Koordinierender und korrespondierender Autor: Koczulla, A. Rembert, die Leitlinie
wurde über die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie angemeldet und koordiniert.
Im Rahmen der AWMF-Task Force COVID-19-Leitlinien erfolgte die methodische Unterstützung
durch M. Nothacker, AWMF-IMWi. Der fertiggestellte Leitlinienentwurf konnte von der
AWMF Task Force kommentiert werden.
Die Leitlinie wurde final von allen beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen
verabschiedet.
Kommentare wurden z. T.l schon übernommen bzw. werden bei der nächsten Aktualisierung
diskutiert
Kapitel Kardiologie 1. Auflage erstellt durch Herrn Prof. Zeiher (nicht aktualisiert).
Bei der vorliegenden S1-Leitlinie handelt es sich um einen klinisch-praktischen Leitfaden,
der bei Long-/Post-COVID begründenden Symptomen eine diagnostisch-therapeutische Orientierung
auf dem Boden einer noch begrenzten Datenlage liefern soll. In dieser Leitlinie wird
insbesondere dem klinischen Versorgungsweg Rechnung getragen. Zeitnahe Aktualisierungen
sollen bei Zunahme der Evidenz durchgeführt werden.
Die Verantwortlichkeiten für die einzelnen fachspezifischen Abschnitte sowie deren
Aktualisierungen liegen jeweils bei der entsprechenden Fachgesellschaft und deren
Vertretern.
1 Einleitung
Das SARS-Coronavirus Typ 2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2, SARS-CoV-2) ist für die Pandemie mit der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19)
verantwortlich, die zu globalen Krisen mit hohem Ressourcenverbrauch in Gesundheitssystemen
geführt hat. COVID-19 (ICD U07.1) ist heute als Multiorgankrankheit mit einem breiten
Spektrum von Manifestationen anerkannt. Ähnlich wie bei anderen Infektionskrankheiten,
gibt es nach einer akuten COVID-19-Infektion Patient*innen mit anhaltenden Beschwerden
([Abb. 1]), die ab einer Zeitspanne von 4 Wochen nach Infektion als Long-COVID oder postakute
Folgen von COVID-19 (post-acute sequelae of COVID-19) [1] und bei Persistenz von mehr als 12 Wochen als Post-COVID-Syndrom bezeichnet werden
([Abb. 2]). Im Folgenden wird von Long-/Post-COVID gesprochen, wenn nicht explizit zwischen
Long-COVID- und Post-COVID-Syndrom differenziert wird.
Abb. 1 Pragmatische Einteilung der Symptomhäufigkeit von Long-/Post-COVID nach aktueller
Literatur ohne Anspruch auf Vollständigkeit. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Abb. 2 Überblick über COVID-19-Nomenklatur (nach National Institute for Health Care Excellence
(NICE). https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Im ICD-10-GM findet sich der „post-COVID-Zustand nicht näher bezeichnet“ unter den
Schlüsselnummern für besondere Zwecke als U09.9! hinterlegt. Diese Schlüsselnummer
ist nur dann zu verwenden, wenn eine anderenorts klassifizierte Störung in Zusammenhang
mit einer vorausgegangenen COVID-19 steht, aber COVID-19 nicht mehr vorliegt.
Die Häufigkeit des Post-COVID-Syndroms variiert je nach untersuchter Patient*innenpopulation
und den verwandten diagnostischen Instrumenten sowie Vergleichspopulation. So wird
dieses in Untersuchungen, in denen Patient*innen selbst ihre Symptome angeben, höher
eingeschätzt. Allerdings suchen nur ca. 6 % der Menschen nach akuter SARS-CoV-2-Infektion
eine hausärztliche oder fachärztliche Betreuung auf [2]. Die Häufigkeit korreliert mit dem Ausmaß von Komorbiditäten [3]
[4]. Somatische oder psychosomatische Beschwerden in der Anamnese bzw. eine hohe psychosoziale
Belastung begünstigen die Manifestation eines Long-/Post-COVID-Syndroms. Darüber hinaus
wird die in Studien ermittelte Häufigkeit durch das Studiendesign, einschließlich
der Rekrutierungsstrategie, der eingesetzten Fragebögen, der Geschlechterverteilung
und der Kriterien der Genesung beeinflusst [5].
Wahrscheinlich sind in der Gesamtgruppe aller Patient*innen mit einem Long-/Post-COVID-Syndrom
mindestens 4 Subtypen zu unterscheiden:
-
Patient*innen, die wegen einer COVID-19-Erkrankung intensivmedizinisch behandelt wurden
und an einem „Post-Intensive-Care-Syndrome“ (PICS) [6] leiden,
-
Patient*innen, die in der Folge der COVID-19-Erkrankung mit zeitlicher Latenz an Folgekrankheiten
wie z. B. kardiovaskulären Komplikationen, kognitiven Leistungsstörungen oder einer
posttraumatischen Belastungsstörung erkranken,
-
Patient*innen, die v. a. aufgrund einer deutlichen Erschöpfungssymptomatik und Belastungsinsuffizienz
mit/ohne Dyspnoe anhaltend in ihrer Teilhabe am Sozial- und Arbeitsleben deutlich
beeinträchtigt sind sowie
-
Patient*innen mit unterschiedlichen Beschwerden, die in ihrem Alltag nicht wesentlich
beeinträchtigt sind.
In der Betreuung der Patient*innen mit Long-/Post-COVID besteht die Herausforderung,
zwischen SARS-CoV-2-bedingten unmittelbaren somatischen und psychischen Störungen,
Verschärfung vorbestehender Morbiditäten sowie pandemiebedingten psychosozialen Belastungsfolgen
zu differenzieren. Die umfangreiche Forschung zu Long- und Post-COVID bietet dabei
die einzigartige Möglichkeit, an dieser Beispielerkrankung Nachwirkungen und Langzeitfolgen,
wie sie auch für andere Infektionskrankheiten beschrieben werden, biopsychosozial
gut zu charakterisieren. Auf der Basis eines so gewonnenen, vertieften pathogenetischen
Verständnisses können neue Strategien für die Rehabilitation betroffener Patient*innen
an dieser Beispielerkrankung entwickelt werden, mit möglichst breiter Wirkung für
die medizinischen Versorgung.
Die genauen Ursachen für Long-/Post-COVID sind bislang nicht bekannt. Eine Persistenz
des Virus bzw. von Virusbestandteilen über Wochen und Monate könnte eine Rolle spielen
[7]
[8]. Weitere mögliche virusinduzierte Pathomechanismen sind andauernde postinfektiöse
strukturelle Gewebeschäden, inklusive Endothelschaden und gestörte Mikrovaskularisierung,
Hyperkoagulabilität und Thrombosen, chronische Immundysregulation mit (Hyper-)Inflammation
und/oder Autoimmunität und Dysregulation des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems
(RAAS) [9]
[10]. Ferner wurden gewebsschädigungsbedingte, fokale und diffuse, direkte und indirekte
Veränderungen des Metabolismus in verbundenen Hirngebieten als Ursachen kognitiver
Leistungsminderungen beim Post-COVID-Syndrom in Studien nahegelegt. Neben virusinduzierten
Veränderungen können auch Nebenwirkungen der COVID-19-Therapie zu Langzeitfolgen führen
[9]
[10]
[11]
[12].
Bislang fehlen für viele klinische Probleme noch pathophysiologische Erklärungen und
auch Evidenzen aus klinischen Studien. Diese Leitlinie spiegelt den aktuellen Wissensstand
bei Erstellung wider. Die S1-Leitlinie adressiert nach COVID-19 neu aufgetretene oder
persistierende bzw. intensivierte Symptome. In der Betrachtung dieser Symptome sollten
regelhaft differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt werden und abgeklärt werden.
Die Aufreihung der Disziplinen beginnt mit der Infektiologie und der Allgemeinmedizin.
Die Kapitel sind in alphabetischer Reihenfolge sortiert.
Patient*innen mit Long-/Post-COVID geben sehr häufig eine krankhafte Erschöpfung,
gleichbedeutend mit „Fatigue“, an. Dieses Symptom tritt auch nach einer Vielzahl anderer
Viruserkrankungen auf. Das prominenteste Beispiel ist die Infektiöse Mononukleose
durch Epstein-Barr-Virus (EBV), aber auch andere Viren wie bspw. Humanes Herpesvirus
(HHV), Influenzaviren oder Rickettsien sind Verursacher einer postinfektiösen Fatigue-Symptomatik
[13]
[14]
[15]. Das Vollbild eines postinfektiösen Chronischen Fatigue-Syndroms (synonym Myalgische
Encephalomyelitis, kurz ME/CFS) (ICD-10 G93.3) ist möglich, die genauen Mechanismen
bedürfen noch der weiteren Erforschung. Fatigue wird aufgrund der großen Häufigkeit
und der besonderen Bedeutung des Symptoms für betroffene Patient*innen in einem interdisziplinär
erstellten Kapitel gesondert besprochen.
2 Long-/Post-COVID-Syndrom
2 Long-/Post-COVID-Syndrom
2.1 Definition der Begrifflichkeiten
[Abb. 2] bietet einen Überblick über die gängigsten Begrifflichkeiten zu Long-COVID und Post-COVID-Syndrom.
