physiopraxis 2022; 20(10): 26-31
DOI: 10.1055/a-1906-4403
Therapie

Folgenschwer – Auf der Intensivstation erworbenes Schwächesyndrom

Bettina Scheffler
 

Eine schwere Krankheit dank intensivmedizinischer Behandlung zu überleben hat häufig vielschichtige Folgen, die weit über den Krankenhausaufenthalt hinausgehen. Die Covid-19-Pandemie zeigt eindrücklich, dass es Strategien benötigt, diese möglichst zu vermeiden. Die Physiotherapie spielt dabei eine wichtige Rolle.


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PICS
Ein auf der ITS erworbenes Schwächesydrom tritt meistens innerhalb eines Post-Intensivpflegesyndroms (PICS) auf.

Nach einer intensivmedizinischen Behandlung kann es in Folge zu langanhaltenden Beeinträchtigungen kommen, die die Lebensqualität weit über den Krankenhausaufenthalt hinaus oder sogar dauerhaft einschränken. Seit 2012 wird die Konstellation aus körperlichen, psychischen und kognitiven Symptomen als Post-Intensivpflege-Syndrom (engl. Post-Intensive Care Syndrome (PICS)) beschrieben, dem auch das auf der Intensivstation erworbene Schwächesyndrom zuzuordnen ist [22].

Im Verlauf der Corona-Pandemie wurden vermehrt Menschen auf Intensivstationen behandelt und waren damit Risikofaktoren ausgesetzt, die ein PICS begünstigen können. Expert*innen weisen nun auf eine mögliche sich anschließende PICS-Epidemie hin [2], [14]. Schwere Covid-19-Verläufe können zu Lungenentzündungen mit akutem Atemnotsyndrom und Multiorganversagen führen, was eine orotracheale Intubation mit invasiver maschineller Beatmung meist unumgänglich macht. Aufgrund der hohen Übertragbarkeit des Virus sind die erforderlichen Pflegemaßnahmen nur erschwert möglich. Die Isolation zögert eine frühe Mobilisierung häufig hinaus, und Besuche durch Angehörige sind oft nicht oder nur eingeschränkt möglich. Auch für das Gesundheitspersonal und die Angehörigen ist die Covid-19-Pandemie enorm belastend. Aus diesen Umständen ergeben sich zusätzliche Risikofaktoren, die ein PICS begünstigen und damit längerfristig das tägliche Leben sowie die Lebensqualität einschränken können (ABB. 1, S. 27).

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ABB. 1 Konzeptioneller Rahmen von Covid-19 und der Entwicklung eines Post-Intensive-Care-Syndroms Quelle: adaptiert nach Nakanishi et al. 2021 und Ramnarain et al. 2021 [21], [30]

Systemische Auswirkungen möglich

Zu den körperlichen Symptomen des PICS zählen Schmerzen, Schlafstörungen, Fatigue, eine verminderte Lungenfunktion und neuromuskuläre Schwäche. Diese können über Monate oder teilweise Jahre bestehen und beeinträchtigen die Alltagskompetenzen sowie die Lebensqualität der Patient*innen und ihrer Angehörigen [24].

Da es bislang keine konkrete Definition des PICS sowie keine definierten Diagnosekriterien gibt, ist unbekannt, wie viele Personen nach intensivmedizinischen Behandlungen tatsächlich davon betroffen sind. Je nachdem, ob man eine oder zwei (64 %) oder alle drei Funktionsebenen (4 %) nach einem Jahr betrachtet, variiert die Erkrankungshäufigkeit stark [17]. Weiterhin entwickeln nicht alle Patient*innen ein PICS. Es gibt sowohl Risikofaktoren, die das Individuum betreffen (höheres Alter, weibliches Geschlecht und finanzieller Status, Persönlichkeitsmerkmale und prämorbide Komorbiditäten), als auch solche, die der intensivmedizinischen Behandlung (z. B. Diagnose, intensivmedizinische Maßnahmen und Komplikationen) zuzuschreiben sind [30]. Wichtig anzumerken ist, dass sich das PICS nicht nur auf die Überlebenden einer kritischen Krankheit selbst auswirkt, sondern dass es auch systemisch pflegende Angehörige betrifft. Dies wird als PICS-F (PICS-Family) bezeichnet (ABB.1, S. 27).

