CC BY-NC-ND 4.0 · Fortschr Neurol Psychiatr 2023; 91(01/02): 32-44
DOI: 10.1055/a-1871-9628
Originalarbeit

COVID-19 und bipolare affektive Störung: Subjektive Veränderung der Lebensstilvariablen während des ersten Lockdowns in der COVID-19-Pandemie in Österreich

COVID-19 and Bipolar Affective Disorder: Subjective Changes in Lifestyle Variables During the First Lockdown During the COVID-19 Pandemic in Austria
Jennifer Ortner
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Susanne A. Bengesser
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Jolana Wagner-Skacel
2   Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Frederike T. Fellendorf
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Eva Fleischmann
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Michaela Ratzenhofer
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Melanie Lenger
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Robert Queissner
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Adelina Tmava-Berisha
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Martina Platzer
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Alexander Maget
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
René Pilz
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
3   FH JOANNEUM, Diätologie, Graz, Austria
,
Armin Birner
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Eva Reininghaus
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
,
Nina Dalkner
1   Psychiatry, Medical University Graz, Austria Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Österreich
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Hintergrund Die COVID-19-Pandemie mit ihren Schutzmaßnahmen (z. B. Lockdown) hat einen weitreichenden Einfluss auf die Befindlichkeit aller Menschen. Das Ziel dieser Studie war es, Lebensstilvariablen während des ersten österreichischen Lockdowns bei Patient*innen mit bipolarer Erkrankung im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe zu untersuchen und subjektive Veränderungen durch die Pandemie zu erheben.

Methode Anfang April 2020 wurde eine Online-Befragung mit 75 Teilnehmer*innen (35 Patient*innen und 40 Kontrollpersonen) mit standardisierten Fragebögen (Beck Depression Inventory-2, Food Craving Inventory, Altman Self Rating Mania Scale) sowie nicht-standardisierten COVID-19-spezifischen Fragen zum Thema „Psychische Belastung und Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bei bipolarer Störung“ per LimeSurvey durchgeführt.

Ergebnisse Beide Gruppen gaben an, dass sich die Pandemie negativ auf ihre psychische Gesundheit ausgewirkt habe. Die Studienteilnehmer*innen mit bipolarer Störung zeigten signifikant höhere Werte im Beck Depression Inventory-2 (p<0,001), in der emotionalen Belastung durch die räumliche Distanzierung (p=0,003) und signifikant niedrigere Werte im Kraftsport (p=0,039) sowie im Sport generell (p=0,003) im Vergleich zur Kontrollgruppe. Außerdem rauchten Patient*innen mit bipolarer Erkrankung während dieser Zeit kompensatorisch mehr als Personen der Kontrollgruppe. Personen mit bipolarer Störung gaben mit 42,9% häufiger an, während der Pandemie weniger leistungsfähig zu sein, und 22,9% verzeichneten eine Gewichtszunahme im Vergleich zu vor der Pandemie. Die Kontrollgruppe war hingegen mit 17,5% weniger leistungsfähig und 5,0% berichteten über eine Gewichtszunahme. Ein Vergleich mit Prä-Pandemie-Daten zeigte jedoch eine Abnahme im Food Craving in beiden Gruppen.

Konklusion Diese Studie lieferte erste Hinweise auf die psychische Belastung und auf die ungünstigen Auswirkungen auf den Lebensstil von Menschen mit einer bipolaren Störung zu Beginn der COVID-19-Pandemie. Eine psychiatrische Betreuung und Erste-Hilfe-Maßnahmen für Patient*innen mit psychischer Störung wären gerade in Krisenzeiten wichtig, um einen gesunden Lebensstil zu pflegen und so ungünstigen Entwicklungen gegenzusteuern.


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Abstract

Introduction The COVID-19 pandemic with its protective measures (e. g. lockdown) had far-reaching effects on everyone’s well-being. The aim of this study was to examine lifestyle variables during the first Austrian lockdown in patients with bipolar disorder in comparison to a healthy control group and to assess subjective changes caused by the pandemic.

Method At the beginning of April 2020, an online survey of n=75 participants (35 people with bipolar disorder and 40 healthy controls) with standardized questionnaires (Beck Depression Inventory-2, Food Craving Inventory, Altman Self Rating Mania Scale) as well as non-standardized COVID-19-specific questions on the subject of “Psychological stress and effects of the COVID-19 pandemic in bipolar disorder” was created and distributed via LimeSurvey.

Results Both groups reported a negative impact on their mental health. The participants with bipolar disorder showed significantly higher values in the Beck Depression Inventory-2 score (p<0,001), in emotional distress due to social distancing (p=0,003) and significantly lower values in muscle-strengthening exercise (p=0,039) and in sport units (p=0,003) compared to the control group. In addition, patients with bipolar disorder smoked more often than individuals of the control group. People with bipolar disorder were 42,9% more likely to report they were less efficient during the pandemic, and 22,9% experienced weight gain compared to before the pandemic. The control group, on the other hand, was less efficient at 17,5% and 5,0% reported weight gain. However, a comparison with pre-pandemic data showed a decrease in food craving in both groups.

Conclusion This study provided first evidence of self-reported adverse effects on mental stress and lifestyle in people with bipolar disorder at the beginning of the COVID-19 pandemic. Psychiatric care and early interventions for patients with bipolar disorder would be particularly important in times of crisis in order to help maintain a healthy lifestyle and thus counteract unfavourable developments.


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Einleitung

COVID-19 (Coronavirus disease 2019) ist eine infektiöse Erkrankung, welche durch das „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2) ausgelöst wird, und über den Respirationstrakt eine akute Lungenentzündung mit Fieber und trockenem Husten sowie Kurzatmigkeit und weitere Symptome verursachen kann. Der Verlauf der Erkrankung variiert von asymptomatisch über mild bis hin zu einer lebensbedrohlichen Sepsis [1].

Am 6. April 2020 gab es bereits über 1,3 Millionen positive COVID-19-Fälle und über 70.000 Todesfälle weltweit. In Österreich waren zu diesem Zeitpunkt mehr als 12.000 Fälle bekannt und 220 Menschen waren bereits an COVID-19 gestorben [2]. Mit Ausbruch der COVID-19-Pandemie wurden auch in Österreich Schutzmaßnahmen verordnet, welche von 16. März bis Anfang Mai 2020 andauerten. Hierzu zählten u. a. die Schließung von Gastronomie, Handel, Schulen, Universitäten, Bundesgärten, Kuranstalten und Sporteinrichtungen. Es wurden Empfehlungen für Homeoffice erteilt und das Eigenheim durfte etwa nur für notwendige Besorgungen zur Deckung von Grundbedürfnissen verlassen werden [3].

Viele Menschen litten unter den psychologischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang mit den Maßnahmen und Quarantänebestimmungen [4]. Erste Studien zeigten vermehrte depressive Symptomatik und Ängste sowie erhöhte Stresslevel bei Befragten [5] [6]. Auch Brooks et al. (2020) berichteten von den negativen Auswirkungen der Quarantäne wie posttraumatische Stresssymptome, Infektions-Ängste, Langeweile, Frustration, Verlust der Tagesstruktur, Verringerung der Sozialkontakte sowie finanzielle Sorgen [7]. Es wurde vermutet, dass bestimmte Personengruppen (z. B. Ältere oder Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen) empfänglicher für negative psychische Konsequenzen der Pandemie sind [8]. Besonders bei Personen mit bipolarer Störung scheint die Pandemie Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zu haben [9]. Dies ist nicht verwunderlich, da die bipolare Störung zu den affektiven Erkrankungen gehört, die durch ein rezidivierendes Auftreten von (hypo-)manischen sowie depressiven Phasen gekennzeichnet ist [10]. Es ist auch bekannt, dass Menschen mit bipolar affektiven Störungen verglichen mit psychisch gesunden Personen für belastende Lebensereignisse vulnerabler sind. Heutzutage geht man in der Krankheitsgenese vom „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ aus [10]. Die psychische Belastung durch die Pandemie und deren notwendigen Hygienemaßnahmen (z. B. social distancing) sowie die akute Ansteckungsgefahr und Angst können bei vulnerablen Bevölkerungsgruppen eine emotionale Phase begünstigen. Nicht nur der pandemiebedingte Stress, sondern auch der eingeschränkte, erschwerte Zugang zu psychiatrischen Diensten könnte das Rückfallrisiko erhöhen [11], was den Therapiefortschritt gefährden könnte [12].