Zudem wurden in der Literatur weitere Begriffe wie z. B. „post-acute sequelae of COVID-19“
(PASC), „post-acute COVID syndrome“ (PACS), „chronic COVID syndrome“ (CCS) oder „COVID-19
long-hauler“ beschrieben. In Anlehnung an den Cochrane Rehabilitation-Review [16] und eine internationale Delphi-Konferenz unter Beteiligung der WHO [17] kann eine der folgenden 3 Kategorien herangezogen werden, um ein Long-/Post-COVID-Syndrom
zu diagnostizieren:
-
Symptome, die nach der akuten COVID-19 oder deren Behandlung fortbestehen,
-
neue Symptome, die nach dem Ende der akuten Phase auftreten, aber als Folge der SARS-CoV-2-Infektion
verstanden werden können,
-
Verschlechterung einer vorbestehenden Erkrankung infolge einer SARS-CoV-2-Infektion.
Gemeinsam ist den meisten von Long-/Post-COVID-Syndrom Betroffenen, dass Symptome
oder Beschwerden bestehen, die eine behandlungswürdige Einschränkung der Alltagsfunktion
und Lebensqualität bewirken und einen negativen Einfluss auf Sozial- und/oder Arbeitsleben
haben ([
Abb. 5
]). Der Begriff Long-/Post-COVID würde diese Patient*innen von Betroffenen mit anhaltenden,
sie aber nicht wesentlich beeinträchtigenden Symptomen nach einer SARS-CoV-2-Infektion
abgrenzen.
Vor dem Hintergrund der notwendigen Interventionsstudien zur Therapie des „Post-COVID-Syndroms“
ist eine strenge Definition und Differenzierung zwischen Long-COVID- und Post-COVID-Syndrom
erforderlich, um die Effektivität der Ansätze vergleichbar einschätzen zu können.
2.2 Prävalenz von Long-/Post-COVID-Symptomen
Die Symptome und deren Häufigkeit sind in den dazu publizierten unterschiedlichen
Studien nicht unmittelbar vergleichbar. So wird diese durch die untersuchten Patient*innenpopulationen
(Alter, Geschlecht etc.), die Größe der Patient*innenpopulationen und den Selektionsprozess
der Patient*innen (z. B. populationsbasiert vs. symptomgetriggert), die Art des SARS-CoV-2-Nachweises (PCR, Serologie, Anamnese)
und die Erfassung der Symptome (selbstberichtet vs. ärztlich diagnostiziert) beeinflusst. Auch führt eine uneinheitliche Definition der
Begriffe „Long-COVID“ bzw. „Post-COVID-Syndrom“ bzw. die Vermischung der Patient*innenpopulationen
zu unterschiedlich berichteten Häufigkeiten. Nur einige Punkte, die in den bisher
vorliegenden Studien sehr unterschiedlich sind, sind hier illustriert ([Abb. 3]).
Abb. 3 Überblick über das Problem der Heterogenität unterschiedlicher Post-/Long-COVID-Studienpopulationen
[403]. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Ob die Prävalenz von Long-/Post-COVID-Symptomen mit der Schwere der akuten SARS-CoV-2-Infektion
korreliert, ist umstritten, ohne Zweifel kann dieses auch bei Patient*innen mit initial
asymptomatischer SARS-CoV-2-Infektion oder milder COVID-19 auftreten [18]
[19]. Im Niedrigprävalenzbereich zeigen sich bei 13,3 % der Test-positiven Studienteilnehmer/innen
Symptome ≥ 28 Tage, bei 4,5 % ≥ 8 Wochen und bei 2,3 % ≥ 12 Wochen Dauer [20]. Dabei werden sehr häufig Symptome wie Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten, Luftnot
und sowohl eingeschränkte körperliche als auch geistige Leistungsfähigkeit beschrieben.
Bei einer deutlichen Anzahl von Patient*innen kommt es im Verlauf zu einer Spontanheilung
oder zu einer deutlichen Abschwächung der Symptome. Aktuelle Daten aus Großbritannien
weisen aus, dass die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines Long-/Post-COVID-Syndroms
nach Infektion mit der Omikron-Variante nur etwa halb so hoch ist wie nach Infektion
mit der Delta-Variante (4,5 % vs. 10,8 %) [21].
Zu beachten ist aber auch, dass die häufigsten im Zusammenhang mit Long-/Post-COVID-Syndrom
genannten Symptome auch unabhängig hiervon zu den häufigsten Allgemeinsymptomen gehören.
Bei einer französischen Kohortenstudie mit 26 823 Teilnehmenden zeigte sich zwar ein
Zusammenhang von Erschöpfung, Luftnot, Schlaf- und Konzentrationsstörungen mit der
subjektiven Überzeugung, an COVID-19 erkrankt gewesen zu sein, nicht aber mit dem
serologischen Status [22].
3 Kernaussagen
-
Komplexe Krankheitsbilder wie das Long-/Post-COVID-Syndrom erfordern bei einer zunehmenden
Spezialisierung im Gesundheitswesen eine generalistische interdisziplinäre Herangehensweise
mit Blick auf den ganzen Menschen sowie eine Kontinuität in der Versorgung.
-
Wenn (neu aufgetretene) Symptome oder Beschwerden nach einer überstandenen SARS-CoV-2-Infektion
den Verdacht auf ein Long-/Post-COVID-Syndrom lenken, sind immer Differenzialdiagnosen
zu bedenken und ggf. auszuschließen.
-
Die Diagnose eines Long-/Post-COVID-Syndroms kann weder durch eine einzelne Laboruntersuchung
noch durch ein Panel an Laborwerten diagnostiziert bzw. objektiviert werden. Ebenso
schließen normale Laborwerte ein Long-/Post-COVID-Syndrom nicht aus.
-
Eine weiterführende spezialärztliche Abklärung kann angezeigt sein, wenn nach durchgemachter
SARS-CoV-2-Infektion Einschränkungen länger als 3 Monate persistieren.
-
Bei Patient*innen, die wegen der SARS-CoV-2-Infektion intensivmedizinisch behandelt
wurden, sind eine Critical Illness Polyneuropathie und/oder Myopathie (CIP, CIM) abzugrenzen.
Diese Patient*innen bedürfen einer spezialisierten rehabilitativen Betreuung.
4 Pathogenese
Die Pathogenese des Long-/Post-COVID-Syndroms ist nicht geklärt, sie ist multifaktoriell
und nicht bei allen Patient*innen gleich. Mögliche Mechanismen sind nach Infektion
oder COVID-19-Therapie persistierende Gewebeschäden, eine Persistenz von Viren oder
Virusbestandteilen als Krankheitstrigger sowie eine chronische (Hyper-)Inflammation
und/oder Autoimmunphänomene ([Abb. 6]). Auch wird eine nachgewiesene postvirale Koagulopathie ursächlich für die Beschwerden
vermutet [23].
5 Medikamentös therapeutische Intervention und Vakzination
5 Medikamentös therapeutische Intervention und Vakzination
Gesicherte medikamentöse therapeutische Interventionen beim Long-/Post-COVID-Syndrom
sind bisher nicht bekannt. Die bei einem Teil der Patient*innen beobachtete Viruspersistenz
wird auf eine unzureichende viruseliminierende Immunantwort zurückgeführt. Größere
kontrollierte prospektive Studien sind notwendig, um die Effektivität einer Vakzinierung
beim Long-/Post-COVID-Syndrom zu überprüfen. Zurzeit werden eine Vielzahl von medikamentösen
Behandlungsansätzen oder andere therapeutische Verfahren (Immunabsorption, Lipidapherese,
hyperbare Sauerstofftherapie etc.) in klinischen Studien überprüft. Wenn es auch positive
Fallberichte und kleiner Fallserien geben mag, ist aktuell von einer generellen Anwendung
dringend abzuraten. Hier sind die Ergebnisse randomisierter-kontrollierter Studien
abzuwarten.
Die Impfung kann das Risiko von Long-/Post-COVID reduzieren, allerdings deuten die
Ergebnisse darauf hin, dass eine Impfung nach Durchbruchsinfektion nur einen Teilschutz
vor Long-/Post-COVID bietet [24]
[25].
Die Vorteile einer Impfung bei Long-/Post-COVID-Patient*innen zur Verringerung des
Reinfektionsrisikos könnte nach bisherigen Erkenntnissen die Nachteile überwiegen.
Nach der Impfung sind 3 Ergebnisse möglich: keine Änderung der Symptome (höchstwahrscheinlich),
Besserung (bester Fall) oder Verschlechterung (schlimmster Fall). Leider bleiben viele
Unbekannte über die langfristige Prognose von Long-/Post-COVID einschließlich der
Wirkung von Auffrischungsimpfungen [26].
Die Effektivität einer frühzeitigen therapeutischen Vakzinierung bei Patient*innen
mit Long-/Post-COVID-Syndrom oder anderer Interventionen (z. B. Immunabsorption, Lipidapherese,
hyperbare Sauerstofftherapie etc.) ist nicht gesichert. Diese sollte vorerst nur in
Studien erfolgen. Routinemäßig wird die Impfung nach STIKO bei den Genesenen aktuell
nach einem Monat möglich und ist nach 3 Monaten als einmalige Impfung empfohlen [27].
6 Versorgungsalgorithmus
6.1 Primärärztliche (hausärztliche) Versorgung
In der primärärztlichen Versorgung ist eine ausführliche Anamnese und körperliche
Untersuchung einschließlich neurologischem, funktionellem und psychischem Status zu
empfehlen (s. [Abb. 4]). Die gezielte Befunderhebung unter besonderer Berücksichtigung neu aufgetretener
oder vermehrt und verändert auftretender Symptome und Einschränkungen vorbestehender
Erkrankungen sowie Basisdiagnostik im Labor ist von zentraler Bedeutung.