Durch die Corona-Pandemie könnte die Anzahl an PICS-Fällen ansteigen.


Schwächesyndrom infolge kritischer Erkrankung

Das häufigste Symptom, welches alleine oder innerhalb des zuvor erläuterten Symptomkomplexes eines PICS auftreten kann, ist die neuromuskuläre Schwäche der Extremitäten- und Atmungsmuskulatur [15]. Diese Schwäche ist nicht auf eine Grunderkrankung zurückzuführen und übersteigt ein Maß, das alleinig durch Immobilität erklärt werden kann. Somit gibt es keine andere plausible Ursache als die kritische Erkrankung selbst [9]. Diese sekundäre Krankheitsfolge wird als das auf der Intensivstation (ITS) erworbene Schwächesyndrom (engl. Intensive Care Unit-Acquired Weakness) bezeichnet. Begünstigt werden kann es durch eine schwere Sepsis, Hyperglykämie, akutes Lungenversagen, Multiorganversagen oder eine prolongierte Beatmung bzw. ein erschwertes Weaning (Entwöhnung) von maschineller Beatmung [9]. Auch nicht modifizierbare Faktoren wie das weibliche Geschlecht, eine höhere Krankheitslast oder fortgeschrittenes Alter und prämorbide Adipositas sind mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines auf der ITS erworbenen Schwächesyndroms assoziiert [37].

Die mittlere Krankheitshäufigkeit des auf der ITS erworbenen Schwächesyndroms beläuft sich, einer Übersichtsarbeit von 31 Studien zufolge, auf 43 % (Interquartilsabstand (IQA) 25–75 %) [7]. Unter den Covid-19-Patient*innen sind etwa 27–72 % betroffen [36]. Mittelfristig führt insbesondere die Schwäche der Extremitäten- und Atemmuskulatur zu einer verzögerten Entwöhnung von der maschinellen Beatmung sowie zu einem verlängerten Intensivaufenthalt [10].


Prognose hängt von vielen Faktoren ab

Im Langzeitverlauf können eingeschränkte Körperfunktionen und Aktivitäten sowie Limitierungen der Lebensqualität und Teilhabe noch Monate oder Jahre bestehen [13], [31], [36]. Darüber hinaus ist das auf der ITS erworbene Schwächesyndrom mit einer erhöhten Sterblichkeit innerhalb eines Jahres assoziiert [7]. Die Verläufe von Menschen mit einem auf der ITS erworbenen Schwächesyndrom können, je nach Alter, prämorbider körperlicher Verfassung und Dauer der Intensivbehandlung sehr verschieden sein. Laut Nicola Latronico und seinen Kolleg*innen haben gesunde junge Menschen mit kurzer Behandlungsdauer eine größere Chance, ihren vormaligen Funktionszustand wiederzuerlangen und sich schneller zu erholen als junge Menschen mit Komorbiditäten oder Ältere (über 70 Jahre) mit schweren Begleiterkrankungen und längerem Intensivaufenthalt [16].


Komplexer Pathomechanismus

Ursächlich für das auf der ITS-erworbene Schwächesyndrom sind verschiedene Pathologien, die in eine Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP), Critical-Illness-Myopathie (CIM) oder einer Kombination aus beidem (Critical-Illness-Neuromyopathie (CINM) unterteilt werden können und zu einer Muskelatrophie und Muskeldysfunktion führen [12]. Die zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozesse sind noch nicht vollständig untersucht. Der derzeitige Wissensstand resultiert überwiegend aus tierexperimentellen Studien.

Forschende vermuten ein komplexes Zusammenspiel aus strukturellen/funktionellen Veränderungen des zentralen sowie peripheren Nervensystems und der Muskelfasern. Der ausgeprägte Muskelschwund kritisch Kranker lässt sich neben Immobilisierung, auf vermehrte katabole Stoffwechselzustände (verringerte Proteinsynthese bei gleichzeitig beschleunigtem Abbau von Myosin) zurückführen. Darüber hinaus könnten folgende unterschiedliche Mechanismen die Muskel- und Nervenfunktion beeinträchtigen [37]:

  • Entzündungen, Nekrosen und Infiltrationen mit Fettgewebe sowie Fibrosierungen im Muskelgewebe

