Psychiatr Prax 2022; 49(08): 403-404
DOI: 10.1055/a-1934-6509
Debatte: Pro & Kontra

Stationsäquivalente Behandlung (StäB) ist ein Meilenstein im psychiatrischen Versorgungssystem – Kontra

In-Patient Equivalent Treatment is a Milestone in the German Mental Health Care System – Contra
Tilman Steinert
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau)
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Dies ist keine wirkliche „Kontra“-Argumentation“, eher ein skeptisches Plädoyer im Sinne von „there is no such thing as a free lunch“ – wir sollten uns bewusst sein, was es kostet. Man kann nicht wirklich gegen StäB argumentieren. Die stationsersetzende Behandlung für bestimmte Patientengruppen ist gut evidenzbasiert, die Zufriedenheit zweier von drei Partnern (der Patient*innen, der Beschäftigten, nicht der Krankenkassen [1]) ist erwiesenermaßen hoch.

Dass StäB nicht in der eigentlich gewünschten, flexiblen Form eingeführt wurde, die die Lücke zwischen Institutsambulanz (PIA) und stationärer Behandlung bedarfsgerecht füllen könnte, ist allen Beteiligten bekannt und das sehr rigide Korsett der Abrechnungsvoraussetzungen macht eine sinnvolle Umsetzung nicht einfach. Dennoch ist nicht daran zu zweifeln, StäB ist ein Meilenstein und ein Gewinn für viele Beteiligte, zumal wenn die Behandlungsplätze zum bisherigen stationären Angebot hinzukommen und bisher unversorgte Patientengruppen erreicht werden können. Dennoch erscheint mir die Bilanz gemischt und gibt zu einer zurückhaltenden Bewertung Anlass, wenn ich nicht nur die Akteure in den StäB-Teams betrachte, sondern das Gesamtsystem der psychiatrischen Versorgung.

Da sind zunächst einmal die organisatorischen Auswirkungen der rigiden Abrechnungsbestimmungen. Es scheinen sich zwei Organisationsformen der StäB herauszukristallisieren, selbstständige StäB-Teams (meistens relativ klein) und in Stationsteams integrierte StäB-Behandlung. Wir praktizieren beides, beides hat Vor- und Nachteile. Selbstständige StäB-Teams entwickeln eine hohe Identifikation und Expertise in den spezifischen Aufgaben und der Organisation. Große Probleme bereiten allerdings angesichts der kleinen Teams Vertretungs- und Ausfallszeiten besonders bei Fachärzt*innen, Sozialdienst und Ergotherpeut*innen. Auch der mehr oder weniger notwendigerweise resultierende Anspruch der psychiatrisch-psychotherapeutischen Universalkompetenz kontrastiert mit der in den vergangenen Jahren immer weiter gediehenen evidenzbasierten Entwicklung sehr störungsspezifischer Therapieformen. In stationäre Behandlungsteams integrierte StäB-Teams können von stations- und klientelspezifischen Spezialkompetenzen profitieren und bewältigen die Schnittstelle von stationärer Behandlung in die Weiterbetreuung zu Hause ohne Wechsel der Bezugspersonen. Jedoch ist die Organisation sehr aufwendig (doppelte Dienstpläne) und alle Lücken und Ausfälle (besonders in Pandemiezeiten) gehen nahezu notwendig zulasten der stationären Versorgung, weil für den StäB-Teil sonst die Abrechnungsvoraussetzungen entfallen.

Auch die Zufriedenheit der Beteiligten ist unbestreitbar. Allerdings ist Zufriedenheit zwar ein notwendiges, alleine aber auch noch kein hinreichendes Kriterium für eine gute Behandlung. Erfahrungen zeigen zum Beispiel, dass auch Patient*innen mit Zwangsstörungen, die sich auf keinen Fall im Krankenhaus behandeln lassen möchten, ausgesprochen zufrieden mit der Behandlung in StäB sind. Kritiker könnten freilich die Frage stellen, ob die Zufriedenheit mit Regressionsförderung einhergeht und ob nicht zweimal in der Woche zwei Stunden Exposition in vivo durch eine erfahrene Verhaltenstherapeutin wesentlich wirksamer und zugleich viel kostengünstiger wäre. Diesbezügliche Evidenz gibt es bisher nicht. Auch wenn eine Ergotherapeutin zu einem Patienten nach Hause fährt und zwei Stunden mit ihm arbeitet, erleben beide Seiten dies in der Regel als sehr zufriedenstellend. Zuweilen könnte aber die Frage auftauchen, ob es nicht effektiver wäre, in den insgesamt 3 Stunden mit einer Gruppe von 8 Patienten zu arbeiten und dabei zugleich auch heilsame gruppendynamische Effekte zu haben.

Die Arbeit in StäB ist gute und interessante psychiatrisch-psychotherapeutische Tätigkeit, in der die betreffenden Beschäftigten eine hohe Selbstwirksamkeit und viel individuelle Gestaltungsmöglichkeiten mit relativ wenig Bürokratie erleben. Das zieht besonders engagierte, qualifizierte und am Berufsfeld interessierte Menschen aus allen Berufsgruppen an und das ist auch gut so. Nur ist leider bekanntermaßen unter den gegenwärtigen Arbeitsmarktbedingungen das Reservoir solcher Fachkräfte wie auch von Fachkräften insgesamt sehr limitiert, freilich in regional sehr unterschiedlichem Ausmaß. Wir schöpfen sozusagen alle aus demselben Topf und dabei müssen verschiedene Pflichtaufgaben (Forensische Psychiatrie, PsychKHG- und BGB-Unterbringungen, Notfälle) zwingend bewältigt werden und es stellt sich leider in zunehmendem Maße die Frage, wieviel „Kür“ neben den Pflichten noch möglich ist. Viele Kliniken führen StäB-Behandlungen trotz möglicher zugewiesener Behandlungsplätze und Budgets deshalb nicht durch, weil sie dafür kein Personal rekrutieren können bzw. die „Pflichtbereiche“ nicht (noch weiter) entblößen können.