Viele Metaanalysen bestätigten, dass körperliche Bewegung als protektiver Faktor im Verlauf einer psychischen Erkrankung zu sehen ist [13]. Vancampfort et al. (2015) beobachteten in diesem Zusammenhang, dass Patient*innen mit bipolarer Erkrankung im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe im Allgemeinen signifikant weniger Minuten pro Woche körperlich aktiv waren, signifikant kürzere Strecken beim Spazierengehen zurücklegten und eine beeinträchtigte funktionelle Trainingskapazität aufwiesen [14]. Ammar et al. (2020) berichteten, dass Schutzmaßnahmen (z. B. Lockdown) zu einer weiteren Verringerung der körperlichen Aktivität und zu einer Erhöhung des sitzenden Verhaltens führten [15].

Ein weiterer wichtiger Lebensstilfaktor ist das Rauchverhalten. Menschen mit bipolarer Erkrankung weisen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine 3.5fach höhere Wahrscheinlichkeit auf, mit dem Rauchen zu beginnen. Es ist darüber hinaus bekannt, dass 45% der bipolaren Menschen Raucher*innen sind [16]. Die Maßnahmen rund um den Lockdown könnten das Risiko für Substanz- und Alkoholkonsum in dieser gefährdeten Gruppe nochmals erhöhen [17].

Menschen mit bipolarer Erkrankung neigen, vor allem in Phasen der atypischen Depression, zu einem ungesunden Ernährungsverhalten, welches kohlenhydrat-, fett- und zuckerreiche Lebensmittel einschließt. Lackner et al. (2015) [18] zeigten, dass Patient*innen mit einer bipolaren Störung im Vergleich zu gesunden Personen eine Tendenz zu erhöhtem Food Craving haben. Food Craving (FC) [19] ist definiert als das Verlangen nach bestimmten Lebensmitteln, wie zum Beispiel fettige Lebensmittel, Fast-Food, kohlenhydrathaltige Lebensmittel sowie Süßigkeiten, und steht mit erhöhter Nahrungsaufnahme und Übergewicht im Zusammenhang [20]. Menschen mit bipolarer Erkrankung weisen überdurchschnittlich häufig Übergewicht auf [21], welches auch mit einem negativen Krankheitsverlauf assoziiert ist [22].

Darüber hinaus müssen bestehende Komorbiditäten berücksichtigt werden, da Personen, die aufgrund einer COVID-19-Infektion eine Intensivbehandlung benötigen, Vorerkrankungen wie arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zerebrovaskuläre Erkrankungen hatten [23]. Dies ist hochrelevant, da diese Erkrankungen bei bipolaren Störungen überproportional häufig als Komorbiditäten auftreten [24] [25] [26].

Da kardiovaskuläre Komorbiditäten gravierende gesundheitliche Konsequenzen darstellen können, wurde in der vorliegenden Studie der Lebensstil von Menschen mit bipolarer Störung während des ersten österreichischen Lockdowns im April 2020 anhand einer Patient*innen-Umfrage untersucht. Das Ziel dieser Studie war es, zu untersuchen, ob sich Lebensstilvariablen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe durch den Lockdown subjektiv verändert haben und ob diese mit psychischen Symptomen im Zusammenhang stehen.

Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass sich während des Lockdowns 1) die emotionale Belastung durch soziale Distanzierung, COVID-19-Ängste und Depressivität bei Menschen mit bipolarer Störung von gesunden Kontrollproband*innen unterscheidet. Darüber hinaus wurde bei bipolaren Patient*innen verglichen mit Kontrollpersonen angenommen, dass 2) eine Abnahme der subjektiv berichteten körperlichen Aktivität, 3) eine Zunahme des subjektiven Alkohol- und Nikotinkonsums, 4) eine Abnahme der allgemeinen Leistungsfähigkeit (im Beruf, Haushalt usw.) und 5) eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten und im Food Craving vorliegen.


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Methode

Ablauf

Im Zeitraum vom 9. bis 28. April 2020 wurde die Online-Befragung „Psychische Belastung und Auswirkungen der Corona-Virus-Pandemie bei bipolarer Störung“ in Österreich durchgeführt. Die Umfrage wurde via LimeSurvey (www.limesurvey.org) an Patient*innen mit einer diagnostizierten bipolaren affektiven Störung und an frühere Kontrollpersonen der BIPLONG-Studie per E-Mail ausgeschickt. Die BIPLONG-Studie ist eine longitudinale Studie, welche an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in Graz über die Spezialambulanz für bipolare Störungen seit 2012 durchgeführt wird und klinische Parameter (u. a. Labordiagnostik, psychologische Fragebögen, kognitive Testungen, Lebensstilvariablen und anthropometrische Daten) bei Patient*innen mit bipolarer Störung alle sechs Monate im Langzeitverlauf analysiert. Die zusätzlich durchgeführte Online-Studie wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Graz gemäß der aktuellen Deklaration von Helsinki genehmigt (EK-Nummer: 25-335 ex 12/13).


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Stichprobe

Patient*innen mit der Diagnose einer bipolaren Störung nach DSM-IV, die bereits in die BIPLONG-Studie eingeschlossen worden waren, wurden per E-Mail angeschrieben. Alle Proband*innen gaben ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme an der Studie (Informed Consent) und mussten für die Teilnahme ein Mindestalter von 18 Jahren aufweisen. Als weiteres Einschlusskriterium für Kontrollpersonen galt das Fehlen einer psychischen Erkrankung in der Gegenwart oder Vergangenheit sowohl bei ihnen selbst als auch bei Verwandten ersten Grades, dies wurde im Rahmen der BIPLONG-Studie sowie in der Online-Umfrage überprüft. In die vorliegenden Analysen wurden nur Daten von Proband*innen aufgenommen, die die Fragebögen weitgehend vollständig beantwortet hatten, somit umfasste die endgültige Stichprobe 35 Patient*innen und 40 Kontrollpersonen. Keine*r der Proband*innen war zum Zeitpunkt der Untersuchung jemals wissentlich an einer COVID-Infektion erkrankt gewesen.


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Inventare

Die Fragebogenbatterie umfasste einige psychologische Inventare. Zur Bewertung der Schwere einer depressiven Symptomatik wurde das Beck Depression Inventory-2 (BDI-II) [27] verwendet. Der Fragebogen umfasst insgesamt 21 Items, die nach aufsteigendem Schweregrad gegliedert sind. Der Summenwert ergibt den Grad der Schwere einer klinischen Depression; ein Wert ab 18 gilt als klinisch auffällig [27]. Der BDI-II in deutscher Version besitzt eine interne Konsistenz mit einem Cronbachs α=0,89 und einer Zuverlässigkeit von r≥0,75. Die Altman Self Rating Mania Scale (ASRM) [28] ist eine Beurteilungsskala, die Stimmung, Selbstvertrauen, Schlafstörungen, Sprache und Aktivitätsniveau innerhalb einer Woche erfasst. Jede Frage kann mit 0 bis 4 Punkte bewertet werden, bei über 5 Punkte spricht man von einer Manie. Das Food Craving Inventury (FCI) [19] misst die Häufigkeit des intensiven Verlangens nach bestimmten Nahrungsmitteln anhand von vier Subskalen (Fett Craving, Fast-Food Craving, Kohlenhydrat Craving und Süßigkeiten Craving). Der Fragebogen umfasste 28 Items. Für diesen Fragebogen liegen Prä-Pandemie-Daten der Patient*innen und Kontrollpersonen der BIPLONG-Studie vor. Des Weiteren wurden soziodemografische Variablen (u. a. Geschlecht, Alter, Ausbildung), Größe und Gewicht erhoben. Für die Erbhebung zu COVID-19-Ängsten und zum emotionalen Stresserleben durch soziale Distanzierung (social distancing) wurden eigens Fragebögen von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin der Medizinischen Universität Graz entwickelt. Die emotionale Belastung durch soziale Distanzierung wurde folgend abgefragt: „Durch die räumliche Distanzierung fühle ich mich einsam/gelangweilt/frustriert/ängstlich/hoffnungslos“. Die emotionale Belastung umfasste eine 5-stufige Bewertungsskala, gemessen von 0 (überhaupt nicht) bis 4 (sehr stark). Die Summe der Fragen wurde durch 5 dividiert und ein Index gebildet. Die COVID-19-Ängste im Rahmen der Pandemie wurden anhand der drei Fragen erfasst: 1) „Wie stark schätzen Sie Ihre Sorgen und Ängste rund um das Coronavirus ein?“, 2) „Wie groß ist Ihre Angst, sich mit dem Coronavirus anzustecken?“ und 3) „Wie groß ist Ihre Angst, andere mit dem Coronavirus anzustecken?“ und ein Mittelwert daraus gebildet. Die Teilnehmer*innen bewerteten ihre Angst auf einer Skala von 0 (keine Angst) bis hin zu 10 (große Angst). Außerdem wurden Fragen zum Lebensstil bezugnehmend auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestellt.