Abb. 4 Primärärztliche Betreuung. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Nach primärärztlicher Basisdiagnostik ist bei klinischer Stabilität der Symptomatik
bei den Betroffenen zunächst ein abwartendes Vorgehen unter primärärztlicher Betreuung
zu empfehlen.
Bei Warnhinweisen in der Basisdiagnostik sowie klinischer Verschlechterung oder Unklarheiten
sollte den Betroffenen eine vertiefende Diagnostik und/oder eine Überweisung an geeignete
Fachdisziplinen angeboten werden.
Eine erhöhte Aufmerksamkeit und ein Vorgehen entsprechend den Prinzipien der psychosomatischen
Grundversorgung ist bei den nachfolgenden Symptomen frühzeitig zu empfehlen, u. a.
um einer möglichen Chronifizierung vorzubeugen:
-
Ähnliche somatische oder psychosomatische Beschwerden in der Anamnese
-
Hohe psychosoziale Belastung
-
Frühere gehäufte Konsultationen mit unergiebiger somatischer Diagnostik
Warnhinweise: Als Warnhinweise sind ein schlechter Allgemeinzustand, eine signifikante Gewichtszu-
bzw. -abnahme, unerklärliche oder neu aufgetretene neurologische Auffälligkeiten (Sensibilität,
Motorik, Schlucken, Sprache und Kognition), neue Schmerzsymptomatik, schlechte oder
sich verschlechternde somatische oder psychische Befunde sowie unerklärliche Auffälligkeiten
in der Basisdiagnostik zu verstehen. Diese sollten Anlass zu einer vertiefenden ggf.
fachspezifischen Diagnostik oder einer Überweisung z. B. in eine Post-COVID-Ambulanz
geben.
6.2 Funktioneller Status
Zur Einschätzung des funktionellen Status bei Long-/Post-COVID-Syndrom bietet sich
die von Klok et al. [28] entwickelte Skala an, die mittlerweile anhand einer großen Kohorte validiert wurde
[29] ([Abb. 5]). Patient*innen, die „leichte“, „mäßige“ oder „schwere“ Funktionseinschränkungen
angaben, wiesen signifikant häufigere und intensivere Symptome auf, hatten eine reduzierte
Lebensqualität und waren bei der Arbeit und bei üblichen Alltagsaktivitäten eingeschränkt
[29]. Patient*innen, die „keine“ oder „vernachlässigbare“ Funktionseinschränkungen angaben,
zeigten hinsichtlich der o. a. Aspekte keine signifikanten Limitationen. Diese einfach
anzuwendende Funktionsskala hat bei symptomatischen Long-/Post-COVID-Patient*innen
eine hohe Aussagekraft in der Langzeit-Nachverfolgung der funktionellen Einschränkungen.
Dieser Ansatz hat allerdings Schwächen. So ergeben sich z. B. Limitierungen bei jüngeren
Patient*innen mit ambulant überwundener SARS-CoV-2-Infektion, die ihre berufliche
Tätigkeit wieder aufgenommen haben, aber bei der Erfüllung ihrer Tätigkeiten im Alltag
bemerken, dass ihre Leistungsfähigkeit noch nicht das Niveau vor der Erkrankung wiedererlangt
hat. Außerdem gilt die Skala nur für Erwachsene. Bei Kindern und Jugendlichen sollte
u. a. die Bewältigung der Alltagsanforderungen, inklusive Schulunterricht, und Ausübung
der vorbestehenden Hobbies erfragt werden.
Abb. 5 Flussdiagramm für den Selbstbericht von Patient*innen auf der Long-/Post-COVID-Skala
des funktionellen Status. Diese Skala ist nur für erwachsene Long-/Post-COVID-Patienten
validiert. Eine analoge altersadaptierte Evaluation der Alltagsfunktion ist jedoch
auch für Minderjährige angezeigt [28]. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Um erwachsene Patient*innen im primärärztlichen Erstkontakt besser zu charakterisieren
und auch um bspw. die vorhandene oder drohende Arbeits-, Ausbildungs- oder Schulunfähigkeit
abzuschätzen, kann ein validierter Fragebogen herangezogen werden ([Abb. 6]).
[Abb. 7] stellt einen pragmatischen Versorgungsalgorithmus für Patient*innen mit Long-/Post-COVID
dar.
Abb. 6 Die Long-/Post-COVID-Nachsorge hat häufig einen interdisziplinären Charakter. Die
Anordnung und Erwähnung der Fachdisziplinen haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit
und Wertigkeit. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Abb. 7 Vorschlag eines Modells praxisorientierter Versorgungswege. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
7 Infektiologisch/immunologische Aspekte
7 Infektiologisch/immunologische Aspekte
7.1 Persistenz von Viren bzw. Virusbestandteilen
Einige Studien weisen aus, dass unter Verwendung molekulargenetischer Testverfahren
in verschiedenen Organen eine Viruspersistenz für mehrere Monate bei symptomatischen
Patient*innen nachgewiesen werden kann [30]
[31]
[32], insbesondere bei Patient*innen mit Immundefekten [33]. Andere Studien weisen eine Virusausscheidung im Respirationstrakt [34] oder Gastrointestinaltrakt [35] bis 4 bzw. 2 Monate nach SARS-CoV-2-Infektion nach, ohne dass die Patient*innen
unter Symptomen leiden müssen. Somit kommt es ohne Zweifel bei einer Gruppe von Patient*innen
zu einer Viruspersistenz, die zumindest bis zu einem gewissen Ausmaß eine Immunaktivierung
bedingen kann.
7.2 Anhaltende Immunaktivierung/Autoantikörper
Ähnlich wie bei Autoimmunerkrankungen ist bei Patient*innen mit Long-/Post-COVID eine
Dominanz des weiblichen Geschlechtes zu beobachten. Vereinbar mit der Hypothese einer
Autoimmunerkrankung wird eine T- und B-Zell-Dysregulation(-Dysfunktion) in der Pathophysiologie
des Long-/Post-COVID-Syndroms postuliert [36]. Das SARS-CoV-2-Virus könnte in antigenpräsentierenden Zellen eine „bystander-Aktivierung“
von T-Zellen oder Antikörpern gegen Autoantigene auslösen. Eine Vielzahl von Autoantikörpern
wurden bei akuter COVID-19 inzwischen beschrieben und als mögliche Risikofaktoren
für die Entwicklung von Post-COVID identifiziert [37]. Die Hypothese einer zellulären Immundysregulation wird durch die Beobachtung gestützt,
dass in Autopsiestudien eine hohe Dichte von CD8+-T-Zellen in der Lunge und anderen Organen beobachtet wurde. Mögliche Ursachen für
Hyperinflammation oder Autoimmunität könnten auch Veränderungen des Mikrobioms im
Gastrointestinaltrakt sein [38]. Eine (proinflammatorische) Dysbiose ist typisch für COVID-19-Patient*innen, persistiert
über den Krankenhausaufenthalt hinaus und korreliert mit dem Schweregrad der COVID-19
und einer verlängerten fäkalen SARS-CoV-2-Ausscheidung [39]
[40]. Erhöhte Blutspiegel von Zytokinen, darunter Interferone, Interleukin-1 (IL-1),
IL-6, IL-8 und Tumornekrosefaktor (TNF) wurden bei Post-COVID nachgewiesen [41].
7.3 Diagnostikempfehlungen
Neben einer T-Zell-vermittelten Autoimmunität gibt es Hinweise auf Autoantikörper
bei Patient*innen mit COVID-19. So konnten in einer Studie bei 52 % der Patient*innen
anti-Phospholipid-Antikörper nachgewiesen werden [42]. Ebenfalls konnten Autoantikörper gegen Interferone, Neutrophile, Citrullin und
Zellkerne bei 10–50 % der Patienten mit COVID-19 nachgewiesen werden. Auch wenn es
unklar ist, wie lange diese Antikörper persistieren (und ob sie bei Patient*innen
mit Long-/Post-COVID länger persistieren), sind sie doch in die Pathogenese verschiedener
Autoimmunerkrankungen wie dem Sjögren-Syndrom, dem Lupus erythematodes oder rheumatoider
Arthritis eingebunden [43]
[44]. Typisch für eine schwere COVID-19 ist die Lymphopenie [45]; dieser T- bzw. B-Zell-Mangel korreliert auch mit einem persistierenden Virusshedding
(s. o.) [46]
[47]. Eine für im Median über 54 Tage persistierende Lymphopenie und erhöhte CrP- bzw.
D-Dimer-Werte finden sich bei 7,3 %, bzw. 9,5 % von Patient*innen mit überstandener
COVID-19 [48]
[49]. Allerdings konnten andere Arbeitsgruppen keine Veränderungen von Laborparametern
nachweisen [50].
Hinweis: Somit kann weder durch eine einzelne Laboruntersuchung noch durch ein Panel an Laborwerten
ein Long-/Post-COVID-Syndrom diagnostiziert oder wahrscheinlich gemacht werden. Die
Labordiagnostik dient in erster Linie der Differenzialdiagnostik.
Bei Patient*innen mit persistierenden Symptomen und Immundefizienz kann eine PCR auf
SARS-CoV-2 durchgeführt werden, um zu unterscheiden, ob Symptome im Rahmen einer persistierenden
aktiven Infektion oder als Long-COVID zu werten sind. Bei einem Teil der Patient*innen
mit anhaltenden gastrointestinalen Beschwerden kann SARS-CoV-2 mittels PCR im Stuhl
auch noch nach Monaten nachgewiesen werden [51].
Die Effektivität einer frühzeitigen therapeutischen Vakzinierung bei Patienten mit
Long-/Post-COVID-Syndrom ist nicht gesichert. Diese sollte vorerst nur in Studien
erfolgen. Routinemäßig wird die Impfung nach STIKO bei Genesenen aktuell nach 6 Monaten
als einmalige Impfung empfohlen.
