll auf folgende sexuell übertragbare Erreger untersucht werden: Chlamydia trachomatis, Neisseria gonorrhoeae und Trichomonas vaginalis mittels Nucleic acid ampification testing (NAAT/PCR) im Urin, ggf. anale Abstriche auf Chlamydia trachomatis, Neisseria gonorrhoeae [46] sowie ggf. HIV, Hepatitis B und C aus dem Serum und ggf. Lues; Spurenabstriche müssen dabei selbstverständlich immer vor den mikrobiologischen Abstrichen genommen werden.

Bei vorbestehendem vaginalen Ausfluss kann ggf. ein Abstrich auf Chlamydia trachomatis, Neisseria gonorrhoeae und Trichomonas vaginalis erfolgen. Verlaufskontrollen sollen nach den geltenden infektiologischen Empfehlungen erfolgen. Auch die Prüfung der Indikation zur Durchführung einer Postexpositionsprophylaxe soll nach den geltenden infektiologischen Empfehlungen erfolgen. Jedes positive Laborergebnis soll durch den jeweiligen erregerspezifischen Test bestätigt werden [10] [47].

Der Hepatitis-B-Impfstatus sollte erhoben werden und ggf. eine Impfung erfolgen.

Eine HIV-Postexpositionsprophylaxe sollte erwogen werden.


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Empfehlungen zur psychischen und psychosozialen Versorgung

(Siehe auch AWMF-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung“ [48].) Im Verlauf sollte möglichst bald, spätestens aber nach 4 Wochen, die Psychopathologie erfasst werden, außer wenn eine akute Belastungsreaktion vorliegt. Letztere wäre gleich nach der Tat zu diagnostizieren und ist für die Prognose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) von entscheidender Bedeutung.

Zur Diagnostik nach 4 Wochen gehört bei Minderjährigen auch die Beurteilung der Unterstützungsmöglichkeiten der sorgeberechtigten Eltern bzw. des Umfeldes, in dem die Minderjährige lebt, da dies auch die Prognose einer PTBS beeinflusst. Zudem ist die Dokumentation der psychischen Folgeschäden auch deshalb von Bedeutung, da diese das Strafmaß nicht unerheblich beeinflussen.

Es empfiehlt sich zur verlässlichen psychosozialen Weiterbetreuung Betroffener in erster Linie die Vernetzung mit Fachberatungsstellen und Traumaambulanzen nach dem Opferentschädigungsgesetz oder, je nach Indikation, anderen ambulanten und stationären psychotherapeutischen/psychiatrischen Behandlungseinrichtungen. Zudem bieten Rechts-/Opferschutzberatungsstellen niederschwellige juristische Unterstützung an und können auf eine psychosoziale Prozessbegleitung hinwirken.

Generell wird in Bezug auf die psychische und psychosoziale Betreuung der Betroffenen empfohlen:

Zunächst sollte ein Gesprächsangebot mit den Betroffenen alleine gemacht werden, im weiteren Verlauf ist der Einbezug der Sorgeberechtigten wichtig. Den Minderjährigen sollte Schweigepflicht zugesichert werden, außer es besteht eine akute Gefährdung. In diesem Fall werden die Minderjährigen darüber informiert, dass dies mit den Sorgeberechtigten besprochen werden muss. Grundsätzlich ist es wichtig, mit den Minderjährigen abzusprechen, welche Informationen an die Sorgeberechtigten weitergegeben werden.

So sollte vorgegangen werden:

  • Beziehung aufbauen, Sorgen und Bedürfnisse erfragen [5] [8] [26].

  • Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten eruieren [7] [32] sowie in diesem Zusammenhang eine ggf. notwendige stationäre Aufnahme prüfen.

  • Die kurzfristige Entlastung unterstützen: Wer aus dem Umfeld kann unterstützen, an welche Beratungsstelle kann verwiesen werden?

  • Die (akute) Schutzbedürftigkeit abklären und die Schutzmöglichkeiten der Betroffenen, vor allem bei sexualisierter Gewalt in Paarbeziehungen und im engeren oder weiteren Nahbereich eruieren [25]. Die Betroffene sollte in eine sichere Umgebung entlassen werden, idealerweise in Begleitung einer Vertrauensperson. Gegebenenfalls müssen Schutzmaßnahmen über das Jugendamt veranlasst werden. Zur Abklärung einer Kindeswohlgefährdung kann eine Weiterleitung an Kinderschutz-/Clearingstellen, Kinderschutzambulanzen oder sog. Childhood-Häuser notwendig werden.