Menschen mit bipolarer Erkrankung und Kontrollpersonen wurden befragt, ob sie regelmäßig zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs seien. Außerdem wurden die genauen Minutenangaben zur sportlichen Betätigung pro Woche und die Gartenzeit erhoben (zu Fuß gehen, Rad fahren, Kraftsport, Sport mit mittlerer bis höherer Intensität). Auch die Häufigkeit der Freizeitbeschäftigungen (Hobbys, Entspannungsmethoden) wurde untersucht. Alle Teilnehmer*innen wurden befragt, ob sie rauchen und wie viele Zigaretten sie konsumieren würden. Darüber hinaus wurde erfragt, ob es diesbezüglich subjektiv zu Veränderungen während des Lockdowns im Vergleich zu Prä-Pandemie-Zeiten gekommen sei. Ebenso wurden qualitative Fragen hinsichtlich negativer und psychischer Auswirkungen mittels Kommentarfunktion gestellt – siehe [Tab. 1].

Tab. 1 Fragebogen zur Erhebung der subjektiven Veränderung der Lebensstilvariablen.

„Hat sich Ihr Gewicht in der Zeit der Ausgangsbeschränkungen/Quarantäne verändert?“

Nein, keine gröbere Gewichtsveränderung

Ja, ich habe mehr als 5 Kilogramm abgenommen

Ja, ich habe mehr als 5 Kilogramm zugenommen

„Wie schätzen Sie Ihre derzeitige Leistungsfähigkeit (im Beruf, im Haushalt, etc.), im Vergleich zu vor dem COVID-Ausbruch, ein?“

Ich bin gleich leistungsfähig, wie vor dem COVID-Ausbruch

Ich bin jetzt weniger leistungsfähig

Ich bin jetzt leistungsfähiger

„Waren Sie in den letzten Wochen (vor der COVID-19-Pandemie) im Hinblick auf die zuvor genannten Aktivitäten anders körperlich aktiv als derzeit?“

Nein, ich bin jetzt gleich aktiv wie vor der COVID-19-Pandemie

Ja, weniger aktiv

Ja, mehr aktiv

„Haben Sie derzeit eine fixe Tagesstruktur? D.h., gibt es fixe Zeiten zum Arbeiten, Essen, Schlafen etc. oder sonstige fixe Tätigkeiten im Alltag?“

Nein, Teilweise, Ja

„Haben sich Ihre Ernährungsgewohnheiten in der letzten Woche gegenüber der Zeit vor dem COVID-Ausbruch verändert?“

Nein, ich esse gleich wie vor dem COVID-Ausbruch

Ja, ich esse jetzt weniger gesund

Ja, ich esse jetzt gesünder

„Hat sich Ihr Alkoholkonsum gegenüber der Zeit vor dem COVID-Ausbruch verändert?“

Nein, ich trinke jetzt gleich viel wie vor dem COVID-Ausbruch

Ja, ich trinke jetzt weniger Alkohol

Ja, ich trinke jetzt mehr Alkohol

„Hat sich Ihr Rauchverhalten gegenüber der Zeit vor dem COVID-Ausbruch verändert?“

Nein, ich rauche jetzt gleich viel wie vor dem COVID-Ausbruch

Ja, ich rauche jetzt weniger

Ja, ich rauche jetzt mehr

„Haben Sie das Gefühl, dass sich die Auswirkungen der Corona-Virus-Pandemie (inkl. Ausgangsbeschränkungen und soziale Distanzierung) auf Ihre psychische Situation auswirken?“

Ja, Nein

„Wirkt sich die COVID-Pandemie negativ auf Ihre psychische Situation aus?“

Ja, Nein und warum mittels Kommentarfunktion

„Wirkt sich die COVID-Pandemie positiv auf Ihre psychische Situation aus?“

Ja, Nein und warum mittels Kommentarfunktion

Die Variablen für die Korrelationen wurden sorgfältig ausgewählt, um einen Zusammenhang zwischen Lebensstilvariablen und dem FC mit den psychischen Auswirkungen darzustellen. Die Sportvariablen wurden ausgewählt, da es einen Hinweis darauf gibt, dass Kraftsport die depressive Symptomatik reduziert [29]. Nikotinkonsum wird in der Literatur als mögliche Coping-Strategie gegen negative psychische Auswirkungen genannt [30]. Menschen mit bipolarer Erkrankung zeigten auch präpandemisch ein erhöhtes Verlangen nach bestimmten Lebensmitteln, weshalb das Food Craving miteingebunden wurde [18]. Außerdem wurde auch die Freizeitvariable „Gartenzeit“ eingebunden; auf die Variable „Rad in Minuten“ wurde aufgrund von zu wenigen Teilnehmer*innen verzichtet.


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Statistische Analysen

Die Berechnung der Gruppenunterschiede zwischen Kontrollpersonen und Personen mit bipolarer Erkrankung erfolgte mit Chi-Quadrat-Tests für nominale Datensätze, T-tests für metrische Daten und Mann-Whitney-U-Tests für metrische Daten ohne Normalverteilung. Zwei statistische Ausreißer in Bezug auf die sportlichen Aktivitäten in Minuten wurden eliminiert. Bei der statistischen Berechnung der Variable „Mit Rad in Minuten“ wurden 61 Teilnehmer*innen ausgeschlossen, welche „0 Minuten“ angaben.

Die Unterschiede im Food Craving vor und während der Pandemie wurden mit einer zweifaktoriellen multivariaten Kovarianzanalyse mit Messwiederholung (MANCOVA mit Messwiederholung) berechnet. Der erste Wert wurde im Rahmen der BIPLONG-Studie, welche den Langzeitverlauf der bipolaren Störung untersucht, im Zeitraum von 2014 bis 2020 (Messzeitpunkt 1, Prä-Pandemie) erhoben und der zweite Messzeitpunkt erfolgte im Rahmen der Umfrage im April 2020 (Messzeitpunkt 2, Pandemie). Als unabhängige Variablen wurden die Messzeitpunkte 1 und 2 sowie die Gruppe (Kontrollgruppe versus Individuen mit bipolarer Störung) und als abhängige Variable der Wert im FCI zu beiden Messzeitpunkten eingefügt. Als Kontrollvariablen wurden Alter, Geschlecht und die Zeitdauer in Jahren zwischen Messzeitpunkt 1 und Messzeitpunkt 2 in die Berechnung einbezogen. Die Stichprobe der Messwiederholung war mit 11 Patient*innen und 14 Kontrollpersonen sehr klein.

Die Gruppenunterschiede in den FCI-Subskalen zum zweiten Messzeitpunkt (Pandemie) wurden mit einer multivariaten Varianzanalyse berechnet. Als abhängige Variablen fungierten die Subskalen Fett Craving, Fast-Food Craving, Kohlenhydrat Craving und Süßigkeiten Craving, als unabhängige Variable die Gruppe (Bipolare Erkrankung vs. Kontrolle) und als Kovariablen Alter und Geschlecht. Zusammenhänge zwischen Lebensstil, emotionaler Belastung durch soziale Distanzierung, COVID-19-Ängsten und BDI-II wurden mit Spearman Korrelationsanalysen (Spearman’sches Rho) untersucht.

Für die Überprüfung der Normalverteilung wurde der Kolmogorov-Smirnov-Test durchgeführt. Die statischen Ergebnisse wurden mit der IBM SPSS-Software Version 26 berechnet.


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Ergebnisse

[Tab. 2] zeigt die Werte in den soziodemografischen Variablen, der emotionalen Belastung durch soziale Distanzierung, den COVID-19-Ängsten sowie in der affektiven Symptomatik (BDI-II, ASRM) der Stichprobe zum Zeitpunkt der Online-Befragung. In den Variablen Alter und Body-Mass-Index (BMI) unterschieden sich die beiden Gruppen signifikant voneinander. Die Kontrollgruppe hatte signifikant mehr Studienabschlüsse im Vergleich zur Patient*innengruppe. Im BDI-II und der emotionalen Belastung durch soziale Distanzierung hatten bipolare Patient*innen signifikant höhere Werte als Teilnehmer*innen der Kontrollgruppe. Kein signifikanter Unterschied zeigte sich bei COVID-19-Ängsten zwischen Patient*innen und Kontrollpersonen.