7.4 Offene Fragen in der Infektiologie
-
Ist eine Viruspersistenz bei Patient*innen mit Long-/Post-COVID-Syndrom häufiger als
bei Patienten ohne Folgesymptome bzw. ohne Long-/Post-COVID-Symptome?
-
Gibt es eine genetische Disposition für ein Post-COVID-Syndrom?
-
Gibt es pathophysiologisch unterscheidbare Subformen von Post-COVID-Syndromen?
-
Wie sind Autoimmunphänomene ausgelöst („molecular mimicry“, „bystander“-Aktivierung?)
und sind sie als nur temporär assoziiert mit der Infektion oder unabhängig einzuordnen?
8 Allgemeinmedizinische Aspekte
8 Allgemeinmedizinische Aspekte
(Empfehlungen zur allgemeinmedizinischen Diagnostik und Therapie siehe Supplement)
8.1 Einleitung
Den Allgemeinärzt*innen kommen als häufig primär Versorgenden eine wichtige Rolle
zu. Ein Basisleitfaden ist im Supplement hinterlegt. Die DEGAM-Leitlinien Müdigkeit
[52], Schwindel [53], Husten [54] und Überversorgung [55] sowie der Expertenkonsens zu ME/CFS [56] und die publizierte NICE-Leitlinie zu ME/CFS [57] bieten weitere Orientierung an.
-
Grundsätzlich soll die gute Prognose kommuniziert werden.
-
Es sollte eine symptomorientierte Therapie angeboten werden.
-
Es sollte eine psychosomatische Grundversorgung angeboten werden.
-
Es sollte eine psychosoziale Betreuung initiiert werden.
-
Die Koordination der fakultativ erforderlichen spezialisierten Behandlung, mit evtl.
erneuter stationärer Therapie, bzw. rehabilitativen Maßnahmen sollte angeboten werden.
-
Die Absprache mit nicht-ärztlichen Leistungserbringern im Gesundheitswesen (Physiotherapie,
Sport-/Bewegungstherapie, Ergotherapie, psychologische Psychotherapie, Logopädie,
Ernährungsberatung, Pflegedienst, Sozialdienst, Soziotherapie, ebenso wie Apotheken …)
sollte ggf. initiiert werden.
-
Belastungsintoleranz sollte erkannt und Überlastung zukünftig vermieden werden.
-
Es sollte eine engmaschige Zusammenarbeit mit Behörden, Ämtern, Krankenkassen und
Rentenversicherungsträgern angestrebt werden.
-
Eine Heilmittelversorgung sollte bei Bedarf initiiert werden.
-
Die Beantragung eines angemessenen Grades der Behinderung oder Pflegegrades sollte
gegebenenfalls nach zeitlicher Latenz (6 Monate) diskutiert werden.
Bei Hinweisen auf eine berufsbedingte Ursache sollte frühzeitig an eine Meldung an
den zuständigen betriebsärztlichen Dienst und die Berufsgenossenschaft gedacht werden:
https://www.bgw-online.de/bgw-online-de/presse/corona-berufskrankheit-unterstuetzung-post-covid-betroffene-64146.
8.2 Brauchen geriatrische Patient*innen ein spezifisches primärärztliches Vorgehen?
Während bei jüngeren Patient*innen Symptome wie Husten, Luftnot oder Fieber im Vordergrund
stehen können, besteht ein ernsthafter Verlauf bei geriatrischen Patient*innen eher
in einer kognitiven Verschlechterung, Verwirrtheit, Fatigue und Sturzgefahr. Diese
unspezifischen Symptome können Hinweise auf schwerwiegende Veränderungen wie lokale
Thrombenbildung, Dehydratation oder Delir sein.
-
Es sollte eine regelmäßige Überprüfung der Vitalparameter, aber auch der sensorischen,
motorischen und kognitiven Funktionen erfolgen.
-
Bei Hinweisen auf Verschlechterung sollten u. a. Sauerstoffsättigung, D-Dimere, das
Differenzial-Blutbild (Lymphopenie), Kreatinin und die Elektrolyte kontrolliert werden.
-
Sowohl die Angehörigen als auch die Sozial- und Pflegedienste, Physio-, Sport-/Bewegungs-,
Ergotherapeut*innen und Logopäd*innen sollten frühzeitig mit eingebunden werden [58].
8.3 Offene Fragen
-
Kann im Falle von Langzeitfolgen bei kritisch mit COVID-19-Erkrankten zwischen einem
(unspezifischem) PICS und Post-COVID-Syndrom unterschieden werden?
-
Wie sind Erschöpfungssymptome, psychische Beschwerden und Leistungseinschränkungen
als Folge der psychosozialen Belastung durch die COVID-19-Pandemie von Symptomen durch
Long-/Post-COVID-Syndrom abzugrenzen?
-
Gibt es dauerhafte und spezifische Organschäden durch SARS-CoV-2, die in der allgemeinärztlichen
Praxis diagnostiziert werden können? ([Abb. 8])
-
Gibt es spezifische Unterschiede von Long-/Post-COVID nach COVID-19 mit unterschiedlichen
Virusvarianten?
Abb. 8 Mögliche Endorganschäden durch mögliche multifaktorielle Ursachen von Long-/Post-COVID.
https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
9 Fatigue
Fatigue ist ein sehr häufiges Symptom im Rahmen eines Long-/Post-COVID-Syndroms, welches
i. d. R. mit anderen Beschwerden in Kombination auftritt. Aus diesem Grund wurden
die damit verbundenen Fragen in einem interdisziplinären Kapitel abgehandelt.
9.1 Einleitung
Unabhängig von der Schwere der akuten COVID-19 berichten Patient*innen sehr häufig
von Fatigue [50]. Fatigue ist eine subjektiv oft stark einschränkende, zu den vorausgegangenen Anstrengungen
unverhältnismäßige, sich durch Schlaf oder Erholung nicht ausreichend bessernde subjektive
Erschöpfung auf somatischer, kognitiver und/oder psychischer Ebene. Wenn bei Patient*innen
im Alter unter 60 Jahren schwere Fatigue mit Belastungsintoleranz, kognitive Störungen
und Schmerzen auftreten und diese für mehr als 6 Monate bestehen, sollte das Vorliegen
eines Chronischen Fatigue-Syndroms (ME/CFS, ICD-10 G93.3) mithilfe international konsentierter
Diagnosekriterien überprüft werden [56]. In der praktischen Umsetzung bieten sich hierfür z. B. die vom CFS-Centrum der
Charité vorgeschlagenen Kriterien an (siehe [59]. Für Erwachsene sind dies die Screeningkriterien des Institute of Medicine (IOM)
[60] sowie die strengeren Kanadischen Konsensuskriterien (CCC) [61]. Für Kinder und Jugendliche wurden adaptierte Diagnosekriterien vorgeschlagen [62]. Auf der Grundlage der UK-Kohorte des COVID Infection Survey, Stand April 22, leiden
bereits 2,7 % der Gesamtbevölkerung an einem Long-/Post-COVID-Syndrom, davon 45 %
mehr als 12 Monate und die Hälfte berichtet über anhaltende Fatigue (www.ons.gov.uk). Von 1655 COVID-Patienten gaben in einer Verlaufsstudie 6 Monate nach stationärer
Behandlung einer COVID-19 63 % Fatigue oder Muskelschwäche an [63]. An einer Befragung einer bevölkerungsbasierten Kohorte von nicht-hospitalisierten
Probanden 4 Monate nach SARS-CoV-2-Infektion nahmen 458 Personen teil, die zu 46 %
Fatigue berichteten [64]. Auch Kinder und Jugendliche mit Long-/Post-COVID-Syndrom klagen häufig über Fatigue
und damit kombinierte Symptome [65]
[66]. Die Post-COVID-Fatigue findet sich verteilt über alle Altersgruppen mit einem Überwiegen
weiblicher Patienten im postpubertären Alter. Zu beachten ist allerdings, dass Fatigue
zu den häufigsten Symptomen in der Allgemeinmedizin gehört. Fatigue war in einer französischen
Kohortenstudie [22] sowie der Mainzer Gutenberg-Studie auch häufig bei Patienten nachweisbar, die nicht
mit SARS-CoV-2 infiziert waren, ihre Beschwerden aber hierauf attribuierten. Vor der
voreiligen Übernahme eines Kausalzusammenhangs muss also gewarnt werden. Die Relevanz
von Fatigue für die Alltags- und Berufsbewältigung ist hoch, die Häufigkeit und Bedeutung
von Belastungsintoleranz einerseits bzw. Symptomzunahme nach milder Alltagsbelastung
(postexertionelle Malaise, kurz PEM) andererseits ist noch unklar [56].
Analoge postinfektiöse Syndrome mit Fatigue im Zusammenhang mit Infektionen durch
Viren, Bakterien, Pilze und Protozoen oder Autoimmunerkrankungen [67]
[68] sind seit gut 100 Jahren in der wissenschaftlichen Literatur bekannt [69]
[70]. Es besteht oft eine Komorbidität mit dem Fibromyalgiesyndrom.
9.2 Pathophysiologische Überlegungen
Fatigue kann generell durch eine Vielfalt von Körper- und Organfunktionsstörungen
bedingt sein und ist mit unterschiedlchen Krankheitsentitäten assoziiert. Eine (objektivierbare)
körperliche, kognitive (z. B. konzentrative oder memorative) oder emotionale Minderbelastbarkeit
(z. B. bei Depression) können einzeln oder kombiniert zur Entstehung einer Fatigue
beitragen. Aber auch der individuelle Umgang mit Fatigue (motivational-volitionale
Faktoren, Copingverhalten, Schlafgewohnheiten, körperliche Aktivität) stellt einen
wichtigen Faktor dar [71].
