Handchir Mikrochir Plast Chir 2022; 54(06): 516-521
DOI: 10.1055/a-1884-0121
Originalarbeit

Spülen von Bisswunden ist obsolet. Eine anatomische Studie

Bite Wounds Should not be Irrigated by Syringe. An Anatomic Study
Bernd Rieck
1   Plastic Surgery, Klinikum Hildesheim, Hildesheim, Germany
,
Sabrina Jördens
2   Neurology, Bundeswehr, Westerstede, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

In der Literatur zur Behandlung von Tier- und Menschenbissverletzungen wird immer wieder empfohlen, zur Säuberung der tiefen Wundabschnitte die Wunde mittels einer Knopfkanüle oder eines Katheters und einer Spritze zu spülen. Dadurch sollen Verschmutzungen und Fremdkörper aus der Wunde entfernt werden. In den letzten Jahren wird nicht mehr zu Spülungen mit großem Druck, sondern nur noch mit Vorsicht geraten.

Material und Methodik An 8 Körperspenderpräparaten wurden an klinisch typischen Lokalisationen mit einem speziellen Werkzeug künstliche Bissverletzungen erzeugt und mit einer Knopfkanüle und Spritze „gefühlt drucklos“ mit verdünnter Tinte gespült.

Ergebnisse In allen Fällen blieb mehr als die Hälfte der Spülflüssigkeit im gebissenen Körperteil und verbreitete sich entlang anatomischer Strukturen über große Flächen.

Schlussfolgerung Die Ergebnisse zeigen, dass eine Spülung das Ziel einer Wundreinigung verfehlt, sondern vielmehr die Gefahr einer weiteren Kontamination der Umgebung birgt. Daher sollte aus Sicht der Autoren eine Wundspülung mittels Knopfkanüle bei Bisswunden unterbleiben.


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Abstract

In the literature about treatment of animal and human bite injuries, it is often recommended that bite wounds should be cleaned with a syringe and button cannula or plastic catheter. This is supposed to clean deeper wound sections and remove contamination and foreign bodies. Recent papers recommend cautious irrigation without high pressure.

Material and method In eight cadavers, artificial bite wounds were produced in typical locations. These wounds were irrigated by syringe and button cannula using diluted ink. The pressure of irrigation was limited to “no noticeable pressure”.

Results In all cases, more than half of the irrigation volume remained inside the victim´s organism, following anatomic structures and spreading over large areas. Conclusion: Irrigation fails to clean the wound but increases the risk of contaminating the surrounding structures. Hence, the authors recommend that bite wounds should not be irrigated by syringe and button cannula.


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Einleitung

Die Behandlung von Bissverletzungen ist in der Chirurgie ein wichtiges Thema [1] [2] und Gegenstand zahlreicher literarischer Empfehlungen. Diese umfassen die Frage nach der Gründlichkeit des chirurgischen Débridements, nach der Statthaftigkeit des Wundverschlusses, nach der antibiotischen Behandlung und nach der Notwendigkeit und Durchführung der Wundspülung. Stellenweise wurde, auch in den letzten Jahren, die Spülung „unter Druck [3] [4] [5]“ oder mit großen Volumina („mindestens 1 Liter“) [6] empfohlen, stellenweise die Verwendung von Desinfektionsmitteln [5] [7] [8] [9].

Die Erwartungen hinter diesen Empfehlungen waren unterschiedlich. Einerseits sollten Keime, die mit dem Tierzahn ins Unterhautgewebe geraten waren, oder sogar Fremdkörper wie Nahrungsreste oder Zahnfragmente, aus der Wunde herausgespült werden. Andererseits sollte in der Tiefe der Wunde und im umgebenden Gewebe eine Desinfektion erreicht werden. Allerdings beschrieben Schupp et al. und Hülsemann et al. [10] [11] schwerste Komplikationen nach Spülung mit z. B. Octenidin, was zu einem Rote-Hand-Brief des Herstellers und entsprechenden Warnhinweisen führte. Dies konnte allerdings nicht verhindern, dass auch Jahre nach dem Rote-Hand-Brief noch Octenidin-Spülungen vorgenommen wurden. Das Herausspülen etwa eines abgebrochenen Hundezahns oder anderer Fremdkörper durch die Punktionswunde hindurch, in der auch noch eine Knopfkanüle steckt, aus der Tiefe einer Wunde ist schon aus Platzgründen zu bezweifeln [12]. Außerdem treten in der persönlichen Erfahrung der Autoren nach Spülungen von Punktions-Bisswunden immer wieder Phlegmonen auf, deren Ausdehnung die eigentliche Bisswunde deutlich überschreitet. Aus diesem Grund wurde in der hier vorgestellten experimentellen Studie an Humanpräparaten unter standardisierten Bedingungen die Hypothese überprüft, dass bei Wundspülungen von Bissverletzungen signifikante Flüssigkeitsmengen im Gewebe verbleiben und es zu einer Ausbreitung der Spüllösung im Gewebe kommt.