Tab. 2 Soziodemografische Variablen sowie affektive Symptomatik von Patient*innen mit bipolarer Störung und gesunden Kontrollpersonen zum Zeitpunkt des Lockdowns.

Gruppe

PG (n=35) M (±SD)

KG (n=40) M (±SD)

Statistik

p

Effekt-stärke

Weiblich (n,%)

15 (42,9%)

29 (72,5%)

Männlich (n,%)

20 (57,1%)

11 (27,5%)

χ²=6,76

0,011*

Φ=0,30

Alter

48,34 (±13,60)

32,10 (±7,93)

Min, Max

23, 77

22, 56

MR

51,21

26,44

U=237,50

<0,001***

r=−0,57

BMI [kg/m²]

29,61 (±8,38)

24,52 (±3,99)

Min, Max

20,07, 59,52

19,15, 41,91

MR

46,30

30,74

U=409,50

0,002**

r=−0,36

Ausbildung

Pflichtschulabschluss

2 (5,7%)

0 (0%)

Lehrausbildung

11 (31,4%)

1 (2,5%)

Matura

12 (34,3%)

7 (17,5%)

Bachelorstudium

2 (5,7%)

9 (22,5%)

Masterstudium

8 (22,9%)

16 (40,0%)

Doktorat/PhD

0 (0%)

7 (17,5%)

χ²=25,55

<0,001*** a

Φ=0,58

BDI-II

16,97 (±12,38)

3,38 (±2,79)

Min, Max

0, 44

0, 10

MR

50,38

26,55

U=242,00

<0,001***

r=−0,55

ASRM

1,62 (±3,06)

0,65(±1,17)

Min, Max

0, 11

0, 5

MR

39,09

36,15

U=626,00

0,500

Emotionale Belastungb

1,64 (±1,16)

0,85 (±0,74)

Min, Max

0, 4

0, 3,40

MR

45,93

31,06

U=422,50

0,003**

r=−0,34

COVID-19-Ängstec

3,70 (±2,53)

3,98 (±1,95)

Min, Max

0, 9

0,67, 7,67

T 72=− 0,54

0,594

Notiz: PG=Patient*innengruppe; KG=Kontrollgruppe; BMI=Body-Mass-Index; BDI-II=Beck Depression Inventory II; ASRM=Altman Self-Rating Mania Scale; M=Mittelwert; SD=Standardabweichung; Min=Minimum; Max=Maximum; MR=Mittlerer Rang; a Exakter Test nach Fisher; b Durch die räumliche Distanzierung fühle ich mich einsam/gelangweilt/frustriert/hoffnungslos/ängstlich; Mittelwert aus allen 5 Skalen mit jeweils einer Punkteskala von 0–4; c COVID-19-Ängste „Wie stark schätzen Sie Ihre Sorgen und Ängste rund um das Corona-Virus ein?”, „Wie groß ist Ihre Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken?“, „Wie groß ist Ihre Angst, andere mit dem Corona-Virus anzustecken?” Mittelwert aus allen 3 Skalen mit jeweils einer Punkteskala von 0–10; *** p<0,001, **p<0,01, *p<0,05.

[Tab. 3] zeigt die Unterschiede der Lebensstilvariablen zwischen Patient*innen mit bipolarer Störung und Kontrollpersonen im Untersuchungszeitraum. Die bipolare Gruppe wies zu dieser Zeit signifikant weniger mittlere bis intensive Sporteinheiten auf, weniger Kraftsport und fuhr weniger mit dem Fahrrad als die Kontrollgruppe. Zudem rauchten Menschen mit bipolarer Störung mehr im Vergleich zur Kontrollgruppe. Im Gegensatz dazu gab es keinen signifikanten Unterschied beim Zufußgehen, in der Gartenzeit und in der Anwendung von Entspannungsverfahren. Darüber hinaus gingen (42,9%) der Patient*innen mit bipolarer Erkrankung vs. (20,0%) der Kontrollproband*innen ihren Hobbys nach. Die MANCOVA zur Berechnung der Unterschiede in den FC Komponenten zeigte keinen signifikanten Gruppenunterschied (F(4/62)=0,73, p=0,578, η²=0,045) zum Messzeitpunkt April 2020.

Zoom Image
Abb. 1 subjektive Veränderung der Leistungsfähigkeit; Fragestellung = „Wie schätzen Sie Ihre derzeitige Leistungsfähigkeit (im Beruf, im Haushalt, etc.), im Vergleich zu vor dem COVID-Ausbruch, ein?“ Antwort=ich bin gleich leistungsfähig, wie vor dem COVID-Ausbruch; ich bin jetzt weniger leistungsfähig; ich bin jetzt leistungsfähiger; N=Teilnehmer*innen-Anzahl; Patient*innengruppe=Personen mit bipolarer Störung, Kontrollgruppe=Personen ohne bipolare Störung

Tab. 3 Lebensstilvariablen von Patient*innen mit bipolarer Störung und gesunden Kontrollpersonen zum Zeitpunkt des Lockdowns zum Thema: Sport, Entspannungsmethoden, Suchtverhalten und Food Craving.

Gruppe

PG (n=35) M (±SD)

KG (n=40) M (±SD)

Statistik

p

Effekt-stärke

Zu Fuß

Ja

24 (68,6%)

29 (72,5%)

Nein

11 (31,4%)

11 (27,5%)

x 2 =0,14

0,801

Zu Fuß in Min

187,94 (±234,02)

209,10(±211,42)

Min, Max

0, 1020

0, 860

MR

36,23

39,55

U=638,00

0,508

Mit Rad

Ja

3 (8,6%)

11 (27,5%)

Nein

32 (91,4%)

29 (72,5%)

x 2 =4,41

0,042*

Φ=−0,24

Mit Rad in Min

130 (±85,44)

132,73 (±66,80)

Min, Max

50, 220

30, 220

T 12 =−0,06

0,953

Sport

104,29(±156,83)

164,75(±134,26)

Min, Max

0, 550

0, 500

MR

30,26

44,78

U=429,00

0,003**

r=−0,34

Kraftsport

45,00 (±67,51)

72,50(±82,76)

Min, Max

0,300

0,400

MR

32,56

42,76

U=509,50

0,039*

r=−0,24

Garten

193,49 (±316,72)

286,65 (±469,50)

Min, Max

0,1380

0,1800

MR

36,33

39,46

U=641,50

0,521

Hobbys

Nie

1 (2,9%)

0 (0%)

Selten

7 (20,0%)

8 (20,0%)

Manchmal

12 (34,3%)

24 (60,0%)

Oft

15 (42,9%)

8 (20,0%)

x 2 =6,90

0,053 a

Entspannung

Nie

19 (54,3%)

14 (35,0%)

Selten

4 (11,4%)

10 (25,0%)

Manchmal

8 (22,9%)

13 (32,5%)

Oft

4 (11,4%)

3 (7,5%)

x 2 =4,35

0,241 a

Zigarettenanzahl

18,67(±8,20)

4,75(±3,59)

Min, Max

3,30

2,10

MR,N

10,17, 12

3,50, 4

U=4,00

0,015*

r=−0,62

Rauchen

Ja

13 (37,1%)

4 (10,0%)

Nein

22 (62,9%)

36 (90,0%)

x 2= 7,85

0,006** a

Φ=−0,32

FC April 2020

FC Summe

29,97 (±15,99)

20,79 (±17,58)

F=1,43

0,235

FC Fastfood

3,93 (±2,70)

3,30 (±3,04)

F=0,79

0,376

FC Kohlenhydrate

7,87 (±6,21)

6,21 (±5,84)

F=0,19

0,665

FC Sweets

11,10 (±6,52)

8,26 (±7,70)

F=1,93

0,170

FC Fett

7,07 (±5,51)

3,03 (±3,55)