  • veränderte Mikrozirkulation mit Vasodilatation und einer erhöhten Gefäßpermeabilität, die zu endoneuralen Ödemen führen

  • ein erhöhter Interkapillarabstand mit verminderter Blut- und Sauerstoffversorgung, der sowohl die Muskulatur selbst als auch die Axone schädigt, was zu einer Denervierung führt

  • mögliche ödembedingte Kompressionsschäden

  • Entzündungen, Hyperglykämie und weitere Faktoren beeinträchtigen die mitochondriale Energiebereitstellung in den Nerven sowie der Muskulatur, was durch Sauerstoffmangel verstärkt werden kann.

  • Aufgrund unzureichender Autophagie (insbesondere bei Critical-Illness-Myopathie, s. u.) akkumulieren Schäden der Zellorganellen und Proteine, und verursachen zusätzliche degenerative muskuläre Veränderungen.

  • Inaktive Natriumkanäle beeinträchtigen die Erregbarkeit der Nervenzellen, und eine veränderte intrazelluläre Kalziumhomöostase unterbindet somit die elektromechanische Kopplung.


Polyneuro- und Myopathien nach kritischer Krankheit

Klinisch äußern sich bei CIP/CIM symmetrisch verteilte schlaffe Paresen ([ TAB. 1 ]). Diese stellen sich bei einer CIP eher distal und bei einer CIM eher proximal betont dar. In vielen Fällen sind zusätzlich das Zwerchfell sowie die Atemhilfsmuskulatur betroffen. Bereits nach wenigen Stunden unter maschineller Beatmung können Atrophien und kontraktile Dysfunktionen entstehen und in Folge den Prozess der Entwöhnung vom Beatmungsgerät deutlich verlängern [29]. Selten werden Beeinträchtigungen der Hirnnerven oder der fazialen Muskulatur beschrieben. Bei einer CIM sind früh im Krankheitsverlauf Muskelatrophien auffällig, wohingegen bei der CIP eher Hyporeflexien zu beobachten sind. Des Weiteren grenzen vorhandene Sensibilitätsstörungen die CIP von der CIM ab [12].

TAB. 1 Merkmale des auf der ITS erworbenen Schwächesyndroms [41]

Merkmal

CIP

CIM

Schwäche

schlaff, distal betont

schlaff, proximal betont

Muskelatrophie

(±)

(±)

Beatmungsversagen

(±)

(±)

Muskeleigenreflexe

Hypo-/Areflexie

Normo-/Hyperreflexie

Sensibilitätseinschränkungen

(+)

normal

Okuläre Muskulatur

(-)

selten

Klinisch äußern sich symmetrisch verteilte schlaffe Paresen.


Diagnostik von individuellem Zustand abhängig

Bislang gibt es keinen Konsens über den Zeitpunkt und die Methode der Diagnosestellung einer CIP, CIM oder CINM oder die Berücksichtigung der vorher genannten Merkmale der Pathomechanismen [37].

Bei Patient*innen, deren Willkürmotorik aufgrund hoher Krankheitslast (z. B. Sedierung, neuromuskuläre Blocker) limitiert ist, eignen sich elektrophysiologische Untersuchungsmethoden zur Diagnostik. Sind die Patient*innen hingegen in der Lage, einen Muskelfunktionstest durchzuführen, kann man die Medical-Research-Council-Skala (MRC-Skala) zur Quantifizierung der Muskelkraft und zur klinischen Diagnostik einsetzen ([ TAB. 2 ]). Während sich der Patient bzw. die Patientin in sitzender Position befindet, beurteilt man die Kraft von je drei Muskelgruppen der oberen und unteren Extremitäten. Die Bewertung erfolgt dabei abgestuft von 0 Punkten (keine Muskelkontraktion) bis 5 Punkte (volle Kraft). Das Vorliegen eines auf der ITS erworbenen Schwächesyndroms ist durch einen Cut-off-Wert von < 48/60 Punkten definiert [30]. MRC-Werte unter 55/60 Punkten weisen auf Einschränkungen der körperlichen Funktionen und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie auf eine erhöhte Sterblichkeit im Verlauf der folgenden fünf Jahre hin [36]. Setzt man die Griffkraft-Dynamometrie zur Diagnostik ein, sind Ergebnisse von weniger als 11 kg (IQA 10–40) bei Männern und weniger als 7 kg (IQA 0–7,3) bei Frauen als auf der ITS erworbenes Schwächesyndrom zu interpretieren [25].

