B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2022; 38(05): 228-230
DOI: 10.1055/a-1901-4276
Journal Club

Dokumentationsqualität heimbasierter Krafttrainingsstudien mit Menschen mit nicht übertragbarer Erkrankung

Maximilian Köppel
 

Billany RE, Vadaszy N, Lightfoot CJ et al. Characteristics of effective home-based resistance training in patients with noncommunicable chronic diseases: a systematic scoping review of randomised controlled trials. Journal of sports sciences 2021; 39: 1174–1185

Einleitung

Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg waren Infektionskrankheiten die führende Todesursache. Dank verbesserter medizinischer Behandlungen und Hygienemaßnahmen der letzten ca. 200 Jahre verloren die Infektionskrankheiten in der westlichen Welt, aber auch in Schwellenländern diese Vormachtstellung und wurden von nicht übertragbaren Erkrankungen (non-communicable diseases – NCD) abgelöst. Laut Weltgesundheitsorganisation sind bereits heute über 70% aller weltweiten Todesfälle auf NCDs zurückzuführen [1], in Industrienationen wie Deutschland liegt der Anteil mit über 90% sogar noch höher [2]. Als epidemiologisch besonders bedeutsame NCDs gelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und Chronische Atemwegserkrankungen, weswegen sie von der Weltgesundheitsorganisation in ihrem Global Action Plan ins Visier genommen wurden [3]. Körperliche Aktivität spielt im Kontext von NCDs eine wichtige Rolle, da sie einerseits eng mit dem Erkrankungsrisiko assoziiert sind [4], andererseits aber auch Betroffene im Umgang mit der Erkrankung unterstützt. Aufgrund der engen Assoziation zwischen körperlichem Aktivitätsniveau und Erkrankungsrisiko ist es wenig erstaunlich, dass lediglich ein Bruchteil der Bundesbürger, die an einer NCD leiden, die gängigen internationalen Bewegungsempfehlungen einhalten [5].

Beobachtungsdaten zeigen einen deutlichen Zusammenhang von Muskelkraft und Muskelmasse mit Morbidität und Mortalität [6]. Um einem alters- oder krankheitsbedingten Verlust von Kraft sowie Muskelmasse entgegenzuwirken, ist Krafttraining das Mittel der Wahl. Dennoch führt nur jeder fünfte bis jeder dritte Deutsche, der an einer der vier oben genannten NCDs leidet, auch Krafttraining durch [5]. Dabei muss Krafttraining nicht auf das Fitnessstudio beschränkt bleiben, sondern kann mithilfe von Körpereigengewichtsübungen, Kleingeräten und Widerstandsbändern auch einfach zu Hause durchgeführt werden. Ist ein solches heimbasiertes Krafttraining aber überhaupt effektiv, und wie gut sind die Belastungsmodalitäten zu heimbasiertem Krafttraining in Studien berichtet, um eine Replikation zu ermöglichen?

In einer Übersichtsarbeit von Billany et al. [7] untersuchten die Autoren die Charakteristika heim-basierter Krafttrainingsprogramme, die im Zuge randomisiert kontrollierter Studien (randomized controlled trials – RCT) mit Patienten mit NCDs durchgeführt wurden. Extrahiert wurden neben allgemeinen Studiencharakteristika und adverse Events Trainingsprinzipien entsprechend der SPORT- und FITT-Kriterien ([Tab. 1]).

Tab. 1 Trainingsprinzipien.

Akronym

Bedeutung

Fragestellung

Beispiel

S.P.O.R.T.

S

Specifity

Ist die Trainingsform geeignet, die gewünschte motorische Fähigkeit zu verbessern?

Krafttraining zur Verbesserung der Kraftfähigkeit

P

Progression

Erfolgt eine Steigerung/Anpassung des Trainingsreizes mit Adaptation an das Training?

5% Widerstandssteigerung, sobald 12 Wiederholungen à 3 Sätze durchgeführt werden konnten

O

Overload

Übersteigt der Trainingsreiz das für den Körper übliche Ausmaß, um eine Adaptation zu provozieren?

Trainingsvolumen nahe der muskulären Erschöpfung

R

Reversibility

Führt das Ausbleiben des Trainingsreizes zu einem Verlust der trainingsinduzierten Adaptationen?