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Material und Methode

Es wurde an 8 Körperspenderpräparaten in der Medizinischen Hochschule Hannover die Situation klassischer Hundebissverletzungen nachgestellt und in standardisierter Weise eine „drucklose“ Spülung der Wunden über Knopfkanüle durchgeführt.

Körperspender und Präparate

Von den 8 Körperspenderpräparaten waren 3 hartfixiert (88,89% Ethanol (99%), 6,67% Formalin (37,5%), 2,22% Phenolethanol und 2,22% Glycerin (85%)), 4 weichfixiert (44,05% Ethanol (99%), 37,45% Glycerin (99%), 1,10% Formalin, 1,10% Phenolethanol, 15,42% Nitritpökelsalzlösung und 0,88% Thymol), und 1 natives Frischpräparat.


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Bisswunden

Die „Bisswunden“, die mit einem spitzen konischen Metalldorn von bis zu 5 mm Durchmesser und 17 mm Länge ([Abb. 1]), entsprechend dem Fangzahn eines größeren Hundes ([Abb. 2]), durch Einstechen in ganzer Länge des Dorns hergestellt wurden, erfolgten an Körperstellen, die in der klinischen Arbeit häufig vorkommen.

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Abb. 1 Stichwerkzeug: Künstlicher Fangzahn.
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Abb. 2 Fangzahn eines Schäferhundes.

Wird ein Mensch von einem Hund an der unteren Extremität bzw. an den Händen angegriffen, treten Verletzungen meist an bestimmten Prädilektionsstellen auf, die mit folgenden Wunden simuliert werden sollten:

  1. 20 cm proximal des Malleolus lateralis

  2. im Kompartiment des Musculus tibialis anterior 20 cm proximal des Sprunggelenkspalts

  3. Musculus gastrocnemius Caput mediale 20 cm proximal des Malleolus medialis (1–3: typische Briefträger- oder Joggerverletzungen)

  4. 15 cm proximal des Kniegelenkspalts an dem Tractus iliotibialis (seitlich angreifender größerer Hund)

  5. Handrücken in der Mitte zwischen MHK 2 und MHK 3

  6. Unterarm über dem 4. Strecksehnenfach 3 cm proximal der Articulatio radiocarpalis

  7. Streckseitiger Unterarm 10 cm proximal der Articulatio radiocarpalis (5–7: klassische Wunden beim Streit um den Futternapf, beim „Dazwischengehen“ mit der Hand oder bei der Abwehr eines angreifenden Hundes)


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Experimentelle Spülung der Wunden

In diese künstliche Bisswunde wurde anschließend eine handelsübliche Knopfkanüle vorsichtig bis zum Wundgrund eingeführt. Über einen Dreiwegehahn wurde eine Spülvorrichtung konnektiert, die aus einer 10-ml-Luerspritze und einem Steigrohr (Infusionsleitung an einer Messlatte) bestand. Der Nullpunkt der Spülvorrichtung wurde auf das Niveau der Wunde gebracht und mit der 10-ml-Spritze die Spüllösung eingebracht, wobei über das Steigrohr der Druck im System auf 150 cm Wassersäule begrenzt wurde. Dieser Druck war in Vorversuchen als der Druck ermittelt worden, bei dem man noch keinen Widerstand am Spritzenstempel verspüren konnte. Somit erfolgte die Spülung „gefühlt drucklos“. Als Spülflüssigkeit wurde verdünnte schwarze Tinte verwendet. Flüssigkeit, die neben der Spülkanüle aus der Wunde austrat, wurde mit einer Nierenschale vollständig aufgefangen und bilanziert. In einigen Fällen war der Einstromwiderstand so gering, dass auch Flüssigkeit aus dem Steigrohr in die Wunde lief. Dieses Flüssigkeitsvolumen wurde jeweils in die Bilanz mit einbezogen. Nach einer Wartezeit von 5 Minuten (in der keine Flüssigkeit mehr austrat) wurde die Wunde mit dem Skalpell kreuzförmig eröffnet, um die Längen-, Breiten- und Tiefenausdehnung der Tintenlösung zu messen und fotografisch zu dokumentieren. Als tolerabler Flüssigkeitsverlust (Verbleib im Gewebe) wurde das Volumen von 1,0 ml, also 10% des Spülvolumens definiert, da dies näherungsweise der Messgenauigkeit entspricht.