F=1,45

0,233

Notiz: PG=Patient*innengruppe; KG=Kontrollgruppe; M=Mittelwert; SD=Standardabweichung; MR=Mittlerer Rang; N=Teilnehmer*innen-Anzahl; FC=Food Craving; Zu Fuß=„Bezogen auf die aktuelle Woche; sind Sie regelmäßig zu Fuß unterwegs?“; zu Fuß in Min=„Wie viele Minuten pro Woche sind Sie zu Fuß unterwegs?“ (zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Spazieren oder Wandern); Mit Rad=„Bezogen auf die aktuelle Woche; sind Sie regelmäßig mit dem Rad unterwegs?“; Mit Rad in Min=„Wie viele Minuten pro Woche sind Sie mit dem Rad unterwegs?“ (Heimtrainer, Radtouren, zur Arbeit oder zum Einkaufen; Muskelaufbau=„Wie viele Minuten pro Woche führen Sie derzeit Kraftsport durch?“; Sport=„Wie viele Minuten pro Woche bewegen Sie sich derzeit mit mittlerer und höherer Intensität?“ (Joggen, Walken, Tanzen, Radfahren, etc,); Garten=„Wie viele Minuten verbringen Sie derzeit pro Woche mit Gartenarbeit?“+„Wie viele Minuten verbringen Sie derzeit pro Woche zur Ruhe und Erholung im Garten?“; Hobbys=„Wie häufig gehen Sie üblicherweise in Ihrer Freizeit nicht-sportlichen Aktivitäten/Hobbys nach, die Sie genießen können oder Sie entspannen (Musizieren, Lesen, Handarbeiten, etc.)?“; Entspannung=„Wie häufig nutzen Sie derzeit Entspannungsmethoden im Alltag (PMR, Autogenes Training, Yoga etc.)?“; Zigarettenanzahl=„Wie viele Zigaretten rauchen Sie pro Tag?“ ; Rauchen=„Rauchen Sie aktuell?“ a=Exakter Test nach Fisher; *** p<0,001, **p<0,01, *p<0,05

In der subjektiven Veränderung des Lebensstiles zum Zeitpunkt des Lockdowns im Vergleich zu vor der COVID-19-Pandemie zeigte sich ein signifikanter Gruppenunterschied in der Veränderung der allgemeinen Leistungsfähigkeit bei Menschen mit bipolarer Erkrankung im Vergleich zur Kontrollgruppe ([Abb. 1]); (χ²(2)=6,06, p=0,047, Φ=0,28). Auch die Variable Gewichtsveränderung war im Gruppenvergleich signifikant (χ²(2)=9,470, p=0,006, Φ=0,36) ([Abb. 2]). Ebenfalls gaben Patient*innen mit (65,7%) signifikant öfter an, psychische Veränderungen (χ²(2)=4,95, p=0,037, Φ=−0,26) durch die Corona-Virus-Pandemie zu bemerken (im Gegensatz zur Kontrollgruppe mit 40,0%). In der Art der Veränderung (positiv/negativ) konnte jedoch kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen gefunden werden. Patient*innen gaben im Fragebogen mittels Kommentarfunktion bezüglich der negativen psychischen Auswirkung Folgendes an: „Sie fühlten sich eingeschränkt, eingesperrt, isoliert, gelangweilt und die realen sozialen Kontakte fehlten ihnen“. „Zur bipolaren Erkrankung kam zusätzlich Dauerstress hinzu. Sie fanden vieles beängstigend, das Zu-Hause-Lernen fiel ihnen schwer und sie hatten große Angst, schwer depressiv zu werden“. Ebenso gaben sie an, dass sie sich in der Wohnsituation mit aggressiven Familienmitgliedern gefangen fühlten. Für Ältere hingegen war es schwer, ihre Kinder und Enkelkinder nicht zu sehen. Die Proband*innen der bipolaren Gruppe gaben zudem an, weniger leistungsfähig zu sein (42,9%) im Vergleich zur Kontrollgruppe (17,5%). In den Variablen Aktivitätsveränderung, Hobbys, Tagesstruktur, Ernährungsgewohnheiten, Alkoholkonsum und Rauchverhalten konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen Patient*innen und Kontrollpersonen gefunden werden. Die Mehrheit der Patient*innen (53,8%) gab an, im Gegensatz zu vor der Krise mehr zu rauchen, ebenso die Hälfte der Kontrollgruppe (50,0%). Entgegen den Erwartungen gaben (22,9%) der Kontrollpersonen an, mehr Alkohol zu trinken, bei den Patient*innen waren es nur (4,5%). Der überwiegende Anteil der gesamten Stichprobe berichtete, einen vollständigen oder einen teilweise strukturierten Tagesablauf zu haben.

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Abb. 2 subjektive Veränderung der Gewichtsveränderung; Fragestellung=„Hat sich Ihr Gewicht in der Zeit der Ausgangsbeschränkung/Quarantäne verändert?“ Antwort=nein, keine=nein, keine gröbere Gewichtsveränderung; Ja, abgenommen=Ja, ich habe mehr als 5 Kilogramm abgenommen; Ja, zugenommen=Ja, ich habe mehr als 5 Kilogramm zugenommen; N=Teilnehmer*innen-Anzahl ; Patient*innengruppe = Personen mit bipolarer Störung, Kontrollgruppe = Personen ohne bipolare Störung
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Abb. 3 Food Craving Gesamtwert, Veränderung über die Zeit von Zeitpunkt der Erstvisite bis zum Zeitpunkt April 2020. Dargestellt sind die Mittelwerte beider Gruppen. N=Teilnehmer*innen-Anzahl ; Patient*innengruppe = Personen mit bipolarer Störung, Kontrollgruppe = Personen ohne bipolare Störung.

Eine ANCOVA mit Messwiederholung (kontrolliert für Alter, Geschlecht und Zeitunterschied zwischen Messzeitpunkt 1 und 2) zeigte einen signifikanten Zeiteffekt im Food Craving (F(1/20)=12,24, p=0,002, η²=0,380) dahingehend, dass Food Craving insgesamt über die Zeit abnahm. Es gab einen signifikanten Gruppeneffekt (F(1/20)=5,63, p=0,028, η²=0,220), aber die Wechselwirkung Zeit x Gruppe war nicht signifikant (F(1/20)=0,51, p=0,485, η²=0,025). Insgesamt war die Stichprobe für diese Berechnung mit 11 bipolaren Patient*innen und 14 Kontrollpersonen sehr klein (siehe [Abb. 3]).

Tab. 4 Korrelationen zwischen den Lebensstilvariablen (zu Fuß gehen, Sport, Kraftsport, Gartenarbeit, Zigaretten), den Food Craving Subskalen und den psychischen Auswirkungen (COVID-19-Angst, emotionale Belastung durch soziale Distanzierung und BDI-II) im April 2020.

