physiopraxis 2022; 20(09): 43-45
DOI: 10.1055/a-1891-8957
Therapie

„Verrückter“ Körper – Zönästhesie

Silja Schwencke
 

Die mannigfaltigen, eigenartigen und bizarren Beschwerden, die Patient*innen mit Schizophrenie beschreiben, sind als Symptome einer Zönästhesie bekannt. Was viele aber nicht wissen: Zönästhesien können auch unabhängig von psychiatrischen Erkrankungen als eigene Schmerzform auftreten. Physiotherapeut*innen sollten diese seltene somatoforme Störung daher kennen, um nicht an einer wirkungslosen Therapie zu verzweifeln.


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Auf den ersten Blick erwartete Stephanie Moers nichts Ungewöhnliches, als sie die Therapie mit der neuen Patientin begann. Ein Schmerztherapeut einer Praxis für Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie hatte die Frau mit Beschwerden im Rücken und im oberen Schulterbereich überwiesen. „Es klang nach typischen muskuloskelettalen Beschwerden“, sagt die Physiotherapeutin. Die Patientin war nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt, stand voll im Berufsleben, und äußerlich fiel an ihr überhaupt nichts auf. Aber schon während der ersten Sätze der Anamnese merkte die Therapeutin, dass irgendetwas merkwürdig war: „Ich habe das Gefühl, dass sich meine Muskeln selbstständig unter der Haut bewegen“, berichtete die Patientin. „Meine Haut sitzt zu locker. Und mein Oberkörper ist zur Seite gewichen.“ Über Schmerzen erzählte sie nichts. Die Beschwerden bestünden seit zwei Monaten, einen Auslöser hätte es nicht gegeben. Der Therapeutin fiel auf, wie nervös die Frau war: Schon während der Anamnese stand sie auf und begann unaufgefordert, sich auszuziehen. „Sie wollte mir unbedingt etwas zeigen“, sagt Stephanie Moers. Die Inspektion war vollkommen unauffällig – kein Shift des Oberkörpers, keine Asymmetrien. Auch bei den Bewegungsuntersuchungen fand sich nichts. Moers war ratlos. „Ich hatte keine Hypothese, keinen Anhaltspunkt, an den ich meine Physiotherapie ansetzen konnte“, sagt sie. „Das habe ich der Patientin mitgeteilt und ihr vorgeschlagen, dass wir Sachen ausprobieren und experimentieren.“

Viel Therapie für nichts

Sie begann mit einer Weichteiltherapie, mit Massage und Lockerungen. Als diese keinen Effekt hatten, wählte sie einen aktiven Ansatz mit Übungen für den Muskeltonus. Es passierte nichts. Die Physiotherapeutin wechselte erneut den Therapieansatz und trainierte die Körperwahrnehmung der Patientin, etwa mit progressiver Muskelentspannung nach Jacobson. Die verzweifelte Frau ließ sich auf alles ein, lag auf der Liege, spürte ihren Körper und ihren Atem, entspannte ihre Muskeln, spannte sie im Wechsel wieder an – und es bewirkte überhaupt nichts. Ihre „komischen“ Muskeln „wanderten“ weiter unter der Haut, und die Haut „konnte das nicht mehr fassen“. Einmal sagte sie, es fühle sich an, als sei ihr Körper verrückt, ihr Oberkörper wäre zur Seite gewichen.

Nach vier von sechs geplanten Sitzungen brach Stephanie Moers die Therapie ab. Die Patientin hatte einiges an Gewicht abgenommen und zuvor schon eine erfolglose Physiotherapie hinter sich gebracht. Sie, ihr Ehemann und die Physiotherapeutin machten sich Sorgen. „Hier passierte etwas Besonderes, das ich so nicht kannte“, sagt Stephanie Moers, die viel Erfahrung in ihrem Beruf hat. Sie rief den Arzt an und schilderte ihm den Verlauf. Die Beschwerden der Patientin hatten sich weder gebessert noch verschlechtert, die Physiotherapie hatte einfach nichts bewirkt. Der Schmerztherapeut ordnete ein neurologisches Konsil an, das ebenfalls nicht weiterführend war. Er untersuchte weiter, stellte schließlich die Diagnose „Zönästhesie“.


