ergopraxis 2023; 16(01): 24-28
DOI: 10.1055/a-1930-2847
Therapie

Betätigung als roter Faden – Erfahrungen mit klientenzentrierter Ergotherapie

Ellen Romein
 

Eine klienten- und betätigungszentrierte Sichtweise steht zwar im aktuellen ergotherapeutischen Paradigma im Fokus, stellt jedoch Ergotherapeutinnen immer wieder vor Herausforderungen. Ellen Romein gibt in ihrem Buch „Ergotherapie – durch Betätigung und Klientenzentrierung Teilhabe verbessern“ anhand von 35 Fallgeschichten Anregungen und Inspirationen für die Umsetzung in der Praxis. Ein Auszug.


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Ergotherapeutinnen begegnen in ihrer Therapie Patienten, die es gewohnt sind, dass die Therapeuten die Führung in ihrem Therapieprozess übernehmen. Die Patienten sind dabei eher passive Teilnehmer. Nur wenige von ihnen werden nach einer kurzen Erklärung über betätigungs- und klientenzentrierte Ergotherapie direkt zu „kompetenten“ Klienten. Wir müssen davon ausgehen, dass die meisten Patienten über einen kurzen oder längeren Zeitraum die Unterstützung der Ergotherapeutin brauchen, um von „eher passiven und kooperativen Patienten“ zu fähigen und aktiven Klienten zu werden. Fähige Klienten geben dem Therapieprozess oft eine andere Richtung als die, die von den Therapeuten geplant war. Die Therapeuten müssen sich dann anpassen oder umstellen, soweit es möglich ist. Sie holen die Klienten nicht „ins Boot“, sondern steigen ins Boot des Klienten. Das Ruder haben die Klienten schon in der Hand, oder sie erwarten von den Therapeuten, das Ruder wieder in die Hand zu bekommen. So steuern sie ihr Boot mit therapeutischer Unterstützung durch den Therapieprozess.

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Der Betätigungsbefund

Um als Ergotherapeutin systematisch betätigungszentriert vorzugehen, brauchen wir am Anfang der Therapie einen Betätigungsbefund. Ergotherapeutische Prozessmodelle wie das CPPF oder das OTIPM können uns hier helfen. Sie verhindern zum Beispiel, dass aus physischen, kognitiven oder mentalen Problemen Therapieziele werden, die nicht betätigungszentriert sind. Das Tagesprofil (oder auch Wochenprofil, Betätigungsprofil) ist eine gute Vorbereitung auf einen betätigungs- und klientenzentrierten Therapieprozess. Es ist ein einfaches Instrument, das den Klienten die Möglichkeit gibt, sich zu überlegen, mit welchen Betätigungen sie in ihrem Alltag zufrieden sind und welche sie verändern wollen. Um betätigungszentriert vorzugehen, ist es unerlässlich, betätigungszentrierte Verfahren zur Diagnostik einzusetzen. Eine ausführliche Betätigungsanamnese zu erfassen, kann für die Therapie bei bestimmten Klienten genauso wichtig sein, wie Informationen aus der medizinischen Anamnese zu erheben. Jede Ergotherapeutin muss im Moment dafür eigene Lösungen mithilfe vorhandener Instrumente finden, bis eine allgemein gültige Vorgehensweise für diesen Teil des Befundsystems gefunden wird.


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Betätigungsanliegen herausfinden und bewerten

Das Identifizieren von Betätigungsanliegen könnte man eine ergotherapeutische Diagnosestellung nennen. Basis dafür kann die Betätigungsgeschichte einer Person oder die momentane Zufriedenheit mit Betätigungen im Alltag sein. Ein geeignetes Instrument, um Betätigungsanliegen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit herauszufinden und zu bewerten, ist das Canadian Occupational Performance Measure (COPM).


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Die Betätigungsanalyse

Eine Betätigungsanalyse gibt Informationen über die Betätigung selbst, die Fähigkeiten und Defizite der ausführenden Person und die fördernden und hemmenden Faktoren im Kontext. Um die ausgewählten Betätigungen zu analysieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten:

  • Die Ergotherapeutin beobachtet die Betätigung direkt und/oder filmt sie bei Bedarf.

  • Der Klient/die Angehörigen filmen die Betätigung.