Bekannt aus Detrainings Studien, in denen sich der Trainingeffekt bei Ausbleiben von Trainingsreizen wieder zurückbildet.

T

Tedium

Training kann monoton sein und dadurch langweilig werden, Variation kann diese Monotonie unterbrechen.

Umsetzung von Periodisierungsschemata

F.I.T.T.

F

Frequency

Wie oft pro Woche sollte trainiert werden?

2–3-mal pro Woche

I

Intensity

Wie hoch ist die Belastung im Training zu wählen?

70% 1RM

T

Time

Wie lange sollte die Belastung anhalten?

3 Sätze

T

Type

Welcher Art soll das Training sein?

Krafttraining

Die systematische Literaturrecherche entsprechend den PRISMA-Guidelines für Scoping Reviews resultierte schließlich in 20 Originalartikeln und zwei Sekundäranalysen mit insgesamt knapp 1000 Interventionspatienten, die in die finale Analyse eingeschlossen wurden. Von diesen 20 klinischen Studien waren jeweils fünf Studien aus der Onkologie bzw. dem Bereich der Atemwegserkrankungen (inkl. COPD), vier zum Thema Nierenerkrankung und jeweils drei zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Die mediane Stichprobengröße der Interventionsarme lag bei n=23 Patienten bei einer IQR von 18 bis 38. Die Interventionsdauern lagen im Mittel bei etwa einem halben Jahr, die Gesamtdauern reichten jedoch von vier Wochen bis zwei Jahren. In den Trainingseinheiten wurden durchschnittlich 7 Übungen durchgeführt, die Anzahl der Übungen variierte zwischen 3 und 11. In 15 der 20 Studien fand das Krafttraining ergänzend zu einem Ausdauertraining statt.


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FITT-Kriterien

Seitens der FITT-Kriterien wurde in 19 der 20 eingeschlossenen Arbeiten die Frequenz berichtet, in 16 die Intensität, in 15 die Dauer der einzelnen Trainingseinheiten sowie in 18 die Art des Trainings. Acht Studien versäumten mindestens eines der FITT-Kriterien zu berichten. Im Durchschnitt trainierten die Patienten 3,5-mal pro Woche (Range 1–7). Die Intensität wurde in 6 Studien anhand des Ein- oder Mehrwiederholungsmaximums bestimmt. In 5 Studien mittels des durch das Widerstandsband vorgegebenen Widerstandes, in drei Studien mithilfe der Wiederholungs- und Satzzahl und in zwei Studien anhand von Gewichten. Die Wiederholungszahl belief sich im Mittel auf 10 Wiederholungen pro Satz bei initial 1–3 Sätzen. Im Durchschnitt dauerte eine Trainingseinheit etwa eine halbe Stunde, je nach Studie variierte die Dauer zwischen 15 bis 70 Minuten. 14 Studien führten ein Training des Oberkörpers und der Beine durch, eine Studie nur Oberkörpertraining, in zwei Studien wurden lediglich die Beine trainiert. Von diesen 17 Studien gaben 10 eine detaillierte Auflistung der durchgeführten Übungen und/oder der beteiligten Muskelgruppen. Die drei verbleibenden Studien gaben keine Auskunft, welche Übungen oder Muskelgruppen trainiert wurden.


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SPORT-Kriterien

Hinsichtlich der SPORT-Kriterien können diese z.T. nur indirekt aus dem Text abgeleitet werden. Sicherlich ist die Sensitivität – Krafttraining soll die Kraftfähigkeit verbessern – in allen Studien gegeben. In vier Studien fand die Progression anhand der Sätze statt, wodurch die maximale Satzzahl sich auf 4 erhöhte. In acht Studien fand die Progression anhand der Wiederholungszahlen statt. Die maximale Wiederholungszahl belief sich im Mittel auf 16 Wiederholungen bei einer Range von 12 bis 30 Wiederholungen. Ansonsten wird aber im Review selbst nicht ganz klar, wie bzw. ob die verbleibenden SPORT-Kriterien berichtet wurden, lediglich, dass das Kriterium Overload zusammen mit Progression am häufigsten angesprochen wurde, findet im Gegensatz zu den Kriterien Reversibility und Tedium kurze Erwähnung.