Die Pathogenese von Fatigue nach COVID-19 ist noch unklar; diese wird in aktuellen
Studien zurzeit untersucht [72]
[73]
[74]. Akzeptiert ist, dass sowohl eine Vielfalt COVID-19-bedingter Organschädigungen
(z. B. in Lunge, Herz, Hirn, peripherem Nervensystem) als auch psychische Kormorbiditäten
in individuell unterschiedlichen Kombinationen auftreten können und für die Entstehung
von Fatigue bedeutsam sind. Bei den meisten Betroffenen nach milder/moderater COVID-19
gibt es jedoch keine Hinweise für Organschädigungen. Es gibt inzwischen eine Reihe
von Studien, die mögliche Mechanismen für die Fatigue aufzeigen, „low-grade“-Inflammation,
Autoantikörper, verminderte Durchblutung/Hypoperfusion/Mikrothromben, autonome Dysfunktion,
Hyperkapnie und Persistenz von Virusbestandteilen [75]
[76].
9.3 Diagnostikempfehlungen
Zur Einschätzung von Symptomatik und Schweregrad sollten einfach zu erhebende psychometrische
Selbstauskunftsinstrumente (sogenannte „Patient Reported Outcome Measures“ – PROMs)
wie z. B. die Fatigue-Skala (FS), die Fatigue Severity Scale (FSS) oder die Fatigue
Assessment Scale (FAS) eingesetzt werden. Auch zur Erfassung der PEM [77]
[78] und zu ME/CFS-Diagnosealgorithmen [78] sind Fragebögen verfügbar und können in deutscher Übersetzung beim Leitlinienteam
angefordert werden [77]
[78]. Die individuell berichteten Fatigue-Symptome (körperlich, kognitiv, emotional)
werden eruiert und in der Zusammenschau mit weiteren PROMs entsprechend differenzialdiagnostisch
andere Organ- oder psychische Erkrankungen ausgeschlossen. Die klinische Diagnostik
beinhaltet daher neben einer ausführlichen Anamnese einschließlich Screeningfragen
auf Depression, Schlafstörungen und Angststörung (siehe Kapitel „Psychische Aspekte“)
sowie einer umfassenden körperlichen Untersuchung eine Labordiagnostik und ggf. die
Einbeziehung verschiedener fachspezifischer Kompetenzen zur Objektivierung der Funktionseinschränkung
auf körperlicher, kognitiver und/oder psychischer Ebene. Wegen der therapeutischen
Relevanz empfohlen wird ein Orthostasetest (z. B. passiver 10-Minuten-Stehtest) zumindest
bei hinweisenden Symptomen wie orthostatischer Intoleranz oder Tachykardieanfällen.
Die repetitive Messung der Handkraft mit einem Dynamometer über wenige Minuten mittels
eines mobilen Handdynamometers ist eine einfache Methode, um die körperliche Fatigue
zu erfassen [79].
Zur Einschätzung der Symptomatik sollten Selbstauskunftsinstrumente (PROMs) zum Einsatz
kommen und die Objektivierung etwaiger Funktionseinschränkung auf körperlicher, kognitiver
und/oder psychischer Ebene, ergänzt durch eine Messung der möglichen Orthostaseintoleranz
und muskulären Fatigue.
9.4 Therapieoptionen
Ziel der Therapie sollte eine Symptomlinderung sowie die Vermeidung einer Chronifizierung
sein. Dazu gehören die Förderung des Schlafs, Schmerztherapie, Kreislaufsupport, Maßnahmen
zur Stressreduktion und Entspannung, Stärkung von persönlichen Ressourcen, die Unterstützung
eines adäquaten Coping-Verhaltens (z. B. weder Überforderung noch inadäquate Vermeidung
von Aktivitäten) sowie die Unterstützung durch geeignete Hilfsmittel und sozialmedizinische
Maßnahmen. Je nach individueller Symptomatik (körperlich, kognitiv und/oder emotional)
kommen unterschiedlich gewichtet zusätzlich eine kontrollierte Anleitung zu körperlicher
Aktivität bzw. dosiertem körperlichem Training zum Einsatz, ein Training der kognitiven
Leistungsfähigkeit und/oder eine psychotherapeutische bzw. psychopharmakologische
Behandlung. Eine ergotherapeutische Unterstützung kann überlegt werden. Körperlicher
Überbeanspruchung mit möglicher nachfolgender Symptomverschlechterung (PEM) sollte
durch wohl dosierte, gegebenenfalls supervidierte körperliche Aktivität bzw. körperliches
Training und individuell angemessenes Energiemanagement („Pacing“) vorgebeugt werden.
Ausführliche Empfehlungen zur körperlichen Aktivität bei Post-/Long-COVID und zum
„Pacing“ finden sich z. B. unter [80]. Eine Heilmittelversorgung kann sinnhaft sein und belastet bei entsprechender Kodierung
nicht das Praxisbudget. Sollten sich ambulante Maßnahmen als nicht ausreichend erweisen,
kann über eine (teil-)stationäre Behandlung mit dem individuell angezeigten indikationsspezifischen
Behandlungsschwerpunkt nachgedacht werden.
Bisher ist keine kausale Therapie der Fatigue bekannt. Empfohlen wird eine an die
individuelle Belastbarkeit angepasste, kontrollierte Anleitung zu körperlicher und
kognitiver Aktivität, möglichst unter Vermeidung einer Überbeanspruchung mit etwaiger
nachfolgender Symptomverschlechterung (PEM), sogenanntes „Pacing“.
Therapieziel sollte eine Symptomlinderung sowie die Vermeidung einer Chronifizierung
sein.
9.5 Offene Fragen zur Fatigue
-
Wie können die Symptome einer Fatigue optimal behandelt werden?
-
Welche infektiologischen Kriterien (SARS-CoV-2-Nachweis, SARS-CoV-2-Serologie, typische
COVID-19-Symptome) oder Biomarker (Inflammation, Autoantikörper) erlauben die Zuordnung
der Fatigue-Symptomatik zu einer SARS-CoV-2-Infektion?
10 Schmerzen
Neu aufgetretene, primär chronische Schmerzen sind ein häufiges Symptom im Rahmen
vom Long-/Post-COVID-Syndrom, welches i. d. R. mit anderen Beschwerden in Kombination,
v. a. Fatigue, auftritt. Aus diesem Grund wurden die damit verbundenen Fragen in diesem
interdisziplinären Kapitel abgehandelt. Eine Metaanalyse von Kohortenstudien berichtete
eine Häufigkeit von 44 % anhaltenden Kopfschmerzen und 19 % Gliederschmerzen nach
akuter COVID-19 [81]. Aufgrund der Datenlage zu Schmerzen in der Akutphase von SARS-CoV-2-Infektionen
und den ersten Erfahrungen mit Patient*innen mit Long-/Post-COVID-Syndrom sind in
der Krankenversorgung künftig unterschiedliche Formen neu aufgetretener chronischer
Schmerzen zu erwarten [82]
[83]
[84]:
Kopfschmerzen
-
Primär vom Phänotyp der Migräne und/oder vom Spannungskopfschmerz, „new daily persistent
headache“
-
Sekundär nach COVID-19-assoziierten zerebrovaskulären Erkrankungen
Muskel- und Gelenkschmerzen
-
Nicht-entzündlich und multilokulär (fibromyalgieform). Eine Überlappung mit ME/CFS
ist möglich.
-
Polyarthritis, ähnlich rheumatoide Arthritis
-
Polyarthralgien, ähnlich wie bei Kollagenosen
-
Critical Illness Myopathie (CIM)
Nervenschmerzen
10.1 Empfehlungen zur Diagnostik
Zur Einschätzung von Symptomatik einschließlich des Schweregrads von chronischen Schmerzen
sollten einfach zu erhebende psychometrische Selbstauskunftsinstrumente (PROMs) wie
die deutsche Version des „Brief Pain Inventory“ verwendet werden. In Abhängigkeit
von der Schmerzlokalisation und Schmerztyp können spezifische Fragebögen eingesetzt
werden, z. B. bei multilokulären Muskel- und Gelenkschmerzen der Fibromyalgie-Symptomfragebogen,
bei Kopfschmerzen der Kieler Kopfschmerzfragebogen oder bei neuropathischen Schmerzen
der Fragebogen DN2 (Douleur Neuropathique 2).
Die klinische Diagnostik beinhaltet eine ausführliche Anamnese (inklusive möglicher
vor der SARS-CoV-2-Infektion bestehender chronischer Schmerzen), eingehende klinische
Untersuchung und Screeningfragen auf Schlafstörungen, schmerzbezogenes Katastrophieren
sowie psychische Störungen (s. a. Kapitel „Psychische Aspekte“). Eine Labordiagnostik
sollte in Abhängigkeit von den Leitsymptomen erfolgen. Eine fachärztliche Diagnostik
sollte entsprechend den Leitsymptomen erfolgen.
10.2 Therapieoptionen
Bisher ist keine Prävention und kausale Therapie Long-/Post-COVID-assoziierter Schmerzen
bekannt. Komorbiditäten sollten im Therapiekonzept mitberücksichtigt werden.
Eine symptomatische Therapie wird abhängig von der Art der Schmerzen in Anlehnung
an die jeweiligen AWMF-Leitlinien empfohlen.