  • Die Klienten beobachten selbst die zu analysierende Betätigung anhand einer Liste von gemeinsam erstellten Beobachtungspunkten.

  • Die Betätigung wird vom Klienten nur beschrieben.

Zusammengefasst gibt es zwei Vorgehensweisen: Die Ergotherapeutin hat die Möglichkeit, die Betätigung zu beobachten (direkt oder anhand von Videoaufnahmen) oder die Betätigung wird nur besprochen. Die Analyse der Betätigung wird immer mit den Klienten und oft auch den Angehörigen gemacht. Eine Betätigungsanalyse kann aus sechs Schritten bestehen:

  1. die Betätigung konkret beschreiben (was genau, wo, wann fängt sie an, wann hört sie auf)

  2. bestimmen, wann und wo die Betätigung ausgeführt wird, ob die Therapeutin bei der Ausführung anwesend ist, ob gefilmt wird oder die Betätigung nur besprochen wird

  3. Ausführung der Betätigung durch den/die Klienten

  4. Auswertung durch den/die Klienten und die Therapeutin

  5. gemeinsam das Ergebnis der Auswertung festlegen

  6. Ziele formulieren und Maßnahmen planen

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Ziele formulieren und Maßnahmen planen

Um konkrete und erreichbare Betätigungsziele zu formulieren, sind in den meisten Fällen mehrere Schritte notwendig. Am Anfang des Therapieprozesses hat der Klient benannt, welche Betätigungen er ändern oder überhaupt ausführen möchte. Manchmal ist es möglich, danach direkt konkrete und erreichbare Betätigungsziele zu formulieren. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Klient und sein Kontext der Therapeutin bekannt sind. Wenn dies nicht so ist, sollte eine Betätigungsanalyse durchgeführt werden. Wenn diese gemeinsam mit dem Klienten erarbeitet wird, können Klienten danach realistische Betätigungsziele formulieren. Sie werden durch diesen Prozess dazu „befähigt“. Bei der Formulierung eines Betätigungsziels sollten auf jeden Fall folgende Punkte berücksichtigt werden:

  • Um welche Betätigung geht es (was)?

  • Wo wird diese Betätigung ausgeführt (Kontext: wo)?

  • Wer sonst ist in diese Betätigung einbezogen (Kontext: wer)?

  • Welche Qualität hat die Ausführung der Betätigung (wie gut)?

  • Bis wann soll das Ziel erreicht sein (bis wann)?

Der gemeinsam erstellte Maßnahmenplan zeigt, was genau gemacht werden soll, um das Betätigungsziel zu erreichen. Es wird festgehalten, wer für was verantwortlich ist und bis wann die bestimmten Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Auf diese Weise können alle Beteiligten beurteilen, ob die Zielerreichung realistisch ist und ob und wann das Ziel erreicht ist.


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Mehrwert aus Sicht der Ergotherapeutinnen

Die Erfahrungen der Ergotherapeutinnen wie auch das Fallbeispiel verdeutlichen, dass eine klienten- und betätigungszentrierte Ergotherapie sowohl für die Therapeuten als auch für die Klienten einen großen Mehrwert bieten kann. Wir fassen zusammen, was die Ergotherapeutinnen sagen:

  • Klienten finden selbst Lösungen.

  • Sie übernehmen Verantwortung für ihren Therapieprozess.

  • Der Klient hat die Expertenrolle für seinen Alltag und seine Ziele.

  • Wir werden offener und hören unseren Klienten besser zu.

  • Es unterstützt die Qualitätssicherung der Arbeit.

  • Die therapeutische Grundhaltung ändert sich.

  • Wir lernen viel von unseren Klienten und über sie (Betätigung, Teilhabe, Ressourcen, …).

  • Es gibt keine Routine- oder Standardprogramme, die Therapie ist sehr individuell.

  • Es verändert die ergotherapeutische Identität.

  • Die Therapeutin trägt nicht mehr allein die Verantwortung.

  • Sowohl die Therapeuten als auch die Klienten werden mutig, Neues auszuprobieren.

  • Motivationsprobleme sind kein Thema mehr.

Das Erreichen von Betätigungszielen führt zu einer großen Zufriedenheit der Klienten. Wenn wir den Mut haben, uns auf den Weg zu machen, können viele schöne Momente und Erfolge entstehen. Und was gibt es Schöneres als einen zufriedenen Klienten, der eine bedeutungsvolle Betätigung wieder ausführen kann?