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Ergebnisse

20 cm proximal des Malleolus lateralis verblieben bei hartfixierten Präparaten 4,1 ml±2,4 ml mit einem Minimum von 2,0 ml und einem Maximum von 7,5 ml in dem Gewebe. Weichfixierte Präparate wurden hier nicht verwendet. Bei dem nativen Präparat verblieben 9,0 ml in dem Gewebe. Über alle Präparate gemittelt, verblieben 52,3% der Flüssigkeit, also 5,3 ml±2,9 ml im Gewebe. Das tolerable Volumen von 1 ml wurde in allen Fällen deutlich überschritten. Die im Gewebe verbliebene Flüssigkeit verteilte sich epifaszial im subkutanen Fettgewebe sowie subfaszial und teilweise intramuskulär vom Wundkanal ausgehend. Die Ausdehnung der Flüssigkeit umfasste Gewebevolumina zwischen 36 und 168 cm³, Längenausdehnungen zwischen 6 und 26 cm und Breitenausdehnungen zwischen 2 und 3,5 cm.

Im Kompartiment des M. tibialis anterior verblieben bei hartfixierten Präparaten im Mittel 6,2 ml im Gewebe (Minimum 2,5, Maximum 8,6), bei einem weichfixierten Präparat 4,2 ml und bei einem Nativpräparat 9,7 ml. Über alle Präparate gemittelt waren dies 60,6%, also 6,5 ml±2,7 ml. Die verbliebene Flüssigkeit verteilte sich auch hier epifaszial, subfaszial und entlang der Septen in einem Gewebsvolumen zwischen 46 und 300 cm³, mit einer Längenausdehnung zwischen 8 und 15 cm und einer Breitenausdehnung zwischen 4 und 7 cm.

Am Caput mediale des M. gastrocnemius, 20 cm proximal des Malleolus medialis, verblieben bei hartfixierten Präparaten im Mittel 6,5 ml im Gewebe (Minimum 4,5, Maximum 8,2), bei weichfixierten Präparaten im Mittel 7,4 ml (5,3 bis 9,6 ml) und beim nativen Präparat 7,3 ml. Über alle Präparate gemittelt waren dies 68,1%, also 7,1 ml±1,6 ml. Die Flüssigkeit verteilte sich hier epifaszial, subfaszial und teilweise intramuskulär vom Bisskanal ausgehend in einem Gewebsvolumen zwischen 90 und 450 cm³ und mit einer Längenausdehnung zwischen 7 und 17 cm sowie einer Breitenausdehnung zwischen 4 und 10 cm.

Am Tractus iliotibialis, 15 cm proximal des Gelenkspaltes, verblieben bei hartfixierten Präparaten im Mittel 6,90 ml im Gewebe (Minimum 3,00, Maximum 10,80 ml), bei weichfixierten Präparaten im Mittel 8,10 ml (6,20 bis 10,00 ml) und beim nativen Präparat 8,70 ml. Über alle Präparate gemittelt waren dies 74,22%, also 7,74±2,70 ml. Die Flüssigkeit verteilte sich meist epifaszial, in einem Fall auch subfaszial in einem Gewebsvolumen zwischen 70 und 504 cm³ und mit einer Längenausdehnung zwischen 7 und 21 cm sowie einer Breitenausdehnung zwischen 5 und 12 cm.

Am Handrücken zwischen den Mittelhandknochen 2 und 3 verblieben bei weichfixierten Präparaten im Mittel 3,8 ml in Gewebe (Minimum 1,3, Maximum 8,0 ml), bei den nativen Präparaten im Mittel 9,1 ml (8,9–9,4 ml). Hartfixierte Präparate wurden hier nicht verwendet. Über alle Präparate gemittelt waren dies 57,2%, also 5,9±3,5 ml. Die Flüssigkeitsverteilung erfolgte entlang der Strecksehnen und subkutan über ein Gewebsvolumen zwischen 20 und 81 cm³, eine Länge zwischen 8,0 und 9,0 cm und eine Breite zwischen 3,0 und 5,0 cm ([Abb. 3] [4]).

