ergopraxis 2023; 16(01): 30-33
DOI: 10.1055/a-1930-2666
Therapie

Partizipation als Dreh- und Angelpunkt – Canadian Model of Occupational Participation

Helen Strebel
 

2022 veröffentlichte der kanadische Ergotherapieverband das Canadian Model of Occupational Participation (CanMOP). Dabei handelt es sich um ein neues Inhaltsmodell, das die Betätigungsperformanz von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt stellt.


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Sicher fragen sich einige, warum der kanadische Ergotherapieverband CAOT nach 1997 und 2007 in der aktuellen Publikation von 2022 ein neues Inhaltsmodell, das Canadian Model of Occupational Participation (CanMOP), sowie ein überarbeitetes Prozessmodell, den Canadian Occupational Therapy Inter-Relational Practice Process (COTIPP), präsentiert.

Durch gesellschaftliche Veränderungen und berufsinterne Entwicklungen müssen sich Modelle, die den aktuellen Gegebenheiten entsprechen wollen, in regelmäßigen Abständen anpassen. Betrachtet man die Entwicklungen des kanadischen Inhaltsmodells, so wird deutlich, dass die ersten Veröffentlichungen die Performanz, d. h. die Ausführung von Betätigung in verschiedenen Bereichen (Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit), in den Mittelpunkt stellen. In den folgenden Veröffentlichungen 2007 und 2013 wurde das Engagement, was auch das passive „Dabeisein“ bei einer Betätigung inkludiert, als relevanter Aspekt hinzugefügt. Die Co-Herausgeberinnen der neusten Auflage des kanadischen Modells CanMOP, Mary Egan und Gay Restall, sowie die umfangreiche Autor*innenschaft bauen auf die bisherigen Publikationen des CAOT auf, erweitern diese jedoch um die Betätigungspartizipation von Individuen oder Gemeinschaften wie Familien, Gruppen oder Populationen.

Kritische Auseinandersetzung

Die Autor*innen thematisieren kritisch die Kolonialisierung und deren Folgen auf Betätigungsausführung und Teilhabe – primär der indigenen Bevölkerung Kanadas. Des Weiteren werden bei der Auseinandersetzung mit der nationalen und internationalen Perspektive auf Betätigung, Benachteiligungen von Menschengruppen sowie normative Erwartungen bezüglich Betätigungen, die überwiegend von einer weißen, weiblichen, aus der Mittelschicht stammenden Gruppe vorgegeben werden, diskutiert. Indem Autor*innen mit unterschiedlichen Wurzeln und/oder diverser geschlechtlicher Orientierung zu Wort kommen, wird die Perspektive von benachteiligten Personengruppen inkludiert.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, Geschichte und Perspektive nimmt einen zentralen Stellenwert im CanMOP ein und bedingt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Klientenzentrierung, was zu einem erweiterten Ansatz führt: die Collaborative Relationship-Focused Practice. Dazu erfahren Sie in ergopraxis 2/22 mehr.


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Struktur

Prozessmodelle strukturieren das ergotherapeutische Vorgehen im beruflichen Kontext. Das neue kanadische Inhaltsmodell CanMOP sowie das Canadian Occupational Therapy Inter-Relational Practice Process Framework COTIPP wurden in einem iterativen Prozess von Restall et al. entwickelt, um es mit Individuen, Familien, Gruppen, Gemeinden und Populationen in einem institutionellen oder gemeindenahen Setting anzuwenden [1]. Um einen etwas vertiefenden Einblick in die Neuerungen des kanadischen Modells zu ermöglichen, werden im Folgenden die relevantesten Aspekte aufgegriffen und dargestellt.


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Das neue Inhaltsmodell

Das CanMOP beinhaltet sechs grundlegende Aspekte [2]:

  • Der Fokus liegt auf der Betätigungspartizipation.

  • Betätigungen werden nicht mehr kategorisiert.

  • Die individuelle Bedeutung von Betätigung findet explizit Berücksichtigung.

  • Ein fundiertes Wissen über die Auswirkungen von Performanzkomponenten sowie Umweltaspekten auf die Betätigungs- partizipation ist grundlegend.

  • Die Lebenslaufperspektive bezogen auf das Individuum und Gruppen (z. B. eine Kommune) wird berücksichtigt.

  • Die Möglichkeiten zur Betätigungspartizipation werden auf Mikro-, Meso- und Makroebene eruiert, sodass die Unterteilung in diese drei Ebenen das Modell in verschiedenen Bereichen durchzieht.

Der Hauptfokus des Modells liegt, wie sein Name schon verdeutlicht, auf der Betätigungspartizipation, die Egan & Restall als Zugang, Initiierung und Aufrechterhaltung von wertvollen Betätigungen in bedeutungsvollen Beziehungen und Kontexten definieren [2]. Die Betätigungspartizipation bezieht die Betätigungsausführung und das Engagement mit ein.