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Fallbeispiel

Frau M.* ist 82 Jahre alt und lebt in einer mittelgroßen Stadt in einer Eigentumswohnung im dritten Stock mit Aufzug. Sie ist alleinstehend und kinderlos. Ausgiebige Kontakte bestehen zu Neffen, Nichten, Patenkindern und Freunden, die sie gerne einlädt und bewirtet. Seit 8 Jahren leidet sie an einer Polyneuropathie und läuft seitdem mit einem Rollator. Die letzten Jahre hat sie deshalb ihre Aktivitäten etwas eingeschränkt, ging aber fast jeden Tag aus dem Haus, um entweder Bekannte oder die Familie zu besuchen, einzukaufen, ins Konzert, ins Museum, zu Vorträgen oder zu Veranstaltungen zu fahren. Das Badezimmer von Frau M. ist im Bereich der Dusche und der Toilette mit Wandgriffen angepasst. Aufgrund einer Hüftkopfnekrose musste sie vor zwei Monaten operiert werden. Nach der OP erhielt sie zunächst eine 4-wöchige Reha-Maßnahme. Nun bekommt sie Ergotherapie (1-mal pro Woche) zu Hause. Ein Pflegedienst unterstützt sie täglich, sowohl morgens als auch abends.

Der Betätigungsbefund

Frau M. stand der Ergotherapie etwas skeptisch gegenüber, da sie in der Rehabilitationsklinik, wie sie sagt „alberne Übungen“ und „Korbflechten“ gemacht hat. Da Frau M. bis jetzt noch keine Erfahrung mit betätigungszentrierter Ergotherapie hat, sind ihre ersten Wünsche auf Körperfunktionsebene. Sie möchte zum Beispiel wieder „frei stehen und sich nach Gegenständen recken“. Die Ergotherapeutin erklärt, wie sie betätigungszentriert arbeitet. Frau M. hat danach klare Erwartungen an die Ergotherapie: erst einmal wieder selbstständig werden („Ich möchte abends nicht auf den Pflegedienst warten müssen, um ins Bett gehen zu können“) und dann so weit wie möglich ihre alten Tätigkeiten wieder aufnehmen.


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Das Betätigungsanliegen

Das COPM-Interview dauerte 30 Minuten. Nachdem die Ergotherapeutin ihrer Klientin das Ziel des COPM und die 3 Alltagsbereiche erklärt hatte, fragte sie Frau M., ob ihr schon direkt etwas einfalle. Ab da übernahm Frau M. das Gespräch und nannte systematisch alle Betätigungen, die sie verändern möchte. Frau M. möchte als Erstes die Unterstützung durch den Pflegedienst reduzieren, vor allem beim Duschen. Mithilfe der Ergotherapeutin wurde die Betätigung zu „Duschen ohne Hilfe beim Ein- und Aussteigen“ spezifiziert. Auch das selbstständige Anziehen und das Busfahren sind Betätigungsanliegen von Frau M., die bearbeitet werden sollen. Zunächst wird aber das Duschen in den Mittelpunkt der Therapie gestellt und eine Betätigungsanalyse durchgeführt.


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Die Betätigungsanalyse

Die Ergotherapeutin kommt morgens um 08.45 Uhr anstelle des Pflegedienstes. Das Einsteigen in die Dusche stellt den Beginn der Betätigung dar. Die Betätigung endet, wenn Frau M. aus der Dusche gestiegen ist. Ziel der Analyse ist herauszufinden, welche der Teilschritte der Betätigung schon gut funktionieren und welche Teilschritte in der Therapie gemeinsam bearbeitet werden sollten, um das Duschen ohne Hilfe zu bewältigen. Die Ergotherapeutin unterstützt Frau M., wenn sie darum bittet. Die Klientin bewertet nach dem Duschen: „Ich fühle mich unsicher, ohne Ihre Hilfe kann ich nicht aussteigen, das muss ich üben. Wenn ich das kann, kann ich wieder alleine duschen. Das Einsteigen geht schon besser, ich möchte aber mehr Sicherheit haben.“ Die Ergotherapeutin stimmt Frau M. zu. Die Sicherheit hat oberste Priorität. Während der Betätigungsanalyse fällt der Therapeutin auf, dass Frau M. insgesamt ziemlich schnell und ungeduldig agiert. Positiv wirken sich ihre hohe Motivation, ihre gute Kognition und ihr Wunsch nach Selbstständigkeit aus. Außerdem ist sie sehr diszipliniert. Die Dusche ist für Frau M. schon ziemlich gut angepasst. Beide sind sich einig, dass das Ziel allein zu duschen erreichbar ist, wenn eine Lösung für das Aussteigen gefunden wird. Im nächsten Schritt werden auf Grundlage der Betätigungsanalyse Ziele formuliert und entsprechende Therapiemaßnahmen geplant.