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Zönästhesie: groteske Leibgefühle

Zönästhesie (auch Coenästhesie) bedeutet wörtlich aus dem Griechischen abgeleitet nicht viel mehr als „allgemeine, gemeine Wahrnehmung, Empfindung“. Ein anderer Begriff lautet „Leibempfindung“. Im Lehrbuch Psychiatrie von Gerd Huber werden Zönästhesien als „qualitativ eigenartige Leibgefühle ohne das Kriterium des Gemachten“ beschrieben [1]. Die Beschwerden sind demnach so mannigfaltig, eigenartig und bizarr, dass es Patient*innen schwerfällt, sie zu beschreiben. Daraus folgen oft grotesk anmutende Vergleiche und Bilder, etwa: „… als ob die Zunge einer Kuh über mein Gehirn klatscht. Das ist furchtbar unangenehm“ [2].


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Zönästhesien erkennen

Tipps für die Praxis

  • Schmerzqualität erfragen, ohne Antwortmöglichkeiten vorzugeben

  • bei bizarren Schilderungen Rücksprache halten und wegen des Verdachts auf Zönästhesie um Vorstellung bei einer Psychiaterin oder einem Psychiater bitten

  • mit Patient*innen besprechen, dass es sich um einen organischen Schmerz handelt – der zwar nicht klassisch wie bei einer Blinddarmentzündung ist, sondern eher mit Botenstoffproblemen im Hirn zu tun hat, wie man es etwa beim Morbus Parkinson kennt

Zönästhesien gelten als Symptom einer Schizophrenie. Etwa 70 Prozent aller an Schizophrenie erkrankten Menschen entwickeln in ihrem Leben diese Beschwerden. Was viele aber nicht wissen: Zönästhesien können auch unabhängig von psychiatrischen Erkrankungen als eigene Schmerzform auftreten.


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Selten und oft verkannt

Oberarzt Dr. med. Michael Brinkers arbeitet als Psychiater in der Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie der Universität Magdeburg. Er und sein Team untersuchten retrospektiv alle Patient*innen, die in einem Zeitraum von fünf Jahren in ihrer Schmerzambulanz aufgenommen worden waren, auf Zönästhesien. Von 844 ausgewerteten Fällen erfüllten 57, also 6,7 Prozent, die Kriterien dafür. Von diesen wiesen 27 keine sonstigen psychopathologischen Auffälligkeiten auf [3].

„Wir waren überrascht, dass es so viele Patient*innen waren“, sagt der Arzt. Abgesehen von Schizophrenie gelten Zönästhesien als seltene Phänomene. Das sind sie auch, aber sie werden dafür häufig verkannt. Bei keiner bzw. keinem der Magdeburger Patient*innen stand auf dem Konsil- oder Überweisungsschein „Zönästhesie“. Die Diagnosen lauteten stattdessen zum Beispiel „somatoforme Schmerzstörung“, „orofaziales Syndrom“, „idiopathischer Gesichtsschmerz“ oder auch „Glossodynie – Zungenbrennen“. Bei etlichen Patient*innen traten die Empfindungen am Kopf und im Gesicht auf. Sie beschrieben dann etwa, dass „beim Zungenkontakt die Zähne im Oberkiefer versinken“. Oder: „Die Schmerzen sind so, als wenn das Zahnfleisch von links nach rechts abperlt.“


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Beschwerden frei schildern lassen