Das neue kanadische Inhaltsmodell Modell dient als Brille, um folgende Aspekte zu verstehen:

  • welche Bedeutung eine Betätigung für das Individuum oder eine Gemeinschaft hat, d. h. das „Warum“ einer Betätigung

  • notwendige Bedingungen erkennen, um die jeweilige Betätigung in einer bedeutungsvollen Weise auszuführen

  • zu erkennen, wie Zugänge und Möglichkeiten durch das kontextbezogene Handeln von Expert*innen zur Erweiterung oder Erhaltung von Betätigungspartizipation beitragen können

Das Zusammenspiel zwischen Bedeutung und Zweck einer Betätigung sowie die Zugänge, um diese Betätigung ausführen zu können, formt die Betätigungspartizipation. Dabei beeinflussen einerseits die dahinterliegenden historischen Aspekte wie die Lebenslaufperspektive der Personen und Familien sowie auch die Geschichte einer Gemeinschaft oder Gruppe die Bedeutung, die einer Betätigung zugeschrieben wird (ABB.). Andererseits wird die Bedeutung geformt durch die Beziehungen, die das Individuum oder eine Gruppe zur Betätigung aufrechterhält. Die Umwelt, die in Mikro-, Meso- und Makroebene strukturiert ist, bildet die Zugänge, zur (Wieder-)Aufnahme und zur Aufrechterhaltung von Betätigungspartizipation ab.

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ABB. Das CanMOP stellt die Betätigungspartizipation in den Mittelpunkt. Darum herum liegen die Felder „Meaning, Purpose“ (= Bedeutung, Zweck) und „Possibilities: Access, Initiate, Sustain“ (= Möglichkeiten: Zugang, Beginnen, Beibehalten). Diese sind wiederum eingebettet in die Bereiche „History, Relationships“ (= Geschichte, Beziehungen) und „Context: Micro, Meso, Macro“ (= Kontext: Mikro-, Meso- und Makroebene).© Egan M, Restall R. Canadian model of occupational participation (CanMOP). In: Egan M, Restall G, editors. Promoting occupational participation: collaborative relationship-focused occupational therapy. Ottawa, CA: Canadian Association of Occupational Therapists. 2022. p. 77 [rerif]

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Fallgeschichten betrachten

Mithilfe des CanMOP lassen sich individuelle Situationen von Klient*innen betrachten, zum Beispiel die Fallgeschichte des 20-jährigen Julius*. Er hat deutliche kognitive Einschränkungen, die aus einem Sturz im Kleinkindalter resultieren. Die Betätigungspartizipation an einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ist für Julius daher erschwert. Der junge Mann hat seine schulische Ausbildung an einer inklusiven Gesamtschule ohne Abschluss beendet und einige Praktika in verschiedenen Einrichtungen wie Handwerksbetrieben und in der Gastronomie absolviert. Er würde beruflich gerne in einer Gärtnerei tätig werden. In Hinblick auf das „Warum“ gibt Julius an, dass ihm die Arbeit in der Natur viel Freude bereite und er sich während des Berufspraktikums in diesem Bereich sehr ausgeglichen und wohl gefühlt habe. Einfache Tätigkeiten könne er auf Anweisung selbstständig ausführen, jedoch bedarf es einer dauerhaften Begleitung, um prozesshafte Strukturen zu verinnerlichen.

Die trägerbezogenen Einrichtungen können Julius keinen Arbeitsplatz im Gartenbereich zusagen, da über die Verteilung bedarfsorientiert aus Perspektive der Einrichtungen entschieden wird. Aktuell ist Julius deshalb auf dem zweiten Arbeitsmarkt in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung (WfBM) tätig. Dort sortiert er unterschiedliche Schrauben in Kartons, was für den 20-Jährigen keine zufriedenstellende berufliche Tätigkeit darstellt. Bezüglich der Lebenslaufperspektive kommt Julius aus einer Familie, in der die freie berufliche Entfaltung einen großen Stellenwert erfährt. Aktuell wird Julius von seiner Familie emotional in seiner beruflichen Findung unterstützt, jedoch ermöglichen die gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen momentan nicht, dass Julius dauerhaften Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhält oder auf dem zweiten Arbeitsmarkt in seinem Interessenbereich tätig wird.

Das CanMOP zeigt Faktoren auf, die Betätigungspartizipation ermöglichen oder behindern können.

Durch die Brille des CanMOP wird deutlich, dass Julius‘ Betätigungspartizipation durch Vorgaben im Mesokontext stark eingeschränkt wird. Die strukturellen Gegebenheiten der Einrichtung ermöglichen es Julius nicht, die im Makrokontext geschaffenen gesetzlichen Rahmenbedingungen des Bundesteilhabegesetzes auszuschöpfen. Dieses Gesetz propagiert passgenaue Leistung und Förderung für jeden Menschen mit Behinderung, um für ihn die größtmögliche Teilhabe am Arbeitsleben zu erreichen [4].

