Schlüsselwörter Krebs - COVID-19 - Pandemie - Distress - Psychosoziale Bedürfnisse
Key words cancer - COVID-19 - pandemic - distress - psychosocial needs
Hintergrund
Weltweit sind Menschen im Rahmen der COVID-19-Pandemie einer Bedrohung ihrer körperlichen
und psychischen Gesundheit ausgesetzt [1 ]
[2 ]. Studien zur psychischen Belastung in der Allgemeinbevölkerung zeigen, dass Stress,
Angst- und Depressionssymptome seit Beginn der Corona-Pandemie gestiegen sind [3 ]
[4 ]. Für Krebspatientinnen und -patienten stellen die veränderten Bedingungen eine besondere
Herausforderung dar. Zum einen sind sie aufgrund ihrer Erkrankung bereits mit psychosozialen
Belastungen konfrontiert. Etwa die Hälfte der Krebspatienten berichtet eine klinisch
bedeutsame psychische Beeinträchtigung [5 ]
[6 ]. Zum anderen zählen viele von ihnen zur Risikogruppe. Insbesondere bei Patienten
mit einem geschwächten Immunsystem ist das Risiko für einen schweren Verlauf im Falle
einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 erhöht und die Notwendigkeit einer gewissenhaften
Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen geboten [7 ]
[8 ]
[9 ]. Auch von strukturellen Anpassungen im Gesundheitssystem sind Krebspatientinnen
und -patienten vielfach unmittelbar betroffen, etwa wenn es zu Verschiebungen der
Therapie kommt oder der Zugang zu psychologischen Unterstützungsangeboten eingeschränkt
ist [10 ]
[11 ]
[12 ].
Studien zur Situation von Krebspatienten während der „ersten Welle“ legen nahe, dass
die psychische Belastung im Vergleich zu vor der Pandemie leicht gestiegen ist [13 ]. Auch Corona-spezifische Ängste, wie z. B. Sorgen hinsichtlich der weiteren Therapie
der Krebserkrankung während der Pandemie, betreffen viele [14 ]
[15 ].
Das Ziel der vorliegenden Studie ist, die Informationsbedürfnisse, das wahrgenommene
Risiko, die psychosozialen Belastungen sowie die Impfbereitschaft von ambulanten Krebspatienten
im Rahmen der „zweiten Welle“ der COVID-19-Pandemie (November 2020 bis Februar 2021)
zu untersuchen.
Methoden
Design und Prozedere
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Querschnittstudie mit einer konsekutiv
erhobenen Stichprobe von Krebspatientinnen und -patienten, die sich im Comprehensive
Cancer Center München (CCC München) in ambulanter oder tagesklinischer Behandlung
befanden. Die Patienten wurden im Rahmen ihres ambulanten Termins von Mitarbeiterinnen
des Studienteams für eine Studienteilnahme angesprochen. Voraussetzungen für die Studienteilnahme
waren eine gesicherte Tumordiagnose sowie ein Alter von mindestens 18 Jahren. Ausschlusskriterien
waren Rezidivfreiheit > 10 Jahre, eine schwere psychiatrische Erkrankung, fehlende
Einwilligungsfähigkeit und unzureichende Deutschkenntnisse. Alle Patienten gaben ihr
schriftliches Einverständnis zur Studienteilnahme. Nach erfolgter Aufklärung und Einwilligung
wurden die Patienten telefonisch oder persönlich anhand eines ca. 30-minütigen standardisierten,
halbstrukturierten Interviews befragt. Studienteilnehmer, die einer erneuten Kontaktaufnahme
zugestimmt hatten, wurden zwischen Dezember 2020 und Februar 2021 erneut kontaktiert
und hinsichtlich ihrer Impfbereitschaft befragt. Die Studie wurde nach den ethischen
Standards der Deklaration von Helsinki konzipiert und durchgeführt. Die Ethikkommissionen
beider Universitätskliniken des CCC München gaben ein positives Votum (LMU Klinikum:
20–615, MRI: 390/20 S).
Instrumente
Für die vorliegende Studie wurden im interdisziplinären Expertenkonsens Items entwickelt
und in einem mehrstufigen Reflexionsprozess verdichtet und revidiert. Die Items sollten
sich auf die Bereiche Wissensstand und Informationsbedürfnisse, Risikowahrnehmung
und Sorgen, COVID-19-bezogene Sorgen sowie auf die Impfbereitschaft beziehen. Ein
Item galt als konsentiert, wenn die Expertengruppe (AD, FM, TF, TP) übereinstimmte,
dass das Item verständlich und inhaltsvalide war (vollständiger Fragebogen siehe Fragebogen-Supplement).