Unabhängig vom Schmerzmechanismus sollten somatische und psychologische Risikofaktoren
einer Chronifizierung der Schmerzsymptomatik bei der Therapieplanung berücksichtigt
werden und die Indikation für interdisziplinäre, multimodale Therapieansätze im schmerzmedizinischen
oder psychosomatischen Setting geprüft werden.
10.3 Offene Fragen zum Schmerz
-
Was sind Prädiktoren und die pathophysiologischen Mechanismen der verschiedenen Schmerzsyndrome
nach SARS-CoV-2-Infektion?
-
Gibt es andere Behandlungsoptionen, die über die in den obigen Leitlinien dargestellten
Therapieoptionen hinausgehen?
11 Dermatologische Aspekte
11 Dermatologische Aspekte
11.1 Einleitung
Hautveränderungen nach SARS-CoV-2-Infektion stoßen auf großes öffentliches Interesse
und werden relativ häufig berichtet, wenn auch bei einem relativ geringen Prozentsatz
der Patient*innen mit Long-/Post-COVID-Syndrom (bis 25 %) [85]
[86]
[87]
[88]
[89]. Es zeigt sich ein buntes Bild von Hautläsionen, das von makulopapulösen und morbilliformen
(flach bis kleinknotig-erhaben) und Livedo reticularis/racemosa-artigen (netzartig,
bläulich), über urtikarielle (flüchtig, quaddelförmig) und Erythema multiforme-artige
(vielgestaltig bis großblasig auf rotem Grund) bis hin zu varizelliformen (klare Bläschen
auf gerötetem, oft juckendem Grund) Hautveränderungen reicht. Solche Hautveränderung
können auch mit längerer Latenz nach Infektion und in allen Altersgruppen auftreten.
Außerdem werden sogenannte COVID-Zehen, v. a. bei jüngeren und kaum symptomatischen
Patienten, beschrieben, die als bläuliche, kissenartige Verdickungen über den kleinen
Zehen-, aber auch Fingergelenken imponieren ([
Abb. 9
]) und die einer Pernio- bzw. Chilblain-Läsion sehr ähnlich sehen, häufig aber asymmetrisch
und scharf begrenzt sind [90], wobei der lokale Nachweis von SARS-CoV-2 oft nicht gelingt [91].
Abb. 9 Exemplarische Abbildung einer „COVID-Zehe“. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
11.2 Pathogenese dermatologischer Symptome bei Long-/Post-COVID
Histologisch finden sich z. T. Hinweise auf thromboembolische/thrombotische Ereignisse
in kleinen Hautgefäßen, denen wahrscheinlich viral-geladene Antigenantikörper-Immunkomplexe
zugrunde liegen, z. T. Infiltration mit Makrophagen [92], perivaskuläre lymphozytäre Infiltrate und z. T. ein intradermales Ödem [87]
[93]
[94]
[95]
[96] und im weiteren Verlauf eine fibrosierende Umwandlung des dermalen Gewebes [97]. ACE2 wird von epidermalen und follikulären Keratinozyten, dermalen Fibroblasten
und vaskulären Endothelzellen in der Haut exprimiert [98]. Die Expression korreliert mit Entzündungsparametern (natürliche Killerzellen, Makrophagen,
zytotoxische T-Zellen, B-Zellen). In bis zu 49 % der Fälle wird außerdem über vermehrten
Haarausfall Wochen bis Monate nach Infektion [81] und gelegentlich wird über Hyperästhesie [99] sowie über Rhagaden und Exsikkosen der Hände im Sinne eines toxischen Handekzems
[100] berichtet. Gefühlsstörungen der Haut können mit einer postinfektiösen Neuropathie,
der sogenannten „small fiber neuropathy“ (SFN), in Zusammenhang gebracht werden [101], Gefühlsstörungen an Haarfollikeln mit weiteren neurologischen Symptomen und einer
höheren Krankheitslast [102]. Hinzu kommen langfristige Hautbelastungen durch das Tragen von Masken, denen im
Rahmen des Post-/Long-COVID-Syndroms jedoch keine besondere Bedeutung zukommt [103]
[104].
11.3 Diagnostikempfehlungen
Bei Verdacht auf eine COVID-19-assoziierte Hautstörung ist zunächst eine akute bzw.
durchgemachte SARS-CoV-2-Infektion nachzuweisen. Ein negatives Ergebnis schließt allerdings
eine Assoziation nicht aus. Neben SARS-CoV-2 als möglichem Trigger ist es sinnvoll,
eine Induktion durch Medikamente auszuschließen [105]
[106]. Schließlich gibt es eine verstärkende Wechselbeziehung zwischen COVID-19 und chronisch
entzündlichen Hauterkrankungen wie der Psoriasis und dem Systemischen Lupus erythematodes,
die durch proinflammatorische Zytokine und autoimmune Reaktionen geprägt sind [86]. Hier ist insbesondere bei Patient*innen mit immunsuppressiver Behandlung die fachspezifische
dermatologische und ggf. auch rheumatologische Abklärung empfehlenswert [107]
[108]
[109].
11.4 Therapieoptionen
Die meisten Hautläsionen, die im Zusammenhang mit COVID-19 beschrieben wurden, heilen
spontan und ohne spezifische Behandlung in wenigen Wochen ab. Bei behandlungswürdigem
Befund (z. B. quälender Juckreiz, entstellende Läsionen) kann symptombezogen behandelt
werden (z. B. Antihistaminika; kühlende und abdeckende Externa; deeskalierend, läsional
und lokal kurzzeitig anzuwendende Kortikosteroide). Bei Exsikkosen können rückfettende
und feuchtende Externa empfohlen werden. Bei nicht-kontrollierbaren Symptomen, Hyperinflammation
und hautdestruktiver Entwicklung (z. B. hohe Entzündungswerte, fehlende Spontanheilung,
Nekrosen) sollte die fachspezifische Überweisung und ggf. Einleitung einer immunsuppressiven
Behandlung erfolgen. Bei Hinweis auf psychische Belastung in Zusammenhang mit Hautläsionen
(z. B. ausgeprägte Entstellungsbefürchtung bei Haarausfall, zwanghaftes Waschen der
Hände) ist die psychosomatische Mitbetreuung angezeigt.
Über die zu erwartende vollständige Remission der Hautveränderungen und des Haarverlusts
sollte aufgeklärt werden.
11.5 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen in der Dermatologie
Eine spezifische Therapie ist nicht bekannt. Wie oben genannt, kann eine symptombezogene
Behandlung entsprechend allgemeinmedizinischer und dermatologischer Standards lokal
und systemisch durchgeführt werden.
Haare wachsen zyklisch und legen nach einigen Jahren eine Wachstumspause ein (Telogen,
Dauer etwa 3 Monate). 10–20 % der Haarfollikel befinden sich in der gesunden Kopfhaut
in dieser Phase und wachsen nicht bzw. fallen beim Haarwaschen u. U. leicht aus (etwa
100 Haare pro Tag). Entzündliche Erkrankungen, Endothelitis und Stress können dazu
führen, dass Haarfollikel vorzeitig aus der Wachstumsphase (Anagen) in Telogen übergehen
(etwa weitere 10–30 %, Dauer des Übergangs 2–12 Wochen) [110]
[111]
[112]. Drei bis 6 Monate später befinden sich diese Haare ohne Behandlung wieder in der
Wachstumsphase. Bei einer Wachstumsgeschwindigkeit von etwa 1 cm/Monat ist je nach
Haarlänge mit einer entsprechend zeitverzögerten, vollständigen Wiederherstellung
zu rechnen, die durch die Gabe von Haarwachstum-stimulierenden Medikamenten wie z. B.
Minoxidil kaum beeinflusst werden kann.
11.6 Offene Fragen in der Dermatologie
-
Wie sind die Hautveränderungen bei Long-/Post-COVID pathophysiologisch zu erklären?
-
Welche Long-/Post-COVID-Patienten entwickeln Hautläsionen?
-
Wie groß ist die Überlappung von Hautläsionen bei Long-/Post-COVID mit systemischer
Manifestation von rheumatologischen Erkrankungen, z. B. Systemischer Lupus erythematodes
(SLE), Psoriasis Arthritis [2]?
12 Gynäkologische und reproduktionsmedizinische Aspekte
12 Gynäkologische und reproduktionsmedizinische Aspekte
12.1 Einleitung
Infertilität, im deutschen Sprachraum auch unter dem Begriff Sterilität bekannt, wird
definiert als „eine Erkrankung des Fortpflanzungssystems, bei der nach 12 oder mehr
Monaten regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs keine klinische Schwangerschaft
erreicht wird“. Diese Definition gilt sowohl für die männliche als auch die weibliche
Unfruchtbarkeit in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 11) [113].
Die Fertilität wurde im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie regelmäßig thematisiert.
Diskutiert wurden Auswirkungen der Infektion mit dem Virus, aber auch von Impfstoffen
sowohl auf die männliche als auch die weibliche Fertilität. Darüber hinaus erleben
Paare auch eine Restriktion der elektiven medizinischen Versorgung bei bestehendem
Kinderwunsch durch pandemiebezogene Maßnahmen.
Im Folgenden soll daher die Folge einer SARS-CoV-2-Infektion auf die Fertilität näher
beleuchtet werden, um Empfehlungen im Umgang mit betroffenen Frauen zu formulieren.
Dies schließt die Impfthematik mit ein.
12.2 Einfluss einer SARS-CoV-2-Infektion auf die weibliche Fertilität
Sowohl in weiblichem als auch in männlichem reproduktivem Gewebe wird der ACE2-Rezeptor
exprimiert, der für die Regulation reproduktiver Funktionen eine Rolle spielt. Daher
wird ein Einfluss auf die Reproduktionsorgane diskutiert.