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Abb. 3 Versuch 29, Nativpräparat. Gespülte Bisswunde am Handrücken. 8,9 ml von 10 ml Spüllösung sind im Handrücken verblieben.
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Abb. 4 Gleiches Präparat, nach Eröffnung der Haut.

Am Unterarm über dem 4. Strecksehnenfach 3 cm proximal der Articulatio radiocarpalis verblieben bei weichfixierten Präparaten im Mittel 6,1 ml der Spülflüssigkeit im Gewebe (Minimum 1,3, Maximum 10,3 ml), bei den nativen Präparaten im Mittel 10,0 ml (10,0 bis 10,1 ml). Auch hier wurden keine hartfixierten Präparate verwendet. Über alle Präparate gemittelt waren dies 74,0%, also 7,7±3,4 ml. Die Flüssigkeit verteilte sich entlang der Strecksehnen und nach proximal zwischen die Streckmuskeln. In einem Fall hatte die Bisswunde die Membrana interossea durchdrungen, hier trat die Spülflüssigkeit in die beugeseitige Muskulatur ein. Das betroffene Gewebsvolumen betrug zwischen 28 und 72 cm³ auf einer Länge zwischen 7,0 und 10,0 cm und einer Breite zwischen 1,0 und 4,0 cm.

Am streckseitigen Unterarm 10 cm proximal der Articulatio radiocarpalis verblieben im Mittel 65,4%, also 7,8 ml der Flüssigkeit im Gewebe (Minimum 3,2, Maximum 10,7 ml). Hierfür wurden ausschließlich weichfixierte Präparate verwendet. Die Flüssigkeit verteilte sich entlang der Strecksehnen, bis zum Handgelenk und bis in den Oberarm, in einem Fall auch bis in die radiale Beugemuskulatur in einem Gewebsvolumen zwischen 108,0 und 187,0 cm³ mit einer Ausdehnung in die Länge zwischen 7 und 17 cm und in die Breite zwischen 4 und 11 cm (s. [Tab. 1]).

Tab. 1 Verbliebene Flüssigkeitsvolumina bezogen auf die „Biss“-Lokalisationen.

Lokalisation

20 cm prox. des Malleolus lateralis

Komparti-ment des M. tibialis anterior 20 cm prox. des Sprunggelenkspalts

M. gastro- cnemius Caput mediale 20 cm prox. des Malleolus medialis

15 cm prox. des Kniege-lenkspalts am Tractus iliotibialis

Handrücken zwischen MHK 2 und MHK 3

Unterarm über dem 4. Streckseh-nenfach 3 cm prox. der Art. radiocarpalis

Streckseitiger Unterarm 10 cm prox. der Art. radiocarpalis

Mittelwert (Volumen [ml])

5,3

6,5

7,1

7,7

5,9

7,7

7,8

Standardabweichung

2,965

2,711

1,671

2,837

3,522

3,452

3,289

Median

5,2

7,6

7,1

8,7

8,0

10,0

9,5

Irrtumswahrscheinlichkeit

0,05

0,05

0,05

0,05

0,05

0,05

0,05

p-Wert

0,042

0,008

1,3xe-05

0,004

0,025

0,009

0,050

1. Quartil

2,675

4,200

5,825

6,200

2,000

6,800

6,350

3. Quartil

7,875

8,500

8,400

10,000

8,900

10,100

10,100

IQR

5,200

4,300

2,575

3,800

6,900

3,300

3,750

Lebenslauf des Erstautors: Geboren 1957 in München. Studium der Medizin in Regensburg und München. Assistententätigkeit in München und Gießen. Facharzt für Chirurgie 1992. Assistententätigkeit in Hannover, Teilgebiet Plastische Chirurgie 1995, 2001 in die Facharztbezeichnung Plastische Chirurgie umgewandelt. Oberarzttätigkeit in Hannover. 1997 Zusatzbezeichnung Handchirurgie. 1998 bis 2019 Chefarzttätigkeit in Hildesheim. 1999 Habilitation, 2005 Ernennung zum außerplanmäßigen Professor.