TAB. 2 Kraftstufen nach Medical Research Council (MRC) [34]

Kraftstufe

Definition

0

Der Muskel ist absolut inaktiv.

1

Eine Kontraktion der Muskulatur oder ein Anspannen der Sehne wird deutlich vom Tester wahrgenommen.

2

Die Bewegung wird vollständig ohne Schwerkrafteinfluss ausgeführt.

3

Die Bewegung wird vollständig gegen die Schwerkraft ausgeführt.

4

Die Bewegung wird vollständig gegen die Schwerkraft mit einem starken Widerstand ausgeführt.


Internet – Assessments

Unter bit.ly/Physio-Assessments finden sich weiterführende Informationen zu den Assessments.

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Frühreha
Studien weisen darauf hin, dass sich das Risiko, ein auf der ITS erworbenes Schwächesyndrom zu entwickeln, durch eine Frührehabilitation um 29–37 % reduzieren lässt.


Körperliche Funktionen prüfen

Da das auf der ITS erworbene Schwächesyndrom wie anfangs erklärt meist innerhalb des komplexen Beschwerdebilds PICS auftritt und es sich um Menschen mit einer kritischen Erkrankung handelt, sollte die physiotherapeutische Befundung und Behandlung ganzheitlich ausgerichtet sein. Die Komplexität der Beschwerden erfordert eine koordinierte interdisziplinäre Behandlung, die sich auf alle Funktionsebenen beziehen und über eine Krankenhausbehandlung hinaus fortbestehen sollte.

Physiotherapeut*innen sind die Expert*innen für Bewegung, und ihr Fokus liegt häufig auf der Wiederherstellung der Körperfunktionen und der Befähigung zu einer möglichst selbstständigen Lebensweise. Ihre Kompetenzen sind während aller Versorgungsphasen von Menschen mit PICS gefragt [3]. Die Effektivität physiotherapeutischer Behandlungsansätze wurde jedoch bislang noch nicht ausreichend untersucht [19]. Eine erste S2e-Leitlinie zur Behandlung von Patient*innen mit PICS wird erst diesen Herbst 2022 erwartet. Die Empfehlungen eines standardisierten Screenings und Assessments von Menschen mit PICS beruhen auf Meinungen von Expert*innen [20]. In Ergänzung zur MRC-Skala und Griffkraft werden weitere bekannte Tests und Assessments zur Evaluation körperlicher Funktionen in der Literatur benannt (INTERNET, S. 29) [21], [33]:

  • 2- oder 6-Minuten-Gehtest

  • Timed-up-and-go-Test

  • EQ-5D-5L

  • SF-36

  • Barthel-Index

  • Functional Independence Measure

  • Short Physical Performance Battery

Als Assessments zur Schmerzbeurteilung von kritisch kranken Patient*innen eignen sich die Behavioral Pain Scale (BPS) und das Critical Care Pain Observational Tool (COPS). Sie lassen sich einzeln oder ergänzend einsetzen. Beide Assessments funktionieren nonverbal und beruhen auf der Beobachtung der Patient*innen (Mimik oder Muskeltonus etc.).


Frühmobilisierung

Derzeit gibt es keine effektivere Möglichkeit, der Entwicklung eines auf der ITS erworbenen Schwächesyndroms vorzubeugen, als die Risikofaktoren (z. B. Hyperglykämie, parenterale Ernährung, Sedierung) zu kontrollieren [37]. Da auch Immobilität zu den Risikofaktoren zählt, scheint frühzeitige Mobilisierung ein probates Mittel, um diese zu adressieren. Studien weisen darauf hin, dass Frührehabilitation das Risiko für die Entwicklung eines auf der ITS erworbenen Schwächesyndroms um 29–37 % reduzieren, kurzfristig körperliche Funktionen verbessern und den Krankenhausaufenthalt verkürzen kann [1, 8, 35]. Die frühe Mobilisierung erfolgt progressiv und angepasst an den Bewusstseinszustand bzw. Sedierungsgrad sowie die kardiopulmonalen und muskuloskelettalen Voraussetzungen der Patient*innen. Zu den Optionen der Frühmobilisierung zählen passive (z. B. passive Vertikalisierung, neuromuskuläre Elektrostimulation), assistive (z. B. Bettfahrrad, Bewegungsübungen) oder aktive (funktionelle Übungen, Kräftigung) Maßnahmen. Diese sollten unmittelbar nach physiologischer Stabilisierung bzw. binnen der ersten 72 Stunden initiiert werden [11].