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Supervision

Neben der obligatorischen, supervidierten Einführung folgten in 9 Studien weitere supervidierte Trainingseinheiten. Maximal waren knapp 1/3 der Trainingseinheiten überwacht. In 10 Studien, davon 6 Studien, in denen keine weiteren supervisierten Trainingseinheiten folgten, wurden die Patienten regelmäßig, d. h. wöchentlich bis monatlich, kontaktiert. Die Autoren heben allerdings hervor, dass die Supervision eine zentrale Einflussgröße im Hinblick auf den Trainingseffekt darstellte, wobei bereits eine regelmäßige telefonische Kontaktaufnahme wirksam sein könnte.


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Adverse Events

Die Mehrheit der Studien berichtete keine schwerwiegenden Adverse Events oder fanden keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollarm. In fünf Studien wurden muskuloskelettale Verletzungen oder Beschwerden berichtet, welche in einer Arbeit das weitere Training behinderten.


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Effekte des heimbasierten Trainings

In der Synthese der Effekte unterscheiden die Autoren zwischen reinen Krafttrainingsstudien (n=6) und jenen Studien, in denen das Krafttraining mit einem Ausdauertraining kombiniert wurde (n=16 inkl. der Sekundäranalysen). Entgegen den Erwartungen hat sich in lediglich 2 der reinen Krafttrainingsstudien eine signifikante Verbesserung der Kraftfähigkeit gegenüber der Kontrollgruppe gezeigt und in lediglich einer Arbeit eine Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit. Das Kombinationstraining zeigt sich dementgegen in der Mehrheit der Arbeiten eine Verbesserung der Kraft- und körperlichen Funktionsfähigkeit sowie in einer Vielzahl von weiteren Endpunkten.


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Diskussion

Gerade für Menschen mit NCD, die eng mit körperlicher Inaktivität assoziiert sind, muss jede Option, einen körperlich aktiven Lebensstil aufzunehmen, in Betracht gezogen werden. Heimbasiertes Krafttraining könnte hierbei eine logistisch einfache sowie zeit- und kostengünstige Möglichkeit bieten, die körperliche Funktionsfähigkeit und Gesundheit zu fördern. In ihrer Übersichtsarbeit zeigen Billany und Kollegen [7] allerdings, dass derartige Bewegungsprogramme in der bewegungswissenschaftlichen Literatur sehr heterogen sind, sowohl was ihre Wirksamkeit als auch was die Dokumentationsqualität der Interventionen selbst angeht. Überraschend ist, dass ausgerechnet die Interventionsteilnehmer in zwei Drittel der reinen Krafttrainingsinterventionen ihre Kraftfähigkeit nicht signifikant gegenüber der Kontrollgruppe steigern konnten. Noch erstaunlicher ist, dass die Kombinationsinterventionen hinsichtlich der Kraftfähigkeit wesentlich besser abschnitten und in nur einem Drittel der Studien keine signifikante Kraftsteigerung erzielten. Es stellt sich unmittelbar die Frage, wie die Patienten in den Krafttrainingsstudien überhaupt trainiert haben. Gerade die vielen Freiheitsgrade in der Trainingssteuerung heimbasierter Programme machen eine verlässliche und reproduzierbare Umsetzung eines Krafttrainings schwierig. Durch diese Unschärfe muss ferner befürchtet werden, dass selbst die Patienten derselben Studien deutlich unterschiedlich trainierten, auch trotz definierter Belastungsvorgaben, wie den FITT-Kriterien, als Minimalinformation. Aber auch hier versäumten beinahe die Hälfte der Studien, mindestens eine der vier FITT-Kriterien zu berichten, und machen eine Replikation damit unmöglich. Dennoch können Ideal und Wahrheit weit auseinander liegen; so beschrieben die in den Studien berichteten FITT-Kriterien zwar, wie die Trainingsintervention angesetzt war, nicht aber, wie die Patienten tatsächlich trainiert haben sowie ob und in wie vielen Fällen das Training adaptiert werden musste. Den SPORT-Kriterien wird darüber hinaus noch weniger Beachtung geschenkt, und finden in der Übersichtsarbeit selbst keine systematische Aufarbeitung. Die relevanteste praktischste Empfehlung, die aus der Übersichtsarbeit zu entnehmen ist, ist die Bedeutung der Supervision. Auch wenn die Daten eine quantitative Analyse nicht zuließen, waren vor allem jene Studien effektiv, in denen eine Betreuung der Patienten entweder in Person oder durch regelmäßige Anrufe stattfand.