  • Das Bundeskinderschutzgesetz (§ 4 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), https://www.gesetze-im-internet.de/kkg/BJNR297510011.html, https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/kinder-und-jugendschutz/bundeskinderschutzgesetz/das-bundeskinderschutzgesetz-86268) ermöglicht bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine akute Kindeswohlgefährdung auch ohne Einverständnis der Sorgeberechtigten die Information an das Jugendamt über die sog. Befugnisnorm. Die Befugnis einer Informationsweitergabe an das Jugendamt ist an 2 Einschätzungs- bzw. Abwägungsprozesse geknüpft: Zum einen die Einschätzung über das Vorliegen „gewichtiger Anhaltspunkte“. Als unbestimmter Rechtsbegriff gibt es keinen abschließenden Katalog gewichtiger Anhaltspunkte, sondern Anhaltspunkte sind jeweils individuell zu beurteilen. Liegen nach Einschätzung „gewichtige Anhaltspunkte“ vor, ist die Situation mit den Sorgeberechtigten zu erörtern und auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken. Ist die Gefährdung nicht mit eigenen Mitteln abwendbar, so muss jeweils eine Güterabwägung zwischen ärztlicher Schweigepflicht und dem Bruch dieser zur Abwendung der Gefährdung erfolgen, diese ist zu dokumentieren. Für diesen Abwägungsprozess und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten bietet § 4 KKG explizit die Möglichkeit einer pseudonymisierten Fallberatung durch eine entsprechend erfahrene Fachkraft der Jugendhilfe. Für sog. Berufsgeheimnisträger besteht hier ein Rechtsanspruch gegenüber dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe. In Deutschland besteht grundsätzlich keine Meldepflicht an das Jugendamt oder die Polizei.

  • Rund um die Uhr erreichbar ist die Medizinische Kinderschutzhotline, Tel. 0800/1921000. Dort beraten Ärztinnen und Ärzte mit einem 3-fachen fachlichen Hintergrund aus Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und Rechtsmedizin, die zusätzlich eine Schulung als insoweit erfahrene Fachkraft erhalten haben.

  • Die Betroffene kann im Sinne einer Psychoedukation über möglicherweise auftretende psychische Reaktionen wie belastende Erinnerungen an das Ereignis, sog. Flashbacks, überwältigende Gefühle und Phasen emotionaler Taubheit, Dissoziation sowie Steigerung des Erregungsniveaus mit Schlafstörungen informiert werden, damit sie diese als nachvollziehbare Reaktionen einordnen kann [8] [26]. Im Erstkontakt sollte eine behutsame Ansprache ausreichen und der Hinweis erteilt werden, sich zu Nachuntersuchungen und bei fachspezifischen Beratungsstellen vorzustellen, wo bei Bedarf weitere Unterstützung angeboten wird. Insbesondere bei Weiterbestehen von Symptomen, die auch noch 4 Wochen nach dem Ereignis bestehen, sollte eine Kontaktaufnahme zu einer Traumaambulanz erfolgen.

  • Risikofaktoren für die höhere Wahrscheinlichkeit der Entwicklung längerfristiger psychischer Symptomatik (z. B. Tatverdächtige sind aktuelle oder ehemalige Intimpartner, vorbestehende psychische Erkrankungen, traumatische Erlebnisse wie psychische, körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen in der Vergangenheit) sollten erkannt werden [26]. So vorbelastete Betroffene – und ggf. auch ihre Sorgeberechtigten – bedürfen einer intensiveren psychoedukativen Aufklärung über Risiken und Unterstützungsmöglichkeiten.

  • Ressourcen erheben und nutzen: Die Unterstützung durch das soziale Umfeld sollte gemeinsam mit der Betroffenen und ggf. ihren Sorgeberechtigten besprochen werden.

  • Wenn gewünscht, soll ggf. psychosoziale und/oder psychotherapeutische Unterstützung vermittelt werden [5] [7] [8] [25] [40]. Die Betroffenen sollten aufgeklärt werden, dass sie nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) Anspruch auf diese Unterstützungsangebote haben. (Im SGB XIV sind die Ansprüche auf soziale Entschädigung und schnelle Hilfen nach Gewalttaten im Dezember 2019 neu geregelt worden. Das Gesetz tritt zwar erst zum 1.1.2024 in Kraft, Teile davon sind aber schon seit 1.1.2021 gültig. Seitdem besteht für Opfer einer Gewalttat ein gesetzlicher Anspruch auf psychotherapeutische Intervention in einer Traumaambulanz im Umfang von bis zu 15 Sitzungen für Erwachsene und bis zu 18 Sitzungen für Kinder und Jugendliche (Art. 1 §§ 31, 34 SGB XIV).

  • Den Betroffenen sollen Informationen zu Fachberatungsstellen, OEG-Traumaambulanzen und anderen Anlaufstellen – bspw. für eine Rechtsberatung – gegeben werden [5] [7] [8] [49].

  • Die Betroffenen sollten schriftliche Informationen erhalten, da Konzentration und Gedächtnisfunktion in der akuten Situation oft gemindert sind [8] [21] [37] [39].