Die Mehrzahl der Fragen wurde mittels vorgegebener Antwortkategorien (5-stufige Likert-Skalierung)
erhoben, zusätzlich wurden offene Fragen mit der Möglichkeit zu Freitextantworten
genutzt. Die krebsassoziierte Belastung wurde mittels Distress-Thermometer (DT; Cut-off
≥ 5) erfragt [16 ]. Ferner beantworteten die Patienten Fragen zu soziodemografischen Variablen (Geschlecht,
Alter, Familienstand, Kinder, alleinerziehend, Wohnsituation, Bildungsabschluss, Erwerbsstatus,
wirtschaftliche Situation) und medizinischen Variablen (Tumorentität, Krankheitssituation,
Krankheitsdauer, Metastasen, aktuelle Krebsbehandlung, allgemeiner Gesundheitszustand).
Ergänzende Angaben zu Diagnose und Behandlung wurden aus dem klinischen Dokumentationssystem
entnommen.
Statistische Analyse
Die Auswertung der Daten erfolgte mit der Software IBM SPSS Statistics für Windows,
Version 26.0 [17 ]. Dazu wurden deskriptive Analysen (Häufigkeiten, Mittelwerte und Standardabweichungen)
angewandt. Die offen gestellten Fragen wurden anhand der erstellten Mitschrift digitalisiert
und anschließend anhand der Software MAXQDA [18 ] nach deduktiv-induktiver Kategorienbildung zu Kategorien zusammengefasst [19 ]. Aufgrund der persönlichen oder telefonischen Befragung war der Anteil an fehlenden
Werten in vorliegender Stichprobe vernachlässigbar gering und wurde deshalb für die
rein deskriptive statistische Auswertung nicht ersetzt.
Kontext der Studiendurchführung
Die Datenerhebung erfolgte zwischen November 2020 und Februar 2021. In dieser Zeit
herrschte größtenteils ein „Lockdown light“ bzw. ein „strengerer Lockdown“ (ab 11.01.2021)
mit sukzessiv verschärften Kontaktbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen und Einschränkungen
des Bewegungsradius (Bundesland Bayern). Ab dem 18.01.2021 erließ der Freistaat Bayern
die Pflicht zum Tragen einer FFP-2-Maske in bestimmten Situationen (z. B. öffentlicher
Nahverkehr). Am 21.12.2020 erfolgte die Zulassung des ersten Impfstoffs gegen das
Coronavirus Sars-CoV-2.
Ergebnisse
Stichprobe
An der Studie nahmen 122 Patientinnen und Patienten teil. Es liegen keine Daten derjenigen
Patienten vor, welche die Studienteilnahme ablehnten, daher entfällt eine Non-Responder-Analyse.
Von den Befragten waren 55,7 % weiblich (n = 68/122), das Durchschnittsalter betrug
58,5 Jahre (SD = 14,5; Range: 23 bis 87 Jahre). Die häufigsten Tumorentitäten waren
hämatologische Neoplasien (24,6 %, n = 30/122), gastrointestinale Tumoren (20,5 %,
n = 25/122) und Brustkrebs (19,7 %, n = 24/122). Detaillierte Angaben zu soziodemografischen
und klinischen Merkmalen sind in [Tab. 1 ] dargestellt.
Tab. 1
Soziodemografische und klinische Angaben der Teilnehmenden.