PG

KG

COVID-19- Ängste

Emotionale Belastung

BDI-II

COVID-19- Ängste

Emotionale Belastung

BDI-II

Lebensstil

Zu Fuß in Min

r=− 0,16

r=− 0,24

r=−0,30

r=0,21

r=0,21

Sport

r=− 0,05

r=− 0,11

r=0,06

r=− 0,06

r=0,11

r=− 0,02

p=0,375

p=0,163

p=0,097

p=0,203

p=0,184

p=0,547

p=0,786

p=0,550

p=0,738

p=0,729

p=0,515

p=0,926

Kraftsport

r=0,16

r =− 0,35*

r = 0,43*

r=− 0,07

r=0,13

r=− 0,15

p=0,378

p =0,042

p= 0,010

p=0,658

p=0,431

p=0,345

Gartenzeit

r=− 0,01

r=− 0,12

r=0,09

r=0,050

r =− 0,31*

r =− 0,32*

p=0,938

p=0,483

p=0,613

p=0,766

p= 0,049

p= 0,048

Zigaretten

r =−  0,75**

r=− 0,37

r=0,39

r=0,40

r=0,11

r=− 0,95

p= 0,005

p=0,235

p=0,207

p=0,600

p=0,895

p=0,051

FC-Summe

r=− 0,15

r=0,17

r=0,27

r=0,30

r=0,12

r=0,30

p=− 0,418

p=0,368

p=0,158

p=0,062

p=0,462

p=0,073

FC-Süßes

r=− 0,06

r=0,26

r =0,47*

r =0,36*

r=0,29

r=0,30

p=0,743

p=0,174

p= 0,009

p= 0,023

p=0,076

p=0,063

FC-Fat

r=0,04

r=0,22

r=−0,2

r=0,23

r=−0,10

r=0,12

p=0,833

p=0,237

p=0,908

p=0,168

p=0,560

p=0,452

FC-Fastfood

r=− 0,11

r=0,18

r=0,10

r=0,29

r=− 0,11

r=0,13

p=0,561

p=0,351

p=0,616

p=0,078

p=0,523

p=0,424

FC-Kohlen-hydrate

r=− 0,13

r=0,02

r=0,13

r=0,26

r=0,13

r=0,21

p=0,509

p=0,934

p=0,482

p=0,113

p=0,415

p=0,202

Notiz: PG=Patient*innengruppe; KG=Kontrollgruppe; *p<0,05; **p<0,01

Korrelationen

In der Patient*innengruppe bestand im Kraftsport eine negativ moderate Beziehung mit der emotionalen Belastung durch soziale Distanzierung (r(33)=− 0,35*, p=0,042) und dem BDI-II-Wert (r(33)=− 0,43*, p=0,010). Der Zigarettenkonsum korrelierte negativ mit den COVID-19-Ängsten (r(10)=− 0,75*, p=0,005). FC-Süßigkeiten korrelierte stark mit dem BDI-II-Wert (r(28)=0,47*, p=0,009). In der Kontrollgruppe konnte man moderate Korrelationen der Gartenzeit mit den Variablen emotionaler Belastung durch soziale Distanzierung (r(38)=− 0,31*, p=0,049) und dem BDI-II-Wert (r(38)=− 0,32*, p=0,048) feststellen. In der Kontrollgruppe korrelierte FC-Süßigkeiten (r(37)=0,36*, p=0,023) moderat mit den COVID-19-Ängsten. Die Korrelationen zwischen den Lebensstilvariablen (zu Fuß gehen, Sport, Kraftsport, Gartenarbeit, Zigaretten) und dem Food Craving (Fett Craving, Fast-Food Craving, Kohlenhydrat Craving und Süßigkeiten Craving) mit den psychischen Auswirkungen (COVID-19-Ängste, emotionale Belastung, BDI-II) lieferten nach der Bonferroni Korrektur (0,05/15=0,003) keine signifikanten Ergebnisse in beiden Gruppen [Tab. 4].


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Diskussion

Die vorliegende Studie untersuchte Unterschiede in Bezug auf verschiedene Lebensstilvariablen zwischen Menschen mit bipolarer Erkrankung und einer gesunden Kontrollgruppe zu Beginn der COVID-19-Pandemie im April 2020, während des ersten österreichischen Lockdowns. Wie erwartet, gab die überwiegende Mehrheit beider Gruppen an, dass sich die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen auf die psychische Gesundheit auswirkten. Menschen mit bipolarer Erkrankung gaben zudem im Vergleich zur Kontrollgruppe an, durch die soziale Distanzierung emotional noch mehr belastet zu sein. Hinsichtlich der erhobenen Lebensstilvariablen (wie körperliche Aktivität, Substanzkonsum, Gartenarbeit, Entspannungsmethoden, Hobbys, Gewichtsveränderungen, Tagesstruktur, Leistungsfähigkeit oder Ernährungsgewohnheiten) zeigte sich, dass Menschen mit bipolarer Störung im Vergleich zur Kontrollgruppe während des Lockdowns weniger Sport betrieben und mehr rauchten. Wir vermuten hier eine kompensatorische Handlung aufgrund der Pandemie, die genauen Motive für den erhöhten Nikotinkonsum können jedoch nicht restlos geklärt werden. Darüber hinaus gaben bipolare Patient*innen an, subjektiv mehr an Gewicht zugenommen zu haben und weniger leistungsfähig zu sein. In den anderen Variablen – Alkoholkonsum, Tagesstruktur, Aktivitätsveränderung, Rauchverhalten, Gartenarbeit, Entspannungsmethoden, Hobbys und Ernährungsgewohnheiten – fanden sich keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.

Menschen mit bipolarer Störung berichteten in unserer Erhebung im Gegensatz zu Gesunden über eine höhere Gewichtszunahme während der COVID-19-Pandemie und darüber, weniger Sport zu betreiben. Die subjektiv eingeschätzte Gewichtsveränderung (Zu- oder Abnahme) von mehr als fünf Kilogramm erscheint in einer kurzen Zeitspanne von 3 bis 4 Wochen relativ hoch. Gewichtsschwankungen von ein bis zwei Kilogramm fallen in der Regel nicht unbedingt auf, weshalb bewusst dieser Wert gewählt wurde. Luo et al. (2018) fanden in ihrer Studie heraus, dass Frauen im Durchschnitt ihr Gewicht niedriger angeben; das hängt unter anderem auch mit Alter, Bildung, Ethnie und BMI zusammen [31]. Die Neigung zu Gewichtszunahme ist nicht verwunderlich, da Ergebnisse früherer Untersuchungen zeigen, dass Patient*innen mit bipolarer Erkrankung meist einen höheren BMI aufweisen als Kontrollpersonen [21] [32]. Zum einen kann die Vulnerabilität für Gewichtszunahme durch geringere Aktivität zu sehen sein [33] und zum anderen nehmen Patient*innen mit bipolarer Störung auch häufig im Verlauf ihrer Erkrankung an Gewicht zu. Unter anderem kann die Gewichtszunahme als Nebenwirkung mancher Psychopharmaka gesehen werden, jedoch ist das Phänomen überwiegend multifaktoriell [34] und auch bei Patient*innen ohne medikamentöse Therapie zu beobachten [35]. Menschen mit bipolarer Erkrankung und Übergewicht haben einen schwereren und längeren Krankheitsverlauf zu verzeichnen [22] [36]. Laut einer aktuellen Studie von Marchitelli et al. (2020) [37] gaben 66% der Teilnehmer*innen mit einer psychiatrischen Diagnose und Adipositas eine Gewichtszunahme während der Quarantäne-Zeit an. Diese Patient*innen wiesen im Vergleich zu Gesunden mit Übergewicht erhöhte psychische Symptome (unter anderem Depressionen, Stress und Ängste) auf. Die Autor*innen führten die Gewichtszunahme auf erhöhtes „Binge-Eating“-Verhalten während des Lockdowns zurück. Binge-Eating-Verhalten wurde in der vorliegenden Studie nicht gemessen, allerdings wurde Food Craving als Indikator für erhöhte Nahrungsaufnahme und Gewichtszunahme erhoben [38]. Im Gegensatz zu Marchitelli et al. (2020) berichteten die Teilnehmer*innen dieser Untersuchung zum Zeitpunkt des Lockdowns über eine reduzierte Häufigkeit des Food Cravings im Gegensatz zu davor. Einen Rückgang des Verlangens nach fetten und süßen Speisen bei jungen Frauen publizierten auch Freitas et al. (2021) in einer Online-Studie während der COVID-19-Pandemie [39]. Die Autor*innen schlussfolgerten, dass die Teilnehmer*innen seltener das Eigenheim verließen und so mehr Verlangen nach traditionellen Speisen hatten, wodurch das Verlangen nach Süßem abnahm [39]. Es zeigte sich während des ersten Lockdowns in unserer Studie auch kein Unterschied im intensiven Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln (Fett Craving, Fast-Food Craving, Kohlenhydrat Craving und Süßigkeiten Craving) zwischen bipolaren Patient*innen und Kontrollpersonen. Auch im Ernährungsverhalten verzeichneten die beiden Gruppen keinen signifikanten Unterschied zum Zeitpunkt der Pandemie April 2020. Der überwiegende Anteil beider Gruppen gab an, ihre Ernährungsgewohnheiten nicht verändert zu haben. Aufgrund der Zusammenhänge zwischen bipolarer Störung und Übergewicht [21] sollten Ernährungsverhalten und Food Craving jedenfalls im Verlauf der COVID-19-Pandemie mit einer größeren Teilnehmer*innenzahl weiter untersucht werden. Möglicherweise nahmen an der vorliegenden Untersuchung nur Patient*innen mit bipolarer Erkrankung teil, die in einem besseren Gesundheitszustand waren, wodurch keine Effekte zu finden waren.