Ein Nachweis von SARS-CoV-2 in Vaginalabstrichen wurde in 3 Studien untersucht [114]
[115]
[116], wobei die Mehrzahl der Abstriche (98 %) negativ war. Von den 4 positiven Fällen
waren 3 Frauen postmenopausal und es lag bei allen zum Zeitpunkt der Abstrichentnahme
eine symptomatische Infektion vor. Es bleibt unklar, über welchen Weg das Virus weibliche
Reproduktionsorgane erreichen kann. Berichte intrauteriner vertikaler Transmissionen
von der Mutter zum Feten [117] legen aber die Möglichkeit einer hämatogenen Route nahe. Darüber hinaus können Sekundärphänomene
durch Auslösung inflammatorischer Faktoren oder Viruspartikel eine systemische Reaktion
auslösen, die Reproduktionsorgane betreffen kann [118]. Diskutiert wird eine funktionelle Auswirkung einer Infektion auf die Synthese und
Konzentration von Sexualhormonen. Studien hierzu sind jedoch widersprüchlich [119]
[120]. Dennoch wurde über Zyklusverlängerungen und eine Verringerung des Blutvolumens
während der Menstruation berichtet [120]. Kein Unterschied zwischen nicht-exponierten oder geimpften und genesenen Frauen
zeigte sich in der Eizellqualität während einer In-vitro-Fertilisation (IVF) [121]. Eine durchgemachte asymptomatische oder milde Infektion führte ebenfalls nicht
zu Einschränkungen der ovariellen Reserve, dem Ansprechen auf eine hormonelle Stimulation
oder der Eizellqualität, wobei eine verringerte Rate an Blastozysten und eine verringerte
Anzahl an Embryonen mit höchster Qualität beobachtet wurde [122]
[123]. Dennoch könnte ein Zusammenhang zwischen der Höhe der IgG-Antikörper gegen SARS-CoV-2
und einer geringeren Anzahl an gewonnenen Eizellen bestehen [124]. Auch gibt es bei jedoch geringer Stichprobengröße Hinweise, wonach 6 Monate nach
durchgemachter Infektion die Anzahl gewonnener Eizellen im Vergleich zu seronegativen
Frauen eingeschränkt sein könnte [125]. Bei Frauen, die aufgrund eines Kinderwunschs nicht verhüteten, wurde in einer prospektiven
Untersuchung keine Einschränkung der Fruchtbarkeit nach Infektion im Vergleich zu
geimpften oder nicht-infizierten Frauen während eines mehrmonatigen Beobachtungszeitraums
beobachtet [126]. Auch war die Rate der SARS-CoV-2-Infektionen unter Frauen mit Fehlgeburten (3,7 %
unter allen 301 Frauen in einer multizentrisch prospektiven Studie) vergleichbar mit
der Prävalenz der Infektion unter Gebärenden (2,3 % unter allen 1936 Geburten im gleichen
Zeitraum). Die Autor*innen schließen hieraus, dass die Abortrate bei Infektion nicht
erhöht ist [127]. Eine Auswertung der Daten des deutschen CRONOS-Registers [128] mit Stand vom 24.08.2021 ergab unter 147 Frauen mit Infektion vor 12 + 0 Schwangerschaftswoche
(SSW), bei denen Daten zum weiteren Schwangerschaftsverlauf vorlagen, eine geringe
Abortprävalenz von 6,4 % (95 %-KI 3,5–11,3 %). Ob die mit der Infektion möglicherweise
verbundenen Effekte (u. a. Stress) oder das Virus selbst zu möglichen Beeinträchtigungen
der Schwangerschaft und reproduktiven Funktion führen, bleibt bisher ungeklärt.
12.3 Empfehlung
Belege für eine negative Auswirkung einer Impfung gegen COVID-19 auf die Fertilität
der Frau gibt es nicht. Vorliegende Studien weisen aber die Sicherheit von Impfungen
gegen COVID-19 mit mRNA-basierten Vakzinen in der Schwangerschaft nach. Es ist daher
davon auszugehen, dass Impfungen gegen COVID-19 im Allgemeinen keine messbaren negativen
Effekte auf die Fertilität oder die reproduktive Gesundheit haben. COVID-19 in der
Schwangerschaft erhöht das Risiko für einen schweren Verlauf bei der Schwangeren (im
Vergleich zu Nichtschwangeren) sowie für ein ungünstiges peripartales Outcome beim
Kind (z. B. Frühgeburt) [129]. Daher überwiegt das tatsächliche Risiko einer Infektion in der Schwangerschaft
die theoretischen Bedenken einer Impfung. Es wird die Impfung gegen COVID-19 ausdrücklich
insbesondere in der Gruppe der Frauen mit Kinderwunsch durch die STIKO [130] und durch gynäkologisch-geburtshilfliche Fachgesellschaften empfohlen.
12.4 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
Die geringen verfügbaren Daten lassen aktuell oftmals keine aussagekräftige Bewertung
zu. Die folgenden Empfehlungen werden auf der Basis der aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisse ausgesprochen und werden in Zukunft, mit neuen Studienergebnissen, gegebenenfalls
angepasst.
Frauen im gebärfähigen Alter wird aufgrund der Unsicherheit in Bezug auf die Auswirkungen
einer Infektion auf die weiblichen Geschlechtsorgane empfohlen, sich dem Risiko einer
Infektion nicht unnötig auszusetzen. Dies bedeutet insbesondere das Umsetzen von Hygienemaßnahmen
und eine Impfung gegen COVID-19.
Die Erfüllung des Kinderwunsches nach SARS-CoV-2-Infektion richtet sich zeitlich nach
dem allgemeinen Wohlbefinden. Frauen mit akuter Infektion wird aufgrund der Unsicherheit
in Bezug auf die Auswirkungen auf eine Schwangerschaft eine sichere Verhütung empfohlen.
Die Erfüllung des Kinderwunsches nach SARS-CoV-2-Infektion richtet sich zeitlich nach
dem allgemeinen Wohlbefinden. Bei Frauen mit akuter Infektion sollen geplante reproduktionsmedizinische
Maßnahmen bis nach Genesung verschoben werden.
Bei einer Infektion in der Schwangerschaft ist das Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf
im Vergleich zu nicht-schwangeren infizierten Frauen sowie für Frühgeburt, Totgeburt
und Präeklampsie im Vergleich zu schwangeren nicht-infizierten Frauen erhöht.
Aufgrund eines eindeutig belegten erhöhten Risikos nach einer Infektion mit SARS-CoV-2
in der Schwangerschaft für Schwangerschaftskomplikationen oder einen schweren COVID-19-Verlauf
wird eine Impfung gegen COVID-19 mit einem mRNA-Impfstoff ausdrücklich bereits vor
einer Schwangerschaft empfohlen.
Ein negativer Einfluss auf die Fertilität lässt sich mit den zur Verfügung stehenden
Studien nicht nachweisen. Studien belegen hingegen die Sicherheit des Impfens gegen
COVID-19 in der Schwangerschaft und auch zu einem frühen Schwangerschaftszeitpunkt.
Es wurden u. a. keine vermehrten Fehlgeburten beobachtet.
Aufgrund eines erhöhten Risikos bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 in der Schwangerschaft
für Schwangerschaftskomplikationen oder einen schweren COVID-19-Verlauf wird eine
Impfung gegen COVID-19 ausdrücklich bereits vor der Schwangerschaft empfohlen.
Da Studien die Sicherheit des Impfens gegen COVID-19 in der Schwangerschaft belegen,
spielt das zeitliche Intervall zwischen Impfen und Schwangerschaft per se keine Rolle.
Die Erfüllung des Kinderwunsches nach COVID-19-Impfung richtet sich zeitlich nach
dem allgemeinen Wohlbefinden. Bei symptomloser Frau oder Abklingen einer Impfreaktion
bestehen keine Bedenken hinsichtlich einer Schwangerschaft.
Es wird zum aktuellen Zeitpunkt nicht von einem ungünstigen Einfluss der Impfung auf
reproduktionsmedizinische Maßnahmen ausgegangen.
Bei einer geringen Restunsicherheit in Bezug auf den Erfolg einer reproduktionsmedizinischen
Behandlung sollte ein Abstand zur Impfung eingehalten werden, bei dem keine Impfreaktionen
mehr zu erwarten sind, i. d. R. 7–14 Tage. Die Patientin sollte symptomfrei sein.
13 HNO-spezifische Aspekte
13 HNO-spezifische Aspekte
13.1 Riechstörungen
13.1.1 Einteilung
Riechstörungen werden eingeteilt in quantitative und qualitative Riechstörungen: Die
Normosmie bezeichnet eine normale Empfindlichkeit, die Hyposmie ein vermindertes und
die (funktionelle) Anosmie eine sehr deutliche Einschränkung bzw. den Verlust des
Riechvermögens. Die Parosmie bezeichnet die veränderte Wahrnehmung von Gerüchen in
Gegenwart einer Reizquelle, die Phantosmie die Wahrnehmung von Gerüchen in Abwesenheit
einer Reizquelle. In der Allgemeinbevölkerung kommt eine Hyposmie in etwa 15 %, eine
funktionelle Anosmie in weiteren ca. 4 % vor [131].