Soziodemografische Merkmale
M
SD
Alter
58,5
14,5
n
%
Geschlecht
Weiblich
68
55,7
Männlich
54
44,3
Altersgruppe
≤ 50
36
29,5
51 bis 65
43
35,2
66 bis 75
28
23,0
76 und älter
15
12,3
Familienstand
Ledig
21
17,2
Eingetragene Lebensgemeinschaft/verheiratet
78
63,9
Getrennt lebend/geschieden
17
13,9
Verwitwet
6
4,9
Bildungsabschluss
Volksschule/Hauptschule
15
12,3
Realschule/Mittlere Reife/Berufsfachschule
36
29,5
Meisterabschluss
3
2,5
Hochschulreife/(Fach-)Abitur
14
11,5
Abgeschlossenes Studium
52
42,6
Anderer Schulabschluss/kein Abschluss
2
1,6
Kinder
Ja
91
74,6
Kinder unter 18 Jahren
23
18,9
Nein
31
25,4
Erwerbsstatus[* ]
Erwerbstätig
58
47,5
Arbeitslos
–
–
Hausfrau/Hausmann
3
2,5
In Ausbildung/Lehre
–
–
Im Studium
2
1,6
Berentet/im Ruhestand
53
43,4
Sonstiges
5
4,1
Subjektive wirtschaftliche Situation
Sehr gut
26
21,3
Gut
56
45,9
Zufriedenstellend
30
24,6
Weniger gut
7
5,7
Schlecht
3
2,5
n
%
Klinische Merkmale
Tumorentität
Gastrointestinal
25
20,5
Urogenital
9
7,4
Gynäkologisch
13
10,7
Brust
24
19,7
Kopf/Hals
3
2,5
Haut
3
2,5
Knochen/Weichteile
3
2,5
Endokrine Tumore
2
1,6
Hämatologisch
30
24,6
Sonstige
10
8,2
Krankheitssituation
Ersterkrankung
79
64,8
Rezidiv
20
16,4
Zweittumor/Dritttumor
8
6,6
Remission
14
11,5
Weiß nicht
1
0,8
Metastasen
Ja
53
43,8
Nein
61
50,4
Weiß nicht
7
5,8
Krankheitsdauer
Bis 3 Monate
12
9,8
4 bis 12 Monate
33
27,0
Mehr als 1 Jahr und bis zu 5 Jahre
44
36,1
Mehr als 5 Jahre
33
27,0
Aktuelle Behandlung (letzter Monat)[* ]
Operation
2
1,6
Chemotherapie
53
43,4
Bestrahlung
6
4,9
Hormontherapie
8
6,6
Immuntherapie
11
9,0
Zielgerichtete Therapie/Antikörpertherapie
17
13,9
Sonstige
8
6,6
Keine
33
27,0
Allgemeiner Gesundheitszustand
Ausgezeichnet
3
2,5
Sehr gut
20
16,4
Gut
56
45,9
Weniger gut
35
28,7
Schlecht
8
6,6
Psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung in der Vorgeschichte
Ja, psychosomatische oder psychiatrische Behandlung
22
18,0
Ja, psychoonkologische Behandlung
29
23,8
Nein
71
58,2
M = Mittelwert; SD = Standardabweichung.
* Mehrfachantworten möglich
Wissensstand und Informationsbedürfnisse
Bezüglich ihres Wissensstands zum Coronavirus gaben 43,4 % (n = 53/122) der Patient*innen
an, viel oder sehr viel Wissen zu haben (M = 3,4, SD = 0,9; siehe [Tab. 2 ]).
Tab. 2
Wissensstand der Patientinnen und Patienten zum Coronavirus.
Wissensstand zum neuartigen Coronavirus
Wissensstand bezüglich der Auswirkungen des Coronavirus auf die eigene Erkrankung/Behandlung
n
%
n
%
Sehr viel/viel
53
43,4
25
20,7
Mittel
55
45,1
31
25,6
Etwas/gar kein
14
11,5
65
53,7
Hinsichtlich des Wissensstands über die Auswirkungen des Coronavirus auf die Erkrankung
bzw. Behandlung äußerten 20,7 % (n = 25/121), viel oder sehr viel Wissen zu haben
(M = 2,5; SD = 1,2) ([Tab. 2 ]). 41,8 % (n = 51/122) hatten sich hinsichtlich der Auswirkungen des Coronavirus
auf ihre Krebserkrankung informiert, 16,5 % (n = 20/121) hatten hierzu widersprüchliche
Informationen erhalten. 12,3 % (n = 15/122) fühlten sich durch die verschiedenen Informationen
überfordert.
Über ein Drittel der Patientinnen und Patienten (34,2 %, n = 41/120) hatte noch offene
Fragen bezüglich der Auswirkungen des Coronavirus auf ihre Erkrankung oder die Behandlung.