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Ziele formulieren und Maßnahmen planen

Frau M. formuliert als Ziel zunächst: „Ich brauche am Morgen keinen Pflegedienst mehr.“ Dies wurde dann konkretisiert auf: „Innerhalb von 4 Wochen steige ich ohne Hilfe nach dem Duschen aus der Duschwanne.“ Gleich nach dem Duschen (die Klientin war wieder angezogen) wurde das Aussteigen aus der Dusche mehrmals wiederholt. Verschiedene Lösungen wurden direkt ausprobiert, vor allem der Moment, in dem sie sich dreht: in der Dusche, beim Aussteigen oder nach dem Aussteigen. Die Entscheidung fällt auf Drehen in der Dusche. Dies sollte ab jetzt jeden Morgen mit dem Pflegedienst geübt werden. Frau M. wird diese Vorgehensweise mit dem Pflegedienst besprechen. Der Plan wurde in der darauffolgenden Woche jeden Tag umgesetzt. Der Pflegedienst half Frau M. jeden Morgen, sich in der Dusche zu drehen, bevor sie ausstieg. In der Ergotherapie bearbeitete sie währenddessen das Betätigungsanliegen des Anziehens. Nach insgesamt 2 Wochen hat Frau M. ihr Ziel erreicht: Sie steigt ohne Kontakthilfe in die Dusche ein und wieder hinaus. Dem Pflegedienst wurde nach 3 Wochen abgesagt. Frau M. fühlt sich jetzt ausreichend sicher beim Duschen und möchte als nächstes Thema das Busfahren angehen.

Ellen Romein


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Autorin

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Ellen Romein, euMSc OT, war beruflich in den Niederlanden, Australien, Deutschland und Frankreich tätig. Sie hatte von 1991 bis 2007 in der Neuropädiatrie der Schön Klinik Vogtareuth die Fachbereichsleitung. Heute gibt sie europaweit Fortbildungen mit den Schwerpunkten in Betätigungsorientierung und Klientenzentrierung. Sie entwickelte das RemiPro (Remissionsprofil für Kinder und Jugendliche nach schweren erworbenen Hirnschädigungen), ist Mitautorin vom PEAP (Pädiatrisches Ergotherapeutisches Assessment und Prozessinstrument) und Dozentin für das AHA 18-18 (Assisting Hand Assessment für die Altersgruppe 18 Monate bis 18 Jahre). Kontakt: ellenromein@gmail.com
  • Literaturverweis

  • 1 Romein E.. Ergotherapie – durch Betätigung und Klientenzentrierung Teilhabe verbessern. 35 Fallgeschichten aus der Praxis. Stuttgart: Thieme 2021

Publication History

Article published online:
03 January 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literaturverweis

  • 1 Romein E.. Ergotherapie – durch Betätigung und Klientenzentrierung Teilhabe verbessern. 35 Fallgeschichten aus der Praxis. Stuttgart: Thieme 2021

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Ellen Romein, euMSc OT, war beruflich in den Niederlanden, Australien, Deutschland und Frankreich tätig. Sie hatte von 1991 bis 2007 in der Neuropädiatrie der Schön Klinik Vogtareuth die Fachbereichsleitung. Heute gibt sie europaweit Fortbildungen mit den Schwerpunkten in Betätigungsorientierung und Klientenzentrierung. Sie entwickelte das RemiPro (Remissionsprofil für Kinder und Jugendliche nach schweren erworbenen Hirnschädigungen), ist Mitautorin vom PEAP (Pädiatrisches Ergotherapeutisches Assessment und Prozessinstrument) und Dozentin für das AHA 18-18 (Assisting Hand Assessment für die Altersgruppe 18 Monate bis 18 Jahre). Kontakt: ellenromein@gmail.com
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