Bislang liegen nur unzureichende Informationen zu heimbasiertem Krafttraining bei Menschen mit NCDs vor und es ist unklar, von welchen Faktoren der Erfolg entsprechender Intervention abhängig ist. Um dies zu klären bedarf es jedoch einer reproduzierbaren und detaillierten Dokumentation der Belastungsnormativa und Trainingsprinzpien in den Studien sowohl dahingehend, wie die Intervention geplant, aber auch, wie sie letztlich umgesetzt wurde.


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Maximilian Köppel
  • Literatur

  • 1 World Health Organization (WHO) Global status report on noncommunicable diseases 2014. World Health Organization; 2014
  • 2 Institute for health Metrics and Evaluation (IHME). GBD Compare Data Visualization https://vizhub.healthdata.org/gbdcompare/ Accessed July, 20, 2022
  • 3 World Health Organization (WHO) Global action plan for the prevention and control of noncommunicable diseases 2013–2020. World Health Organization; 2013
  • 4 Lee I-M, Shiroma EJ, Lobelo F. et al. Effect of physical inactivity on major non-communicable diseases worldwide: an analysis of burden of disease and life expectancy. The lancet 2012; 380: 219-229
  • 5 Sudeck G, Geidl W, Abu-Omar K. et al. Do adults with non-communicable diseases meet the German physical activity recommendations?. German Journal of Exercise and Sport Research 2021; 51: 183-193
  • 6 García-Hermoso A, Cavero-Redondo I, Ramírez-Vélez R. et al. Muscular strength as a predictor of all-cause mortality in an apparently healthy population: a systematic review and meta-analysis of data from approximately 2 million men and women. Archives of physical medicine and rehabilitation 2018; 99: 2100-2113 e2105
  • 7 Billany RE, Vadaszy N, Lightfoot CJ. et al. Characteristics of effective home-based resistance training in patients with noncommunicable chronic diseases: a systematic scoping review of randomised controlled trials. Journal of sports sciences 2021; 39: 1174-1185

Korrespondenzadresse

Maximilian Köppel
Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS) e. V.
Vogelsanger Weg 48
50354
Hürth-Efferen
Deutschland   

Publication History

Article published online:
10 October 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 World Health Organization (WHO) Global status report on noncommunicable diseases 2014. World Health Organization; 2014
  • 2 Institute for health Metrics and Evaluation (IHME). GBD Compare Data Visualization https://vizhub.healthdata.org/gbdcompare/ Accessed July, 20, 2022
  • 3 World Health Organization (WHO) Global action plan for the prevention and control of noncommunicable diseases 2013–2020. World Health Organization; 2013
  • 4 Lee I-M, Shiroma EJ, Lobelo F. et al. Effect of physical inactivity on major non-communicable diseases worldwide: an analysis of burden of disease and life expectancy. The lancet 2012; 380: 219-229
  • 5 Sudeck G, Geidl W, Abu-Omar K. et al. Do adults with non-communicable diseases meet the German physical activity recommendations?. German Journal of Exercise and Sport Research 2021; 51: 183-193
  • 6 García-Hermoso A, Cavero-Redondo I, Ramírez-Vélez R. et al. Muscular strength as a predictor of all-cause mortality in an apparently healthy population: a systematic review and meta-analysis of data from approximately 2 million men and women. Archives of physical medicine and rehabilitation 2018; 99: 2100-2113 e2105
  • 7 Billany RE, Vadaszy N, Lightfoot CJ. et al. Characteristics of effective home-based resistance training in patients with noncommunicable chronic diseases: a systematic scoping review of randomised controlled trials. Journal of sports sciences 2021; 39: 1174-1185

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