Am häufigsten betraf dies die Frage, ob eine mögliche Verzögerung oder Veränderung
der Behandlung nachteilig sei (54,1 % stimmten eher oder völlig zu, n = 66/122). Weiterhin
beschäftigte die Patienten, inwiefern sich die Ausbreitung des Coronavirus auf die
Behandlung auswirke (42,7 % Zustimmung, n = 52/122) und wie hoch das Risiko einer
Ansteckung mit dem Coronavirus sei (42,6 % Zustimmung, n = 52/122, siehe [Abb. 1 ]). Die Freitextantworten ließen sich zu 6 Kategorien zusammenfassen (siehe [Tab. 3 ]).
Abb. 1 Informationsbedürfnisse von Krebspatientinnen und -patienten hinsichtlich des Coronavirus
(SARS-CoV-2) (n = 122; *n = 121).
Tab. 3
Antworten der Patientinnen und Patienten auf die Frage „Haben Sie noch Fragen bezüglich
der Auswirkungen des Coronavirus (SARS-CoV-2) auf Ihre Erkrankung oder Behandlung?
Wenn ja, welche? – Ja, nämlich:…“; die Ergebnisse sind in Kategorien mit Ankerbeispielen
zusammengefasst.
Kategorien
n
Beispiele
Allgemeine Fragen
9
Gibt es schon aussagekräftige Studien? (w, 34)
Wie wirkt sich das Virus auf das Immunsystem aus? (m, 56)
Auswirkungen auf Krebserkrankung
11
Was wäre, wenn ich mit dem Krebs Corona bekäme? (w, 67)
Kann die Krebserkrankung durch das Virus aggressiver werden? (w, 66)
Behandlung
9
Wie stark wirkt sich Corona zusätzlich auf Fatigue und Nebenwirkungen der Therapie
aus? (m, 51)
Was kann allgemein passieren, wie verändert sich die Therapie dann? (w, 23)
Was wird vorranging behandelt (Krebs oder COVID) oder kann man beides gleichzeitig
behandeln? (w, 44)
Wie sind die Verfügbarkeiten im Krankenhaus, z. B. bei kurzfristiger OP? (w, 62)
Vorgehen bei SARS-CoV-2-Infektion
4
Was soll ich tun, wenn ich an COVID erkranke? (w, 47)
Ist man auf sich allein gestellt, darf man nicht zum Arzt? (w, 44)
Was wäre, wenn ich mit dem Krebs Corona bekäme? Wie muss ich mich verhalten? (w, 67)
Impfung
9
Inwieweit ist die Impfung für mich persönlich sinnvoll? (w, 49)
Hat COVID/die Impfung Einfluss auf Chemo? Wann kann geimpft werden? (w, 73)
Wie komme ich zur Impfung? (w, 50)
Risikoeinschätzung/Schutzmaßnahmen
7
Welche Zusammenhänge gibt es ggf. mit verschiedenen Verlaufsformen der COVID-19-Erkrankung
bei Vorerkrankten/bei Krebserkrankten? Ist man anfälliger? Kann es einen schweren
Verlauf geben? (m, 44)
In welche Kategorie Risikogruppe falle ich? Kann ich normal am Alltag teilnehmen?
(w, 40)
Wie gehe ich mit meinem Enkel um wegen des Ansteckungsrisikos? (w, 66)
Haben die Medikamente, die ich bekomme, Auswirkungen auf die Ansteckungsgefahr/das
Risiko? (w, 34)
Risikowahrnehmung, Sorgen und Vertrauen in das Gesundheitssystem
Bei 17,2 % (n = 21/122) der Befragten wurde die laufende und/oder die geplante Krebstherapie
verändert. Veränderungen betrafen hauptsächlich eine Verzögerung oder einen Ausfall
von Behandlungsterminen (bei n = 9) sowie eine verzögerte (Kontroll-)Untersuchung,
Rehabilitations- oder supportive Behandlung (n = 5). Bei n = 3 Patienten erfolgte
eine Verzögerung von Behandlungen aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus. Hinsichtlich
der Fortführung der Behandlung unter den aktuellen Bedingungen handelten 97,5 % (n = 119/122)
nach der Empfehlung ihres behandelnden Onkologen. 13,9 % (n = 17/122) machten sich
viele oder sehr viele Sorgen, sich bei einem Behandlungstermin mit dem Coronavirus
anzustecken ([Abb. 2 ]). Von 22,3 % (27/121) wurde eine Infektion als sehr bedrohlich eingeschätzt. Das
Vertrauen in die behandelnden Ärztinnen und Ärzte war hoch (98,4 %, n = 120/122),
wie auch das Vertrauen in die behandelnde Klinik (98,4 %, n = 120/122) und in das
deutsche Gesundheitssystem (87,7 %, n = 107/122) (siehe Abb. 3 im Supplement ).