Um eine Zönästhesie zu erkennen, ist es laut Michael Brinkers wichtig, Patient*innen ihre Beschwerden bei der Anamnese frei schildern zu lassen und nicht etwa vorgefertigte Schmerzklassifikationen auf Fragebögen zu verwenden. „Patienten mit Zönästhesien benutzen bizarre Beschreibungen und nicht die üblichen Kategorien wie brennend, einschießend oder stumpf“, sagt er. Manche Kolleg*innen schätzten die Zönästhesien einfach als besonders blumige Ausdrucksweise der Patient*innen ein. „Das sollte man nicht tun“, sagt Michael Brinkers. „Zönästhesien sind echte Halluzinationen.“ Diese sind der Psychiatrie bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Den Leidensdruck sollte niemand unterschätzen. Denn prinzipiell können nicht behandelte Schmerzen im Suizid enden, betont Brinkers.


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Medikamente helfen, Physiotherapie nicht

Als Ursache von Zönästhesien vermutet man laut Michael Brinkers ein Transmitterungleichgewicht, wahrscheinlich ist das Dopamin-System beteiligt. Die gute Nachricht: Eine medikamentöse Therapie mit Neuroleptika hilft in der Regel gegen Zönästhesie. „Nach zwei bis vier Wochen sind die Beschwerden normalerweise verschwunden“, sagt der Psychiater. Erfreulich ging die Geschichte zum Glück auch für die Patientin von Stephanie Moers aus. Auch bei ihrer Patientin war weder eine Schizophrenie noch eine andere psychiatrische Erkrankung bekannt. Eine schwere körperliche Erkrankung stellte sich bisher ebenso wenig heraus. Das Gewicht hatte sie wahrscheinlich durch ihre Nervosität verloren. Der Schmerztherapeut behandelte mit Duloxetin. In einer E-Mail berichtete er, dass es der Frau seither anhaltend gut gehe.

Stephanie Moers sieht in ihrer Praxis vor allem Menschen mit orthopädischen Beschwerden, die Zönästhesie war etwas Besonderes. Was sie aus dem Fall lernt: „Wenn einem etwas seltsam vorkommt, stets Rücksprache halten. Und: Physiotherapie ist nicht immer das beste Mittel.“

Silja Schwencke


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Autorin

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Silja Schwencke ist Fachärztin für Allgemeinmedizin. Sie schreibt regelmäßig als freie Mitarbeiterin für den Thieme Verlag unter anderem für die Zeitschriften physio- und ergopraxis.
  • Literatur

  • 1 Huber G. Psychiatrie: Lehrbuch für Studium und Weiterbildung. 7. Aufl.. Stuttgart: Schattauer; 2005
  • 2 Repantis D.. Vortrag: „Klassifikation psychischer Erkrankungen und psychopathologischer Befund".. Vortragsreihe „Psychopathologie und psychiatrische Krankheitslehre"; Charité Universitätsmedizin Berlin, Wintersemester 2017/2018
  • 3 Brinkers M, Lux A, Pfau G. et al Charakteristik und Prävalenz schmerzhafter Zönästhesien in einer Schmerzambulanz. Schmerz. 2021 DOI: 10.1007/s00482-021-00592-z

Publication History

Article published online:
19 September 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Huber G. Psychiatrie: Lehrbuch für Studium und Weiterbildung. 7. Aufl.. Stuttgart: Schattauer; 2005
  • 2 Repantis D.. Vortrag: „Klassifikation psychischer Erkrankungen und psychopathologischer Befund".. Vortragsreihe „Psychopathologie und psychiatrische Krankheitslehre"; Charité Universitätsmedizin Berlin, Wintersemester 2017/2018
  • 3 Brinkers M, Lux A, Pfau G. et al Charakteristik und Prävalenz schmerzhafter Zönästhesien in einer Schmerzambulanz. Schmerz. 2021 DOI: 10.1007/s00482-021-00592-z

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Silja Schwencke ist Fachärztin für Allgemeinmedizin. Sie schreibt regelmäßig als freie Mitarbeiterin für den Thieme Verlag unter anderem für die Zeitschriften physio- und ergopraxis.