Hinsichtlich der sportlichen Aktivität konnten wir zeigen, dass Menschen mit bipolarer Erkrankung über weniger Kraftsport während des Lockdowns berichteten und weniger mittlere und intensive Sporteinheiten betrieben als die Kontrollgruppe. Die Literatur zeigte, dass Kraftsport die depressive Symptomatik vermindern kann [29]. Demzufolge sind weitere Studien notwendig, um zu klären, ob regelmäßiger Kraftsport auch eine geeignete Präventionsmaßnahme gegen depressive Stimmung während der COVID-19-Pandemie sein kann. In der Patient*innengruppe fanden wir im Kraftsport eine negativ moderate Beziehung mit der emotionalen Belastung durch soziale Distanzierung und dem BDI-II-Wert. Dies ist allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, denn nach der Bonferroni-Korrektur waren die Zusammenhänge nicht mehr signifikant. Umgekehrt könnte auch die aktuelle psychische Symptomatik von Menschen mit bipolarer Erkrankung einen Einfluss auf das Aktivitätsverhalten gehabt haben. Dies kann jedoch mit der vorliegenden Studie nicht beantwortet werden. Während des Lockdowns waren sämtliche Sporteinrichtungen und die Bundesgärten geschlossen [3], das könnte auch wesentlich dazu beigetragen haben, dass wir Unterschiede im Kraftsport und im Sport fanden. Wo die Proband*innen normalerweise ihre Krafteinheiten absolvierten (zu Hause mit Fitnessgeräten oder in den Fitnesscentern) und ob sie Fitnessverträge hatten, wurde im Zuge der Studie nicht abgefragt, könnte aber auch Einfluss auf die Minutenangabe gehabt haben. Die Sportvariable konzentrierte sich aufs Joggen, Walken, Tanzen und Rad fahren, diese Sportarten sind in der freien Natur auch gut möglich. Viele Österreicher*innen nutzten vermutlich aufgrund der Zunahme von Freizeit ihre Zeit für sportliche Aktivitäten.

Eine Metaanalyse von Vancampfort et al. (2017) zeigte, dass psychisch schwer erkrankte Personen durchschnittlich 476 min pro Tag in sitzender Tätigkeit verbringen. Außerdem sind sie nur 38,4 Minuten pro Tag mäßig oder stark körperlich aktiv [33]. Die Reduktion mittlerer und intensiver Sporteinheiten geht mit der Einnahme von Antidepressiva, männlichem Geschlecht, Arbeitslosigkeit, nicht vorhandenem Nikotinkonsum und Isolierung einher. Nur die Hälfte der psychisch Erkrankten erreichte das von der WHO definierte Ziel von 150 Minuten mäßiger sportlicher Aktivitäten pro Woche in der Zeit vor der Pandemie [33]. Auch in dieser Studie während des Lockdowns bewegten sich die befragten Patient*innen zu wenig (104,29 min Sport mit mittlerer und höherer Intensität sowie 45 min Kraftsport). Da wir wissen, dass sitzendes Verhalten bei bipolaren Menschen zu einer Steigerung der Symptomlast (mehr Stimmungsstörungen, Schlafstörungen und Ängste) führen kann, vermuten wir, dass die eingeschränkte Aktivität sich zusätzlich negativ auf die Patient*innen ausgewirkt haben könnte. Demgegenüber steht vermehrte körperliche Aktivität mit Gewichtsabnahme und gesteigerter Leistungsfähigkeit (kognitiv, zwischenmenschlich, beruflich) in Zusammenhang [40].

Diese Studie zeigte bezüglich des Substanzkonsums, dass Menschen mit bipolarer Erkrankung im Vergleich zur Kontrollgruppe während des Lockdowns im April 2020 mehr Zigaretten pro Tag rauchten, auch vor der Pandemie kam man zu diesem Ergebnis [16]. Reddy et al. (2020) [41] fanden in einer Metaanalyse heraus, dass Raucher*innen ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf durch COVID-19 haben. Laut Thornton et al. (2017) [30] ist für Menschen mit psychischen Erkrankungen der Konsum von Substanzen (Alkohol und Tabak) eine mögliche Bewältigungsstrategie, um besser mit negativen Auswirkungen wie Stress, Heißhunger, Langeweile und Einsamkeit umzugehen. Möglicherweise ist der Tabakkonsum aber auch eine Bewältigungsstrategie gegen COVID-19-Ängste, denn der Zigarettenkonsum korrelierte negativ mit den COVID-19-Ängsten. Dieser Wert war nach der Bonferroni-Korrektur nicht mehr signifikant, und somit ist auch dieses Ergebnis mit Vorsicht zu interpretieren. Unsere Daten zeigten allerdings, dass es keine Unterschiede im subjektiven Rauchverhalten zwischen Patient*innen und Kontrollpersonen gab. Auch der Alkoholkonsum unterschied sich nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen. Die Kontrollgruppe gab sogar an, mehr Alkohol als vor der Pandemie zu konsumieren. Ein gesteigerter Alkoholkonsum während des Lockdowns steht mit erhöhten Ängsten und Depressionen im Zusammenhang [42]. Anzumerken ist auch, dass die Veränderung mancher Lebensstilvariablen aufgrund der Maßnahmen abrupt erfolgte. Da die Literatur in Bezug auf den ersten Lockdown noch rar ist, finden wir es sehr interessant, die ersten subjektiven Folgen abbilden zu können. Da es zum Zeitpunkt der Studie nicht absehbar war, wie und wie lange der Lockdown dauern würde und die Pandemie-Situation für alle Menschen eine völlig neue Herausforderung darstellte, war es unser Hauptziel, die Anpassungsleistung von Menschen mit bipolarer Erkrankung an den ersten Lockdown und die herausfordernde Situation zu untersuchen und eine Momentaufnahme dieser vulnerablen Proband*innengruppe zu schaffen. Zum Thema psychische Auswirkungen gab die Mehrheit der bipolaren Teilnehmer*innen unserer Studie an, dass sich die Pandemie auf die psychische Situation auswirkte. In der Art der Auswirkung (negativ/positiv) zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Andere Studien beschrieben, dass eine Pandemie und damit einhergehende Lockdowns, Isolation und Ängste überwiegend negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden hätten [7]. In unserer Studie konnten wir jedoch keinen Unterschied in den COVID-19-Ängsten zwischen den Gruppen finden. González-Blanco et al. (2020) [43] fanden in ihrer Studie heraus, dass Ängste bei Menschen mit schweren psychischen Störungen im Gegensatz zu Kontrollpersonen höher ausfallen. Die emotionale Belastung durch soziale Distanzierung unterschied sich signifikant zwischen den beiden Gruppen und fiel bei Teilnehmer*innen mit bipolarer Erkrankung höher aus. Hierbei wurde speziell nach emotionalen Belastungen wie Einsamkeit, Langeweile, Frustration, Ängstlichkeit und Hoffnungslosigkeit durch die sozialen Distanzierungsmaßnahmen gefragt. Orhan et al. (2021) [44] fanden heraus, dass Einsamkeit mit einer schwereren depressiven Symptomatik und Ängsten einhergeht. Auch in der Studie von Franchini et al. (2020) [45], welche 101 Teilnehmer*innen einschloss (darunter 49 bipolare Patient*innen), waren Frustration und Langweile mit 76% die größten Stressoren während der COVID-Pandemie, aber auch die Angst vor einer Infektion und psychische Ängste waren mit über 40% sehr hoch. Menschen mit bipolarer Störung waren zudem zum Beginn der Pandemie depressiver als Kontrollpersonen, das entspricht anderen Studienergebnissen [6]. Höhere BDI-II Werte finden sich bei bipolaren Patient*innen im Vergleich zu Kontrollpersonen jedoch auch pandemieunabhängig [46].

Im Hinblick auf die Zukunft sollte der Lebensstil von Menschen mit bipolarer affektiver Störung noch weiter während der andauernden Pandemie erforscht werden und auch die Langzeitfolgen auf den Lebensstil sollten genau untersucht werden. Als Folge von Stress und Belastung durch die COVID-19-Pandemie könnte der Substanzkonsum noch weiter steigen und auch Auswirkungen auf die körperliche Aktivität und damit einhergehende Gewichtszunahme sind zu erwarten. Zudem sind Menschen mit bipolarer Störung meistens durch Komorbiditäten vorbelastet. Die Pandemie und deren Konsequenzen könnte die körperliche Gesundheit dieser Personengruppe zusätzlich gefährden und dadurch könnte die Lebenserwartung weiter abnehmen. Zudem sind auch negative Effekte auf den Krankheitsverlauf möglich.