Wenn sich StäB also bewährt, stellt sich bei begrenzten Ressourcen und mit Sicherheit nicht beliebig erweiterbaren zusätzlichen Behandlungsplätzen notwendigerweise bald die Frage einer Umwandlung vorhandener stationärer Kapazitäten und letztlich einer Systemtransformation. Bezüglich der Auswirkungen einer solchen Transformation auf das Gesamtsystem gibt es einige Evidenz. Kürzlich wurde eine sehr sorgfältige Evaluation der Umwandlung vollstationärer akutpsychiatrischer Betten in ein Krisenteam mit Home Treatment im Schweizer Kanton Tessin durchgeführt [2]. Der einzige italienischsprachige Schweizer Kanton eignet sich ausgezeichnet für versorgungsepidemiologische Untersuchungen, weil die Versorgungsregion einerseits an Italien grenzt und andererseits durch die Alpen und die Sprachbarriere von der übrigen Schweiz getrennt ist, somit ein mehr oder weniger geschlossenes System darstellt. In der Region wurde 2016 eine psychiatrische Akutstation geschlossen, das personell gut ausgestattete Behandlungsteam arbeitete weiter als „Crisis Resolution Team“, mit den üblichen Ausschlusskriterien (akute Selbst- und Fremdgefährdung etc.). Die Ergebnisse zeigten einmal mehr, dass die Behandlungsergebnisse in der ambulant-aufsuchenden Behandlung vergleichbar waren mit denen der vollstationären Behandlung. Jedoch zeigte sich auch, dass die Behandlung durch das Krisenteam im Durchschnitt länger dauerte als bei der stationären Behandlung in einem quasi-experimentellen Design (Median 36 versus 27 Tage) und dass in der Behandlungsgruppe des Krisenteams verheiratete Frauen mit affektiven Störungen deutlich überrepräsentiert waren, ein Befund, der laut den Autoren in guter Übereinstimmung mit 8 anderen kürzlich publizierten Studien stand. Die Autoren geben zu bedenken, dass die komplexesten Fälle (Patient*innen mit aggressivem Verhalten, Suizidrisiko, Selbstverletzungen, akuten Intoxikationen und Zwangseinweisungen) üblicherweise von derartigen nicht-stationären Krisenbehandlungen ausgeschlossen werden, was Konsequenzen für die Zusammensetzung der im Krankenhaus verbleibenden Patienten habe. Die Konzentration solcher Fälle im psychiatrischen Krankenhaus könne dort die Atmosphäre verschlechtern und ungünstige Einflüsse auf das dort arbeitende Personal erhöhen, auch im Hinblick auf die Rekrutierbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und das Angebot spezifischer Therapien im Krankenhaus.

In Großbritannien ist diese Systemtransformation bereits erfolgt. Ein britischer Kollege sagte mir vor einiger Zeit: „Wenn du bei uns ein Krankenhausbett möchtest, musst du sagen, du möchtest jemanden umbringen. Sonst bekommst du das Home-Treatment-Team.“ Wir benötigen nicht nur eine Mikro-, sondern auch die Makroperspektive auf das Gesamtsystem. Die Transformation in Richtung Home Treatment statt psychiatrischen Krankenhäusern ist machbar, man kann sie auch wollen. Nicht zuletzt in der Hoffnung, den gordischen Knoten von Stigma und tatsächlich belastenden Behandlungsbedingungen, die es immer noch und immer wieder gibt, wenigstens für einen Teil der zu behandelnden Patient*innen nachhaltig und grundsätzlich aufzulösen. Aber man sollte sich im Klaren sein, was der Preis ist. Vieles von dem, was wir in den vergangenen Jahrzehnten an spezialisierten Behandlungsformen, Kultur der offenen Türen und „therapeutischer Gemeinschaft“ entwickelt haben, könnte der Preis sein, den es dafür zu entrichten gilt. Wesentliche Erweiterungen wird das unheilvolle Zusammenspiel von Arbeitsmarkt und PsychVVG voraussichtlich nicht zulassen. Gibt es Alternativen? Ja. Den Ausbau der Institutsambulanzen mit der Möglichkeit der bedarfsangepassten und gegenfinanzierten flexiblen Behandlungsintensität. Und viele Modellprojekte nach § 34b SBG V wurden umfassend evaluiert und haben sich in der Praxis bewährt [3]. Es fehlt, wie im Fall der PIAs, in erster Linie an einem – dem gesetzgeberischen Willen zur Umsetzung in der Regelversorgung.


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Autorinnen/Autoren

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Tilman Steinert

Interessenkonflikt

Der Autor ist in leitender Stellung bei einer Organisation (ZfP Südwürttemberg) beschäftigt, die StäB betreibt.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Tilman Steinert
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau)
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
10 November 2022

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