  • Die Verordnung von Benzodiazepinen sollte möglichst nicht erfolgen, da sie nicht der Prävention, sondern eher der Chronifizierung einer Traumafolgestörung dienen [48].


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Empfehlungen zur Nachbetreuung

Um die Betroffene über die Akutintervention hinaus zu betreuen, sollte die Vereinbarung von Nachbetreuungsterminen nach bestimmten Zeitintervallen bzw. die Vermittlung an entsprechende Anlaufstellen (niedergelassene Gynäkologinnen/Gynäkologen, Kinder- und Jugendarzt/-ärztin, Hausärztin/Hausarzt, infektiologische Ambulanzen, Gesundheitsämter) erfolgen [7] [8] [37] [39].

Physische und psychische Folgesymptome sollen erkannt und die Betroffene ggf. weitervermittelt werden. Betroffene sollten standardisiert einen Termin 4 Wochen nach dem Ereignis in einer OEG-Traumaambulanz bekommen, sodass eine beginnende PTBS oder andere Traumafolgestörungen diagnostiziert und frühzeitig behandelt werden können. Dies ist sehr wichtig, da insbesondere Minderjährige und auch die Sorgeberechtigten häufig Unterstützung bei der Organisation der Termine benötigen.

Die Wichtigkeit von Verlaufskontrollen sollte erläutert werden [39] und die Betroffene bei der Wahrnehmung derselben unterstützt werden [32].

Inhaltlich sollte es bei diesen Terminen gehen um:

  • die Testung auf sexuell übertragbare Erkrankungen (siehe AWMF-Leitlinie „Sexuell übertragbare Infektionen– Beratung, Diagnostik und Therapie“ [47]) empfohlen,

  • die Komplettierung von Impfungen (siehe AWMF-Leitlinie „Sexuell übertragbare Infektionen – Beratung, Diagnostik und Therapie“ [47]) empfohlen und ggf. Therapieeinleitung,

  • die Erfragung und Einschätzung des akuten psychischen Zustands der Betroffenen, um ggf. an eine entsprechende Fachberatungsstelle oder OEG-Traumaambulanz zu verweisen oder ggf. eine traumafokussierte Psychotherapie einzuleiten.

  • die Erfassung von prä-, peri- und posttraumatischen Risikofaktoren und eine Beurteilung der Selbst- und Fremdgefährdung durch zuständige qualifizierte Kinderärztinnen und -ärzte oder Kinderpsychiaterinnen und -psychiater bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kinderschutzambulanzen.

Die Weiterleitung an ein sog. Childhood-Haus sollte angestrebt werden, da dort das Kindeswohl an erster Stelle steht, eine kinderfreundliche Atmosphäre vorherrscht und alle Beteiligten zum Kind kommen. Dort kann neben der medizinischen und psychologisch-/psychotherapeutischen Versorgung und Kooperation mit der Jugendhilfe auch die polizeiliche und ermittlungsrichterliche Vernehmung koordiniert werden. Die Videoaufnahme der Aussagen der Betroffenen bietet die Möglichkeit, dass die Minderjährige nicht nochmals persönlich vor Gericht aussagen muss.


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Mutmaßlicher sexueller Missbrauch bei präpubertären Mädchen (orientierend: 0 bis < 14 Jahre)

Besonderheiten bei der psychosozialen Versorgung

Bei präpubertären Mädchen liegt überwiegend ein sexueller Missbrauch im sozialen Nahbereich und weniger durch Fremdtäter oder -täterinnen vor.

Die nicht suggestive Erstbefragung erfordert eine spezielle Expertise und sollte so bald wie möglich nach der (mutmaßlichen) Tat erfolgen. Zu beachten ist hierbei, dass Kinder sich häufig im Loyalitätskonflikt befinden und/oder einem Schweigegebot unterliegen.

Die Einschätzung der psychischen Symptome erfordert viel Erfahrung und sollte durch Kinderpsychotherapeutinnen/-therapeuten oder Fachärztinnen/Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen. Insbesondere die Diagnostik der komplexen Traumaentwicklungsstörung ist schwierig. Häufig wird die Traumatisierung bei Kindern unterschätzt. Kinder- und Jugendärzte sowie Kindergynäkologen haben durch ihre aus der sonstigen pädiatrischen Versorgung resultierenden Erfahrungen im Umgang mit alters- und entwicklungsbedingten Besonderheiten Vorteile im Erstkontakt und in der altersangemessenen Gestaltung der Untersuchung und Gesprächsführung. Eine interdisziplinäre Versorgung ist anzustreben.

Sorgerechtsfragen haben eine besondere Brisanz, da die Vorstellung der mutmaßlich von einem sexuellen Missbrauch betroffenen Mädchen manchmal auch im Rahmen von Trennungs- und Scheidungskonflikten erfolgt.