Verschiedene Patient*innen(schulungs)programme zum Thema sportliche Aktivität und Ernährungsverhalten könnten einen gesunden Lebensstil fördern und sind auch in Zeiten sozialer Distanzierung über Online-Tools durchführbar. Somit ließen sich negative gesundheitliche Folgen minimieren und die Lebensqualität verbessern, sofern die Bereitschaft zur Erhaltung und das Bewusstsein für einen gesunden Lebensstil bei bipolaren Patient*innen gestärkt wird [47]. Aufgrund unserer Ergebnisse empfehlen wir, Raucherentwöhnungsprogramme dringend in die Therapie psychisch kranker Menschen zu integrieren und besonders während der weltweiten Pandemie vermehrt anzubieten. Die Metaanalyse von Pearsall et al. (2019) [48] evaluierte verschiedene Arten der Unterstützung von Raucherentwöhnungsprogrammen bei Menschen mit schweren psychischen Störungen und zeigten gute Effekte des Medikaments Vareniclin zur Raucherentwöhnung.

Eine ideale Lösung zur Behandlung von Angstzuständen und Stimmungsstörungen in Zeiten, die von sozialer Isolation geprägt sind, wären Online-Videokonferenzen mit den Behandler*innen, sofern kein psychiatrischer Notfall vorliegt [49].


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Einschränkungen/Limitationen

Die vorliegende Studie unterliegt einigen Limitationen. Als Erstes gilt zu nennen, dass die Durchführung online stattgefunden hat. Eine objektive Fremdbeurteilung der aktuellen psychischen Symptomatik (stabil bipolar, bipolar depressiv, bipolar hypoman oder bipolar manisch) der Patient*innen durch eine*n Psychiater*in/Psycholog*in war somit nicht möglich, dennoch handelt es sich bei allen Teilnehmer*innen um regelmäßig behandelte Patient*innen der Spezialambulanz für bipolare Störungen. Darüber hinaus möchten wir ergänzen, dass die Symptomatik durch das Online-Format der Studie mit Fragebögen zur Selbstbeurteilung erhoben wurde und selbsteingeschätzte Symptomatik bei bipolaren Patient*innen oft durch soziale Erwünschtheit oder verzerrte Antworttendenzen eingeschränkt interpretierbar ist. Darüber hinaus war die Reliabilität gering [50], weshalb wir darauf verzichtet haben, die klinische Symptomatik zu berücksichtigen. Die erhobenen Variablen wurden während des ersten österreichischen Lockdowns zu Beginn der Pandemie erhoben. Es fehlen allerdings Prä-Pandemie-Daten, weswegen wir nicht ausschließen können, dass die Unterschiede zwischen Patient*innen und Kontrollpersonen nicht schon vor dem Lockdown bestanden haben. Die selbst erstellten Fragebögen zum Lebensstil, zu den COVID-19-Ängsten und der emotionalen Belastung durch soziale Distanzierung sind nicht-standardisiert, es existieren keine Referenzwerte und die Lebensstilvariablen beruhen auf selbst geschätzten subjektiven Angaben. In der Studie wurde zudem nicht abgefragt, wie viele Personen vor dem Lockdown Sporteinrichtungen besuchten. Die Stichprobe war mit 75 Teilnehmer*innen (davon 35 Patient*innen) zu klein, um eine Subgruppenunterteilung (BP-I und BP-II) vorzunehmen. Die Datenbank umfasste 570 potenzielle Teilnehmer*innen, die für die Online-Studie angeschrieben wurden. Insgesamt nahmen aber nur 101 Personen (49 Patient*innen, 49 Kontrollpersonen der BIPLONG-Studie und 3 unbekannte Teilnehmer*innen) teil, wovon 25 Personen nicht alles vollständig ausgefüllt haben. Außerdem ist zu erwähnen, dass der Beobachtungszeitraum sehr kurz war und zu einem Zeitpunkt zu Beginn der Pandemie gewählt wurde, um die unmittelbaren Auswirkungen des Lockdowns unter möglichst gleichbleibenden externen Bedingungen zu untersuchen, denn kurz nach Ende der Umfrage wurden die Maßnahmen wieder gelockert, was diesem Ziel entgegengewirkt hätte. Eine weitere Limitation ist der signifikante Altersunterschied zwischen Kontrollgruppe und Patient*innengruppe. Um dies auszugleichen, wurde die ANCOVA mit Messwiederholung für die Variablen Alter, Geschlecht und Zeitunterschied statistisch korrigiert. Die Korrelationen sind zwar statistisch signifikant, aber mit Vorsicht zu interpretieren, denn im Lockdown waren Gärten und Sporteinrichtungen geschlossen, zudem war die Patient*innengruppe im Durchschnitt 16 Jahre älter. Nach der Bonferroni-Korrektur waren die Korrelationen nicht mehr signifikant. Die Lebensstilparameter wurden im Rahmen der longitudinalen BIPLONG-Studie vor der Pandemie nicht abgefragt, jedoch deuten die Angaben zu subjektiven Lebensstilveränderungen auf eine negative Veränderung hin. Durch eine objektive Messung des Food Cravings zwischen zwei Messzeitpunkten vor und während der Pandemie können zumindest Aussagen getroffen werden. Jedoch wurden diese Berechnungen mit einer kleineren Stichprobe durchgeführt, folglich sind die Daten somit eingeschränkt zu interpretieren.


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Konklusion

Diese Studie gibt erste Hinweise auf einen selbstberichteten ungünstigeren Lebensstil bei Menschen mit bipolarer Erkrankung im Vergleich zur Kontrollgruppe im April 2020. Patient*innen mit bipolarer Störung gaben an, mehr als die Allgemeinbevölkerung unter der Pandemie zu leiden. Durch diese Studie soll die Aufmerksamkeit auf die psychosoziale Problematik von Menschen mit psychischen Erkrankungen während Krisenzeiten gelenkt und aufgezeigt werden, dass eine gute psychiatrische/psychologische Betreuung die Behandlung von ungünstigen Lebensstilvariablen unbedingt einschließen sollte. Um einen gesunden Lebensstil in dieser vulnerablen Personengruppe zu fördern, könnte man Patient*innen eine gesündere Ernährung, Sportprogramme und Suchtentwöhnungsprogramme über Online-Programme nahelegen.


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Finanzielle Unterstützung

Die vorliegende Forschungsstudie erhielt keinen finanziellen Zuschuss aus dem öffentlichen, kommerziellen oder gemeinnützigen Sektor.


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Interessenkonflikt

Alle Autorinnen/Autoren dieser Studie erklären keinen Interessenkonflikt.


Korrespondenzadresse

Research Prof. Priv.-Doz. DDr. Susanne A. Bengesser
Medical University Graz
Psychiatry
Auenbruggerplatz 31
8036 Graz
Austria   
Phone: 004331638586224   
Fax: 004331638586224   

Publication History

Received: 13 April 2021

Accepted: 23 May 2022

Article published online:
26 July 2022

© 2022. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 subjektive Veränderung der Leistungsfähigkeit; Fragestellung = „Wie schätzen Sie Ihre derzeitige Leistungsfähigkeit (im Beruf, im Haushalt, etc.), im Vergleich zu vor dem COVID-Ausbruch, ein?“ Antwort=ich bin gleich leistungsfähig, wie vor dem COVID-Ausbruch; ich bin jetzt weniger leistungsfähig; ich bin jetzt leistungsfähiger; N=Teilnehmer*innen-Anzahl; Patient*innengruppe=Personen mit bipolarer Störung, Kontrollgruppe=Personen ohne bipolare Störung
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Abb. 2 subjektive Veränderung der Gewichtsveränderung; Fragestellung=„Hat sich Ihr Gewicht in der Zeit der Ausgangsbeschränkung/Quarantäne verändert?“ Antwort=nein, keine=nein, keine gröbere Gewichtsveränderung; Ja, abgenommen=Ja, ich habe mehr als 5 Kilogramm abgenommen; Ja, zugenommen=Ja, ich habe mehr als 5 Kilogramm zugenommen; N=Teilnehmer*innen-Anzahl ; Patient*innengruppe = Personen mit bipolarer Störung, Kontrollgruppe = Personen ohne bipolare Störung
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Abb. 3 Food Craving Gesamtwert, Veränderung über die Zeit von Zeitpunkt der Erstvisite bis zum Zeitpunkt April 2020. Dargestellt sind die Mittelwerte beider Gruppen. N=Teilnehmer*innen-Anzahl ; Patient*innengruppe = Personen mit bipolarer Störung, Kontrollgruppe = Personen ohne bipolare Störung.