Abb. 2 Sorgen von Krebspatientinnen und -patienten bezüglich COVID-19 (n = 122; *n = 121).
COVID-19-spezifische Belastungen und Distress
Die häufigste COVID-19-spezifische Belastung war die Angst vor einer Überlastung des
Gesundheitssystems (77,9 % Zustimmung, n = 95/122, siehe Abb. 4–6 im Supplement ), gefolgt von der Befürchtung, dass sich die Angehörigen seit der COVID-19-Pandemie
noch größere Sorgen um die betroffenen Patientinnen und Patienten machten als zuvor
(56,2 % Zustimmung, n = 68/121). Klinisch relevanter krebsassoziierter Distress (erhoben
mittels DT) bestand bei 34,7 % (n = 42/121) der Patienten.
Impfbereitschaft
104 der Patienten (85,2 %) wurden zusätzlich zu ihrer Bereitschaft befragt, sich gegen
COVID-19 impfen zu lassen, sobald der Impfstoff zugelassen und für sie verfügbar ist.
Mehr als zwei Drittel stimmten einer Impfung zu (71,2 %, n = 74/104), 23 Patientinnen
und Patienten waren unentschlossen (22,1 %) und n = 7 lehnten eine Impfung ab (6,7 %).
60 % (n = 18/30) der Unentschlossenen (n = 17) oder Ablehner (n = 1) gaben an, vor
einer endgültigen Entscheidung darüber noch ein Gespräch mit ihrem Onkologen/ihrer
Onkologin zu wünschen. Weitere Gründe für die Unentschlossenheit oder Ablehnung der
Impfung waren u. a., zu wenige Informationen darüber zu haben, wie sich der Impfstoff
mit ihrer Medikation bzw. der Krebserkrankung verträgt (33,3 %, n = 10/30) sowie zu
wenige Informationen über Wirksamkeit und Nutzen des Impfstoffs zu haben (30 %, n = 9/30)
(siehe Tabelle 4 im Supplement ).
Diskussion
Viele Krebspatientinnen und -patienten zählen im Rahmen der COVID-19-Pandemie zur
Risikogruppe und sind von Pandemie-bedingten Einschränkungen im Gesundheitswesen betroffen.
Mit der vorliegenden Studie wird die Situation von ambulanten Krebspatienten während
der zweiten Welle der COVID-19-Pandemie differenziert dargestellt. Die Ergebnisse
bilden Wissensstand, Informiertheit, Risikowahrnehmung, Impfbereitschaft, aktuelle
spezifische Belastungen und Bedürfnisse ab.
Wissensstand und Informationsbedürfnisse
Etwa ein Fünftel der Teilnehmenden äußerte, viel oder sehr viel Wissen über die Auswirkungen
des Coronavirus auf die Erkrankung bzw. die Behandlung zu haben. Demgegenüber gaben
mehr als die Hälfte an, lediglich etwas oder gar kein Wissen darüber zu haben. Zum
Zeitpunkt der Studie dauerte die Pandemie bereits über 10 Monate an. Angesichts der
häufigen Berichterstattung über Entwicklungen und Erkenntnisse erscheint der Anteil
an Patienten mit einem geringen Maß an Informiertheit hoch. Des Weiteren berichteten
einige Patienten, widersprüchliche Informationen erhalten zu haben (16,5 %) und/oder
sich mit den vielen verschiedenen Informationen zu den Auswirkungen des Coronavirus
auf ihre Erkrankung überfordert zu fühlen (12,3 %). Auch in anderen Studien zeigten
sich die Teilnehmer irritiert über die verschiedenen Aussagen der Medien bezüglich
Gefahr und Verlauf einer Corona-Infektion [20 ]. Zwar hatten sich etwa 42 % der Patientinnen und Patienten hinsichtlich der Auswirkungen
des Coronavirus auf ihre Krebserkrankung informiert, jedoch gab ein Drittel an, noch
offene Fragen zu haben. Neben allgemeinen Fragen zur Auswirkung des neuartigen Coronavirus
interessierte diese Patienten, wie sich eine COVID-19-Infektion auf ihre Krebserkrankung
und -behandlung auswirken würde. Auch Fragen zur Impfung gegen das Coronavirus kamen
auf. Über die Hälfte der Teilnehmenden war verunsichert darüber, ob eine mögliche
Verzögerung oder Veränderung der Behandlung nachteilig für sie sei.