Entgegen den zu erwartenden positiven Wirkungen und geringen Sicherheitsbedenken ist die Implementierung der Frühmobilisation eingeschränkt. Hindernisse in der Umsetzung bestehen seitens der Patient*innen, des interdisziplinären Behandlungsteams sowie der Organisation. Einige dieser Faktoren können Physiotherapeut*innen positiv beeinflussen. Hierzu zählen z. B. eine positive Teamkultur, Teammeetings sowie Kooperation im interdisziplinären Team [11]. Physiotherapeut*innen sollten die Therapieeinheiten akribisch planen. Insbesondere dann, wenn sie ein Gehtraining mit beatmeten Patient*innen anstreben, sollten sie diese kritisch auf ihre Eignung hin screenen. Außerdem muss im Vorfeld abgeklärt sein, ob entsprechende personelle und technische Ressourcen verfügbar sind, um die Sicherheit und Effektivität der Maßnahme zu gewährleisten. Zur technischen Ausstattung zählen zum Beispiel ein mobiles Beatmungsgerät, ein mobiler Monitor zur kontinuierlichen Überwachung der Vitalparameter und Transportmöglichkeiten für Infusionspumpen bei intravenöser Medikation. Besondere Vorsicht gilt in Bezug auf alle medizinischen Zugänge und Ableitsysteme, damit es nicht zur Diskonnektion kommt. Bei gehfähigen Patient*innen helfen Gehhilfen (z. B. Rollator), das Gleichgewicht zu sichern. In jedem Fall sollte ein Rollstuhl hinter den Patient*innen mitgeführt werden, damit sie sich bei Ermüdung oder Komplikationen jederzeit setzen können.


Physiotherapeutische Maßnahmen

Passive (Lagerung, Atmungstherapie) und funktionelle Maßnahmen (Sitz, Aufsteh- und Gehtraining) sind in Deutschland die am häufigsten angewandten Interventionen bei Patient*innen mit CIP/CIM [18]. Wenige dieser Interventionen sind in der Behandlung von Patient*innen mit dem auf der ITS erworbenen Schwächesyndrom hinreichend wissenschaftlich belegt und können zur Anwendung empfohlen werden. Hodgson und Tipping fassen die Studienlage zusammen und stellen folgende Maßnahmen als potenziell wirksam heraus [11]:

Neuromuskuläre Elektrostimulation

Die Neuromuskuläre Elektrostimulation (NMES) erzeugt passive Kontraktionen der Skelettmuskulatur, ohne dass die Patient*innen mitwirken müssen. Dabei werden Niederspannungsimpulse transkutan mittels Oberflächenelektroden über der Zielmuskulatur appliziert. Bei Gesunden, chronisch Kranken und Menschen, die maschinell beatmet waren, konnten Wissenschaftler*innen zeigen, dass NMES Muskelkraft erhält oder steigert und somit einer Muskelatrophie vorbeugt [23]. Bei chronisch erkrankten Personen bildeten sich die Effekte sogar in einer verbesserten körperlichen Funktion (6-Minuten-Gehtest) ab. Diese Ergebnisse scheinen auch auf Patient*innen im intensivmedizinischen Kontext übertragbar zu sein [5], [39].

Die Komplexität der Beschwerden erfordert eine koordinierte interdisziplinäre Behandlung, die sich auf alle Funktionsebenen beziehen sollte.

In Form der funktionellen elektrischen Stimulation (FES) wird die Muskelstimulation mit passiven Bewegungen (z. B. Bettfahrradergometrie) gekoppelt. Als Ergänzung zur Standardbehandlung konnten Waldauf und Kolleg*innen jedoch keinen funktionellen Mehrwert nachweisen [40].