Wegen der Bedeutung von Kinderschutzaspekten wird der Einbezug des Jugendamtes, eine Weiterleitung an regionale Kinderschutzambulanzen oder an eines der deutschen Childhood-Häuser, wenn wohnortnah vorhanden, sonst eine andere etablierte und qualifizierte Versorgungseinrichtung empfohlen. Dort können die weiteren notwendigen Maßnahmen (Medizin, Jugendhilfe, Polizei, Justiz) auf den Weg gebracht und koordiniert werden.

Die kindergynäkologische Untersuchung sollte durch im Kinderschutz erfahrene gynäkologische Facharztärztinnen/Fachärzte, mit besonderer Expertise in der kindergynäkologisch-forensischen Diagnostik erfolgen bzw. kann durch entsprechend qualifizierte Kinder- und Jugendärztinnen oder -ärzte oder Rechtsmedizinerinnen und -mediziner durchgeführt werden. Da sich in dieser Altersklasse aufgrund der hormonell bedingten und dynamischen Entwicklung des Anogenitalbereiches bedeutsame Unterschiede zur Befunderhebung und -interpretation zu Adoleszenten ergeben, sind hier spezifische Kenntnisse in der Diagnostik, der altersgemäßen Gestaltung der Untersuchung, der psychischen Faktoren, der Bewertung der Befunde, rechtlicher Implikationen und der Nachsorge in besonderem Maße erforderlich. Die Untersuchung sollte kolposkopisch foto-, idealerweise videodokumentiert und nach den sogenannten Adams-Kriterien bewertet werden, um sie ggf. dem sog. Peer-Reviewing zuführen zu können [10].


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Untersuchungsmethoden und Befundinterpretation

Es wird auf das Kapitel 4.4.7 „Diagnostik bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch“ in der Langfassung der Kinderschutzleitlinie (S. 291 bis 295) sowie in der Leitlinienkurzfassung auf die Empfehlungen Nr. 112 bis 127 (S. 52 bis 56), die Tabelle zum „Zeitlichen Ablauf möglicher Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch“ (S. 56) und die Empfehlungen zur „Interpretation medizinischer Befunde bei Verdacht auf Missbrauch“ (S. 57 bis 59) hingewiesen. Hier finden sich evidenzbasierte Handlungsempfehlungen [10].

Ausführliche Hinweise zu Anamnese und Untersuchungsablauf, der Befunderhebung und -interpretation, sexuell übertragenen Infektionen und Differenzialdiagnosen können auch den einschlägigen aktuellen Handbüchern [14] [19] [20] entnommen werden.


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Anhang: mögliche Hilfs- und Unterstützungsangebote

  • Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatungsstellen

  • Childhood-Haus (ambulante Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die Opferzeugen von sexualisierter und körperlicher Gewalt wurden.) https://www.childhood-haus.de

  • DGKiM Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin e. V. (alle Kinderschutzgruppen auf einen Blick) https://www.dgkim.de

  • Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“: Unter der Nummer 0800/2255530 ist das Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“ montags, mittwochs und freitags von 9 bis 14 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 15 bis 20 Uhr bundesweit, kostenfrei und anonym erreichbar. Unter www.save-me-online.de ist das Online-Beratungsangebot für Jugendliche des Hilfetelefons erreichbar.

  • iGOBSIS (intelligentes Gewaltopfer-Beweissicherungs- und -Informationssystem) ist ein webbasiertes Dokumentationssystem und Informationsportal, das bei Verletzungsdokumentation, Spurensicherung, psychosozialer Weiterleitung unterstützt sowie Fortbildungen enthält: https://gobsis.de/

  • Medizinische Kinderschutz-Hotline 0800/1921000 (24 Stunden erreichbar). Zielgruppe: heilberufliches Fachpersonal, Kinder- und Jugendhilfe, Familiengerichtsbarkeit https://www.kinderschutzhotline.de

  • OEG-Traumaambulanzen für Kinder und Jugendliche

  • Startseite Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch (https://www.hilfe-portal-missbrauch.de)

  • Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs-UBSKM, https://www.beauftragter-missbrauch.de


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Conflict of Interest

The authors declare that they have no conflict of interest.

Danksagung

Wir danken dafür, dass wir einige Passagen aus der Publikation „Empfehlungen zur Betreuung und Versorgung von weiblichen mutmaßlichen Stuprum-Betroffenen“ (Fryszer et al. 2022) mit Genehmigung der beteiligten Autorinnen und Autoren für diese Stellungnahme modifiziert übernehmen konnten.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Matthias David
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Germany   

Publikationsverlauf

Eingereicht: 16. Mai 2022

Angenommen: 22. Mai 2022

Artikel online veröffentlicht:
07. Juli 2022

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