Diese Ergebnisse werfen die Frage nach der Kommunikation gesundheitsbezogener Informationen
zu COVID-19 und Krebs an betroffene Gruppen auf. Unter dem Stichwort „infodemic“ [21 ] wurde im Zuge von Pandemien das weitgefasste Phänomen einer raschen und weitreichenden,
primär digitalen Verbreitung von Informationen mit fragwürdiger Qualität beschrieben
[22 ]
[23 ]. Dabei macht die Vermischung von Fakten, Ängsten und Gerüchten die Beurteilung der
Information schwierig. Hier bedarf es einer Unterstützung bei der Beurteilung der
Güte gesundheitsbezogener Information sowie der Vermittlung von validen, evidenzbasierten
Quellen hinsichtlich COVID-19 und Krebserkrankungen, auch vonseiten der Behandler.
Aber auch im enger gefassten Bereich der Wissenschaftskommunikation wurde im Zuge
der COVID-19-Pandemie häufig eine voreilige oder zu stark vereinfachende Darstellung
wissenschaftlicher Ergebnisse beobachtet [24 ]
[25 ]. In diesem Zusammenhang warnen Smith et al. [24 ], dem natürlichen Bedürfnis nach eindeutigen Antworten nicht mit einer Unterschlagung
von Unsicherheiten zu begegnen. Um das Vertrauen in die Wissenschaft zu erhalten,
sei es notwendig, bestehende Unsicherheiten anzuerkennen und diese verständlich zu
kommunizieren [24 ]
[26 ]. Für die ambulante Patientenbehandlung während der COVID-19-Pandemie bedeutet dies,
die sich kontinuierlich verändernden Erkenntnisse im Arzt-Patienten-Gespräch aufzugreifen,
bestehende Unsicherheiten offen zu kommunizieren und Patienten und Patientinnen bei
der Einordnung derselben zu unterstützen. Darüber hinaus kann durch die adäquate Informationsvermittlung
auch einer psychischen Belastung entgegengewirkt werden: Hierzu zeigten Bäuerle et
al. [13 ], dass eine höhere subjektive Informiertheit mit einem geringeren Distress-Anstieg
einhergeht.
Risikowahrnehmung, Sorgen und Vertrauen in das Gesundheitssystem
Im untersuchten ambulanten Setting berichteten ca. 17 % der Teilnehmenden von einer
Veränderung oder Verzögerung ihrer Behandlung. Im Vergleich dazu zeigen Daten aus
einer deutschlandweiten bevölkerungsbasierten Umfrage (COSMO-Projekt), dass zwischen
März und Juli 2020 16 % von verschobenen Gesundheits-Checkups berichteten [27 ].
Sorgen, sich während der ambulanten Behandlung anzustecken, äußerten 13,9 % der Patientinnen
und Patienten. Die meisten fühlten sich durch die getroffenen Schutzmaßnahmen in der
Klinik vor einer Ansteckung geschützt. Fast die Hälfte der Patienten schätzte eine
mögliche Infektion mit dem Virus als bedrohlich ein. Vor dem Hintergrund, dass viele
Krebspatienten zur Risikogruppe zählen, erscheinen diese Prozentwerte eher niedrig.
Dies könnte unter anderem auf das psychologische Phänomen des „Optimismus-Bias“ (optimism
bias [28 ]) zurückzuführen sein. Demnach schätzen Menschen ihr eigenes Risiko als geringer
ein als das anderer Personen. Felgendreff et al. konnten zeigen, dass der Optimismus-Bias
hinsichtlich eines Infektionsrisikos mit COVID-19 mit objektiven Informationen über
das Risiko alleine nicht reduziert werden kann [29 ].
Das Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem, in die behandelnde Klinik und in
die behandelnden Ärztinnen und Ärzte war in der vorliegenden Stichprobe hoch. Dies
zeigte sich auch in anderen Patientengruppen [30 ].
COVID-19-spezifische Belastungen und Distress
Hinsichtlich COVID-19-spezifischer Belastungen zeigte sich, dass ein Großteil der
Patienten mit der Angst konfrontiert ist, dass das Gesundheitssystem aufgrund der
COVID-19-Pandemie überlastet sein könnte. Ferner belastete die Teilnehmenden, dass
sich Angehörige noch größere Sorgen um sie machen als bereits vor der Pandemie. Mehr
als ein Drittel der Befragten gab an, sich sozial isoliert zu fühlen, und ein Viertel
berichtete von weniger sozialer Unterstützung seit der Ausbreitung des Coronavirus.