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Diskussion

In der Literatur wird vielfach die Spülung von Bisswunden mittels Knopfkanüle in der Annahme empfohlen, dass so inokuliertes Material aus der Wunde herausgespült und Infektionen vermieden werden können [3] [4] [5] [7] [8] [9]. Dabei werden teilweise desinfizierende Lösungen zur Spülung empfohlen, mancher Autor empfiehlt ausdrücklich, unter Druck zu spülen. Rothe und Kollegen [13] empfehlen allerdings, ohne Druck zu spülen, da unter Druck eine Ausbreitung der Erreger in tiefere Gewebeschichten möglich sei, was auch von Goldstein sowie Stucker et al. [14] [15] als Risiko bewertet wird. Gegen die Annahme, dass Fremdkörper oder abgebrochene Zähne aus der Wunde gespült werden könnten, spricht die typische Morphologie einer Bisswunde. Auch Hundebissverletzungen sind in aller Regel (wenn man von schwersten flächigen Zerreißungen absieht) Punktions- und kurze Risswunden, die an der Oberfläche geringere Ausdehnung zeigen als in der Tiefe, da das Corium weitgehend wieder seine ursprüngliche Form und Lage einnimmt, sobald der Hundezahn den Körper wieder verlassen hat. Daher hat die Mehrzahl der Bisswunden eine kleine Öffnung, durch die selbst eine injizierte Flüssigkeit schwer wieder nach außen ablaufen kann, zumal wenn noch eine Knopfkanüle die Öffnung weiter verengt. In der Tiefe hingegen weisen Bissverletzungen Höhlen, zerrissene Strukturen und gequetschtes Gewebe auf.

Aus diesem Grund liegt der Verdacht nahe, dass bei Wundspülungen in diesen Arealen ein signifikanter Anteil der Spülflüssigkeit im Körper verbleibt. Dies wird unterstützt durch die Erfahrung der Autoren, dass nach Spülbehandlungen von Hundebissverletzungen breitflächige Phlegmonen auftreten, die weit über die traumatisierte Körperpartie hinausgehen. Dies deutet eher auf eine Ausbreitung der Kontamination hin als auf eine reinigende Wirkung der Behandlung. Auch die Vermutung, dass die verbliebene Spülflüssigkeit zu einer Verdünnung der Kontamination führen und somit günstig sein könnte, ist nicht zu belegen. Allenfalls könnte eine Verdünnung eine langsamere Entwicklung einer Infektion bedingen, was aber durch die Vergrößerung des betroffenen Körpervolumens negativ ausgeglichen würde.

Trotz der vielen Empfehlungen zur Spülung von Bisswunden in Publikationen gibt es noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen, ob wirklich die gesamte Spülflüssigkeit wieder aus der Wunde läuft und, falls Flüssigkeit im Gewebe verbleiben sollte, wohin sich diese verteilt.

Daher wurde die vorliegende Untersuchung an Körperspendern durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass in allen Fällen große bis sehr große Anteile der Spülflüssigkeit im Organismus des Patienten verbleiben und sich entlang der anatomischen Leitstrukturen wie Faszien, im Sehnengleitgewebe und in intermuskulären Septen weit ausbreiten. Auch wenn man betont darauf achtet, „ohne Druck“ oder mit nur geringem Druck zu spülen, ist dies unvermeidlich. Da die Spüllösung in dieser Studie aus verdünnter Tinte bestand, markieren die angefärbten Wundbereiche das Ausbreitungsvolumen der Spülflüssigkeit.

Da für die Untersuchung nicht viele Nativpräparate zur Verfügung standen, wurden die Versuche auch an weich- und einigen hartfixierten Präparaten durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass der im Körper verbliebene Anteil der Spülflüssigkeit umso höher war, je weicher (und „lebensnäher“) das Präparat war. Dies schränkt einerseits die Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse auf die klinische Realität ein, lässt aber, trotz der geringen Fallzahl, darauf schließen, dass beim Lebenden noch mehr Flüssigkeit im Körper verbleibt als in den geschilderten Versuchen. Für eine ausführliche statistische Aufarbeitung wäre eine höhere Fallzahl, besonders an Nativpräparaten wünschenswert. Somit wäre auch die Dringlichkeit der klinischen Empfehlung noch höher. Gleichwohl sind die Ergebnisse so deutlich, dass es nicht mehr bezweifelt werden kann, dass bei der Spülung einer Bisswunde mit einer Knopfkanüle der größte Teil der Flüssigkeit im Körper verbleibt, sich weit in die Umgebung verteilt und somit, nach unserer Hypothese, die Kontamination verbreitet.