Fahrradergometrie

Bei der Fahrradergometrie trainieren die Patient*innen passiv, assistiv oder aktiv an einem stationären Fahrrad. Bei sedierten oder immobilen Patient*innen kommen in der Regel die Bettfahrradergometer zum Einsatz. Patient*innen mit stabilen Vitalparametern und ausreichender Gelenkbeweglichkeit in sitzender Position können an einem Rollstuhlfahrradergometer trainieren. Studien belegen, dass diese Art des Trainings die isometrische Kraft der Oberschenkelmuskulatur, den selbst-wahrgenommenen funktionellen Status sowie die Trainingskapazität (6-Minuten-Gehtest) verbessert [11]. In einer Studie verglichen Forschende die Rollstuhlfahrradergometrie mit einem Kräftigungsprogramm sowie mit der Standardbehandlung. Die Patient*innen, die über vier Wochen täglich 20 Minuten am Rollstuhlergometer trainierten, verbesserten nachweislich die Kraft der unteren Extremität und des Rumpfes sowie ihre kardiovaskuläre Belastbarkeit. Die Gruppe, die ein zusätzliches Krafttraining erhielt, verbesserte hingegen ihre Gehgeschwindigkeit signifikant [38].


Kräftigung der inspiratorischen Muskulatur

Die Kräftigung der inspiratorischen Muskulatur ist eine Möglichkeit, die Kraft des Zwerchfells, auch unter maschineller Beatmung, zu verbessern. Eine Metaanalyse untersuchte diesbezüglich ein an den maximalen Einatemdruck angepasstes Schwellentraining (mittels Einatemtrainer via Mundstück oder angeschlossen an das Tracheostoma) sowie die Anpassung der Empfindlichkeit des Beatmungsgerätes auf Atemtrigger. Positive Ergebnisse zeigten sich in Hinblick auf den maximalen Einatemdruck (Maximal Inspiratory Pressure (MIP)), Rapid Shallow Breathing Index sowie den Weaning-Erfolg. Hodgson und Tipping kritisieren jedoch die Verschiedenheit der eingeschlossenen Studienteilnehmer*innen sowie Unterschiede in den Interventions- sowie Kontrollprotokollen der Studien [11].


Weiterführende neurologische Rehabilitation

Menschen mit CIP/CIM sind in Deutschland die zweitgrößte Patient*innengruppe in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation [28]. Studien untersuchten vor allem Ergometertraining für die obere und untere Extremität, Gehtraining, Kräftigung und schriftliche Anleitungen zum Eigentraining als potenziell effektive Rehabilitationsmaßnahmen im Anschluss an die Intensivbehandlung. Auch kombinierte Übungsprogramme der ambulanten Physiotherapie stehen im Fokus [11]. Wenngleich die Akzeptanz für ein standardisiertes ambulantes Physiotherapieprogramm als gut einzuschätzen war, konnten, verglichen mit einer Standardbehandlung, bisher keine Vorteile hinsichtlich funktioneller Parameter und Lebensqualität, Angst oder Depressivität bestätigt werden [6].



Fazit

Physiotherapeut*innen werden zukünftig noch häufiger mit Patient*innen mit auf der ITS erworbenem Schwächesyndrom und anderen PICS-Symptomen konfrontiert werden. Das Erkennen von Risikofaktoren, ein regelmäßiges Assessment sowie frühzeitige präventive und rehabilitative Maßnahmen haben das Potenzial, Langzeitfolgen für die Betroffenen, ihr soziales Umfeld und die Gesellschaft zu reduzieren.

Bettina Scheffler



Autorin

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Bettina Scheffler ist Physiotherapeutin und MSc Neurorehabilitation. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Therapiewissenschaften der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg tätig. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf der Implementierung evidenzbasierter Erkenntnisse in der neurologischen Rehabilitation.

Publication History

Article published online:
19 October 2022

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Bettina Scheffler ist Physiotherapeutin und MSc Neurorehabilitation. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Therapiewissenschaften der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg tätig. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf der Implementierung evidenzbasierter Erkenntnisse in der neurologischen Rehabilitation.
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ABB. 1 Konzeptioneller Rahmen von Covid-19 und der Entwicklung eines Post-Intensive-Care-Syndroms Quelle: adaptiert nach Nakanishi et al. 2021 und Ramnarain et al. 2021 [21], [30]
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