Durch die veränderten Bedingungen im Sozialleben sind damit zentrale psychosoziale
Ressourcen nur eingeschränkt zugänglich. Bezüglich der Krebsbehandlung, der Versorgung
in der Klinik und der Versorgung durch das onkologische Behandlungsteam wurden nur
wenige Sorgen und Belastungen genannt. Der Anteil an Patientinnen und Patienten mit
klinisch relevantem krebsbezogenen Distress (34,7 %) war im Vergleich zu Studien vor
der Pandemie nicht erhöht [5 ].
Um Patienten im klinischen Alltag während der COVID-19-Pandemie bestmöglich zu unterstützen,
empfehlen Gharzai et al. [31 ], in der Kommunikation Patienten-zentriert vorzugehen. Hierzu gehört, Emotionen wahrzunehmen
und zu normalisieren, Engagement zu zeigen und Informationen verständlich zu vermitteln,
z. B. mittels der Ask-Tell-Ask-Heuristik.
Impfbereitschaft
Die Impfbereitschaft in unserer Stichprobe lag bei 71 %. Dieser Anteil könnte jedoch
eine Unterschätzung darstellen, da mehr als die Hälfte (60 %) der Unentschlossenen/Ablehner
äußerten, vor einer endgültigen Zustimmung ein Beratungsgespräch mit einem Onkologen/einer
Onkologin führen zu wollen. Darüber hinaus verdeutlicht dieses Ergebnis nochmals das
hohe Bedürfnis nach Information durch die behandelnden Ärztinnen.
Limitationen
Als eine Stärke der vorliegenden Studie ist die strukturierte und umfangreiche Datenerhebung
innerhalb eines kurzen Zeitraums anzuführen, wodurch relativ homogene Kontextbedingungen
während des Erhebungszeitraums erreicht wurden. Dennoch sind die Ergebnisse unter
folgenden Limitationen zu interpretieren: Die Studie wurde an 2 Universitätskliniken
in München durchgeführt, wodurch die Repräsentativität für andere Kliniken und Standorte
möglicherweise eingeschränkt ist. Zudem ist die Fallzahl eher gering. Eine Replikation
der Ergebnisse anhand einer größeren Stichprobe, im Längsschnitt sowie unter Nutzung
einer gesunden Kontrollgruppe wäre wünschenswert. 27 % der Teilnehmenden befanden
sich zum Zeitpunkt der Erhebung in keiner aktiven Krebsbehandlung, was unter anderem
Auswirkungen auf die Risikowahrnehmung der Betroffenen haben könnte. Ein möglicher
Bias könnte sich aufgrund des hohen Bildungsstands der Stichprobe und der von den
Befragten subjektiv als gut eingeschätzten wirtschaftlichen Situation ergeben haben.
Dadurch könnten Existenz- und Zukunftsängste sowie Sorgen um den Arbeitsplatz eine
untergeordnete Rolle gespielt haben. Zudem handelt es sich um eine konsekutiv erhobene
Stichprobe, sodass keine Generalisierung der Ergebnisse möglich ist.
Patientinnen und Patienten äußern Unsicherheiten und Informationsbedürfnisse bezüglich
des Zusammenhangs zwischen dem Coronavirus und ihrer Krebserkrankung bzw. -behandlung.
71 % der Patienten sind bereit, sich impfen zu lassen; 60 % der zum Zeitpunkt der
Untersuchung Unentschlossenen oder Ablehner wünschen sich vor einer endgültigen Entscheidung
für die Impfung ein Informationsgespräch mit ihrem Onkologen/ihrer Onkologin.
Corona-spezifische Belastungen von Krebspatienten betreffen insbesondere den Verlauf
der Therapie, aber auch eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems.
Onkologische Behandler-Teams sollten Fragen ihrer Patientinnen und Patienten Raum
geben, mögliche Unsicherheiten anerkennen, emotionale Unterstützung leisten und auf
zuverlässige Informationsquellen aufmerksam machen.
Zitierweise für diesen Artikel
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DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift 2022; 147(10): 41–49. doi:10.1055/a-1746-7534