Die vorliegende Studie zeigt daher, dass eine Spülung von Bisswunden zu einer Kontamination vom Ursprungsbiss nicht betroffener Areale führen kann und daher unterbleiben sollte [16].

Zu diskutieren ist, ob die Aussage der Studie auch auf andere Formen der Stichverletzung übertragbar ist. Für eine Beschränkung auf die Bissverletzung sprechen aber mehrere Argumente: Die ausdrücklichen Empfehlungen der zitierten Artikel hinsichtlich der Hundebissverletzung, das Fehlen entsprechender Empfehlungen für andere Stichverletzungen, und die spezifische Form der Wunde, deren Werkzeug eindeutig einem Hundefangzahn nachgebildet wurde. Eine Stichverletzung etwa durch ein schneidendes Werkzeug, z. B. ein Messer, hinterlässt eine ganz andere Wunde mit glattem Rand und großer Öffnung. Hier würden die Ergebnisse einer Spülung nach der Vorgehensweise dieser Studie vermutlich anders ausfallen. Die Tierbissverletzung ist insofern eine besondere Entität, daher beschränken wir die Aussage dieser Studie hierauf.

Für die Behandlung von Bissverletzungen gibt es reichhaltig fundierte Empfehlungen.

Die einzige einschlägige deutsche Leitlinie, die bis zum 29.09.2021 gültige und sich inzwischen in Überarbeitung befindende S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie zum Thema „Wunden und Wundbehandlung“ empfiehlt eine Wund- und Umgebungsreinigung mit NaCl 0,9%, H2O oder Polihexanid bei der Versorgung von Bisswunden. Vor einer Spülung unter Druck mit Octenisept wird aber aufgrund der Gefahr aseptischer Nekrosen gewarnt [17].

Lichte et al. [18] empfehlen, dass jede Bisswunde, besonders auch unauffällige Punktionswunden, chirurgisch debridiert werden sollten, um saubere und gut durchblutete Wundverhältnisse zu schaffen. Entsprechend wird auch von anderen Autoren empfohlen, frische Bissverletzungen akribisch zu debridieren, nekrotische Wundanteile zu entfernen und bei günstigen Wundverhältnissen einen primären Wundverschluss anzustreben, um einen komplikationslosen Verlauf zu gewährleisten [19] [20] [21] [22]. Nach einem gründlichen chirurgischen Wunddebridement mit ausreichend großem Zugang ist gegen eine abschließende druckfreie Spülung vor dem Wundverschluss nichts einzuwenden, da hier keine Ausbreitung kontaminierter Flüssigkeit zu befürchten ist.

Die Bewertung der Zulässigkeit des Wundverschlusses und der antibiotischen Behandlung ist seit langem Gegenstand der Literatur [14] [23] [24]: Wundverschluss über einer Drainage ist zulässig, wenn die Wunden kein erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen. Dies ist der Fall bei frischen Wunden (Extremitätenwunden unter 6–12 Stunden, Gesichtswunden unter 12–24 Stunden [5] [13]), die gut debridiert sind [18]. Im Zweifelsfall sind engmaschige Kontrollen notwendig und Second-Look-Operationen zu erwägen. Präventive antibiotische Behandlung wird bei Bissverletzungen an der Hand empfohlen [5] [13] [18], wohingegen die zitierten Meta-Analysen an anderen Körperstellen keinen Vorteil der präventiven antibiotischen Behandlung nachweisen konnten. Aufgrund des Keimspektrums des Hundespeichels ist für diese kalkulierte antibiotische Behandlung die Kombination von Amoxicillin und Clavulansäure das Medikament der ersten Wahl, bei Penicillinallergie ein Chinolon und Clindamycin [18].


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass keine Interessenskonflikte bestehen


Korrespondenzadresse

Prof. Bernd Rieck
Kaiser-Friedrich-Str. 15 a
31134 Hildesheim
Germany   

Publication History

Received: 10 December 2021

Accepted: 06 June 2022

Article published online:
07 September 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Stichwerkzeug: Künstlicher Fangzahn.
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Abb. 2 Fangzahn eines Schäferhundes.
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Abb. 3 Versuch 29, Nativpräparat. Gespülte Bisswunde am Handrücken. 8,9 ml von 10 ml Spüllösung sind im Handrücken verblieben.
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Abb. 4 Gleiches Präparat, nach Eröffnung der Haut.