Somit wird deutlich, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit kontextbezogenen Rahmenbedingungen und daraus resultierenden Barrieren und Ressourcen für die Ergotherapie hat. Durch das CanMOP weitet sich das Verständnis für eine eingeschränkte Betätigungspartizipation. Der Fokus, der überwiegend auf die individuellen Einschränkungen gerichtet ist, wird um die Umweltbedingungen ergänzt.

Um Julius und seine Familie bei dem Prozess der angemessenen Arbeitsplatzsuche zu unterstützen, könnten Ergotherapeut*innen unter anderem eine Beratung durch eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung empfehlen bzw. initiieren.


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Partizipation hat seine Wurzeln

Die Geschichte von Gemeinschaften spiegelt sich zum Beispiel in der Partizipation an verschiedenen Sportarten wider. So gibt es aufgrund finanzieller und kultureller Hürden verknappte Zugänge zu Sportarten wie Tennis, Hockey, Reiten, Schwimmen oder Radsport. Tennis, als „Sport der Weißen“, der Elite und später der Mittelklasse zeigt, wie Zugänge zu Tennisvereinen für nicht weiße Personen ein Hindernis darstellen. Oder dass People of Color systematisch von Schwimmbetrieben ferngehalten wurden und somit bis heute kaum soziokulturelle Bezüge zu diesen Sportarten aufbauen konnten. Deutlich wird dies u. a. daran, dass in diesen Sportarten im Leistungs-, aber auch Breitensport bis heute kaum People of Color teilnehmen, wohingegen sie in der Leichtathletik oder im Basketball das Feld dominieren.

Dieser fest verankerte strukturelle Rassismus, der bis heute die Annahme unterstützt, dass Menschen qua Herkunft unterschiedlich begabt und bewertbar sind, führt dazu, dass Personen Zugänge verwehrt bleiben und sie damit keine zufriedenstellende Betätigungspartizipation erfahren dürfen. Der Blick durch die CanMOP-Brille trägt dazu bei, diese Strukturen, Haltungen und geschichtlichen Bezüge zu erkennen. Rassismen hängen in der Regel nicht von bösem Willen und bewusster Haltung, sondern von internalisierten, unbewussten Mustern ab. „Um rassistisch zu handeln, reicht es völlig aus, in einer Welt sozialisiert zu werden, die Menschen seit Jahrhunderten nach rassifizierten Merkmalen wertet. Das gilt für Weiße und Nicht-Weiße“ [4].

In der kommenden ergopraxis Ausgabe lernen Sie die Collaborative Relationship-Focused Practice kennen, also eine erweiterte Perspektive auf Klientenzentrierung, die im Canadian Model of Occupational Participation (CanMOP) implementiert ist.

Helen Strebel

*Name von der Redaktion geändert


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Autorin

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Helen Strebel ist Ergotherapeutin PhD und seit 1995 in pädiatrischen Einrichtungen tätig. Seit 2007 arbeitet sie in der Ausbildung von Berufsfach- schüler*innen und Studierenden. Hauptberuflich ist sie Dozentin an der Zuyd Hogeschool in Heerlen, Niederlande. Zudem veröffentlichte sie bereits verschiedene Fachartikel und Buchbeiträge.

Publication History

Article published online:
03 January 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Helen Strebel ist Ergotherapeutin PhD und seit 1995 in pädiatrischen Einrichtungen tätig. Seit 2007 arbeitet sie in der Ausbildung von Berufsfach- schüler*innen und Studierenden. Hauptberuflich ist sie Dozentin an der Zuyd Hogeschool in Heerlen, Niederlande. Zudem veröffentlichte sie bereits verschiedene Fachartikel und Buchbeiträge.
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ABB. Das CanMOP stellt die Betätigungspartizipation in den Mittelpunkt. Darum herum liegen die Felder „Meaning, Purpose“ (= Bedeutung, Zweck) und „Possibilities: Access, Initiate, Sustain“ (= Möglichkeiten: Zugang, Beginnen, Beibehalten). Diese sind wiederum eingebettet in die Bereiche „History, Relationships“ (= Geschichte, Beziehungen) und „Context: Micro, Meso, Macro“ (= Kontext: Mikro-, Meso- und Makroebene).© Egan M, Restall R. Canadian model of occupational participation (CanMOP). In: Egan M, Restall G, editors. Promoting occupational participation: collaborative relationship-focused occupational therapy. Ottawa, CA: Canadian Association of Occupational Therapists. 2022. p. 77 [rerif]