13.1.2 Diagnostikempfehlungen
Ein plötzlicher Riechverlust bei Patienten ohne nasale Obstruktion hat eine hohe Spezifität
und Sensitivität für COVID-19 [132]
[133]
[134]. Damit sollte eine neu auftretende Riechstörung/Anosmie zur Testung auf SARS-CoV-2
führen sowie zu den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Weiterverbreitung
des Infektes. Eine ausschließliche Selbstauskunft hinsichtlich der Riechstörung korreliert
nur eingeschränkt mit psychophysisch gemessenen Befunden [135].
Neben standardisierten Kurzfragebögen [136] wird das Riechvermögen mit psychophysischen Riechtests untersucht. Hier steht klinisch
die Dufterkennung im Vordergrund. Düfte werden hier z. B. anhand von standardisierten
Listen mit je 4 Begriffen identifiziert, z. B. mit den „Sniffin’ Sticks“ [137] oder dem „UPSIT“ [138]. Präziser wird die Diagnostik durch Erhebung einer Riechschwelle (z. B. mit Rosenduft-Verdünnungsreihe)
und der Unterscheidung von Düften.
In der Akutsituation empfehlen sich neben der schlichten Befragung der Patienten psychophysische,
evtl. selbstständig durchführbare Wegwerf-Systeme, wie z. B. ein „Scratch and Sniff“-Dufterkennungstest
[139]. Eine Alternative stellt u. U. die Selbsttestung in häuslicher Quarantäne dar [140].
13.1.3 Endoskopische Untersuchung der Nase/Bildgebung
In einer Untergruppe der Patienten mit COVID-19-assoziierten Riechstörungen findet
sich eine Schleimhautschwellung mit Sekret in der Riechspalte (Olfactoriusrinne) [141]. Darüber hinaus wurden vereinzelt auch Veränderungen im Bereich des Bulbus olfactorius
(MRT-Bildgebung) oder des orbitofrontalen Kortex nachgewiesen [142]
[143].
13.2 Therapieoptionen
Der Verlauf von Riech- und Schmeckstörungen bei COVID-19 wird als generell günstig
angesehen: Ein Großteil der Patienten berichtet eine vollständige bzw. weitgehende
Besserung binnen 1–2 Monaten. In ca. 5–20 % der Fälle bleiben relevante Einschränkungen
zurück [144]. Sofern eine COVID-19-assoziierte Riechstörung sich nicht binnen 4–12 Wochen wieder
weitgehend zurückgebildet hat, sollte eine neurologische oder HNO-ärztliche Vorstellung
erfolgen, mit Anamnese (v. a. auch mit Blick auf alternative Ursachen) und psychophysischer
Testung sowie nasaler Endoskopie (bzw. bei speziellen Indikationen auch kranieller
Bildgebung) [145]. Sofern eine Riechstörung länger anhält, kann eine Therapie mit konsequentem, strukturiertem
„Riechtraining“ versucht werden [131] u. a. in der Hoffnung, im Bereich der Riechschleimhaut die Regeneration olfaktorischer
Rezeptorneurone anzuregen. Klassischerweise werden hier die Düfte Rose, Zitrone, Eukalyptus
und Gewürznelke verwendet [135], wobei an jedem der 4 Düfte morgens und abends jeweils 30 Sekunden gerochen werden
sollte, über den Zeitraum von Wochen und Monaten, bis sich das Riechvermögen wieder
normalisiert hat. Hinsichtlich der Therapie mit intranasalen Kortikosteroiden liegen
widersprüchliche Berichte vor [146].
Die Riechstörungen zeigen meist eine Spontanremission und bedürfen i. d. R. keiner
spezifischen Behandlung. Wenn sie länger als 3 Monate persistieren, sollte eine gezielte
Abklärung erfolgen und es kann eine strukturiertes Riechtraining erwogen werden.
13.3 Offene HNO-Fragen
Parosmien können evtl. durch gestörte Aktivierungsmuster erklärt werden, die im Rahmen
der Regeneration von der Riechschleimhaut zum Bulbus olfactorius übertragen werden.
Andere Hypothesen beziehen sich auf Neurinome im Bereich der Riechschleimhaut, auf
Störungen in der Verarbeitung der Aktivierung auf Ebene des Bulbus olfactorius oder
übergeordneten Verarbeitungszentren. Ähnliche Erklärungen werden auch für Phantosmien
bemüht, allerdings finden sich Phantosmien häufig bei kompletten Anosmien, sodass
ihnen evtl. Deafferenzierungen zugrunde liegen. Differenzialdiagnostisch kommen auch
fokale epileptische Anfälle bei Schädigungen des Riechhirns infrage. Parosmien und
Phantosmien treten nicht selten gemeinsam auf und sind anamnestisch schwer zu trennen
[147].
Riechstörungen wirken sich hinsichtlich der Gefahrerkennung im Alltag aus und führen
z. B. zu mehr Lebensmittelvergiftungen, sie haben wesentliche Konsequenzen für den
Genuss von Nahrungsmitteln aufgrund der fehlenden Aromawahrnehmung, sodass das Essen
fade schmeckt und das Belohnende, die Freude beim Essen fehlt, was zu Fehlernährung
und Gewichtsverlust führen kann, und die Kommunikation über Düfte geht verloren, was
z. B. zu verminderter emotionaler Bindung zu Familienmitgliedern oder veränderter
Sexualität führen kann. In etwa einem Drittel der Patienten mit Riechstörungen finden
sich depressive Verstimmungen [148].
Bei 80–95 % der Betroffenen mit COVID-19-assoziierten Riechstörungen kommt es zur
weitgehenden Wiederherstellung des Riechvermögens innerhalb von 1–2 Monaten [144].
14 Kardiologische Aspekte[1]
14 Kardiologische Aspekte[1]
Die Rate kardiovaskulärer Komplikationen ist in den ersten 12 Monaten nach COVID-19
signifikant erhöht [149]. Hierzu gehören insbesondere venöse Thrombosen, ischämische Schlaganfälle, Myokardinfarkte,
Lungenarterienembolien (LAE) und auch das Auftreten einer Herzinsuffizienz [1]. Auch im Vergleich zu Patient*innen mit durchgemachter Influenza-Pneumonie zeigen
COVID-19-Patient*innen ein um ca. 30–50 % erhöhtes Risiko für Myokardinfarkte und
Schlaganfälle in der postakuten Phase [150]. Die Inzidenz neu auftretender kardiovaskulärer Komplikationen in den ersten 6 Monaten
nach COVID-19 ist direkt assoziiert mit dem Schweregrad der Akuterkrankung. Während
der Akutphase hospitalisierte Patient*innen haben eine annähernde Verdoppelung der
in der Folgezeit auftretenden kardiovaskulären Komplikation im Vergleich zu Patient*innen,
die während der akuten COVID-19-Phase ambulant behandelt wurden [151].
Die häufig genannten kardiologischen Post-COVID-19-Symptome sind Dyspnoe, insbesondere
unter Belastung eventuell Thoraxschmerzen, seltener Palpitationen und Tachykardien
([
Abb. 1
]).
Pathophysiologisch werden mehrere Mechanismen angeschuldigt, zu den kardialen Symptomen
in der Post-COVID-19-Phase beizutragen. Hierzu gehören neben der direkten Virusinfektion
des Herzens mit potenzieller Viruspersistenz insbesondere Folgen der generalisierten
Inflammation sowie andere immunologische Mechanismen, die über eine Schädigung der
Kardiomyozyten und einen fibrös-fettigen Umbau des Herzens zu einer reduzierten Pumpfunktion,
zum Auftreten von Arrhythmien sowie auch zur autonomen Dysfunktion mit resultierenden
Tachykardien unter vermehrter adrenerger Stimulation beitragen können [152]. Eine echokardiografisch messbare Einschränkung der linksventrikulären Pumpfunktion
findet sich in ca. 10 % der Patienten 4–6 Monate nach COVID-19, eine NT-pro-BNP-Erhöhung
als Ausdruck der kardialen Belastung in ca. 9 % der Patienten [153].
14.1 Diagnostische Maßnahmen
Alle Patient*innen, die im Rahmen der COVID-19-Akutphase kardiovaskuläre Komplikationen
erlitten hatten, sollten nach ca. 6–12 Wochen klinisch und mittels EKG und Echokardiografie
einschließlich laborchemischer Bestimmung von NT-pro-BNP und hochsensitivem Troponin
nachuntersucht werden. Patient*innen mit persistierenden Symptomen wie z. B. Atemnot
unter Belastung, Thoraxschmerzen, Abgeschlagenheit und belastungsinduzierten Tachykardien
sollten neben der pneumologischen Abklärung sich zusätzlich zur Echokardiografie einem
Belastungs-EKG unterziehen. Weitere bildgebende Diagnostikverfahren sollten im Einzelfall
in Betracht gezogen werden. Derzeit kann keine generelle Empfehlung für die Durchführung
eines kardialen MRT in der Post-COVID-19-Phase ausgesprochen werden. Dies ist jedoch
zweifelsohne bei Nachweis eines pathologischen Befundes im Echokardiogramm (reduzierte
linksventrikuläre Funktion, diastolische Funktionsstörung) indiziert. Hochleistungssportler
mit kardiovaskulären Komplikationen während der COVID-19-Akutphase sollten vor Wiederaufnahme
kompetitiver sportlicher Aktivitäten auf jeden Fall eine kardiale MRT-Untersuchung
mit dem Nachweis der kompletten Auflösung inflammatorischer Prozesse im Myokard vorweisen
[154].
Zur Erfassung der orthostatischen Intoleranz (OI), des posturalen orthostatischen
Tachykardiesyndroms (POTS) sowie der orthostatischen Hypotonie (OH) ist z. B. ein
passiver 10-Minuten-Stehtest oder, wenn verfügbar, eine Kipptischuntersuchung zu erwägen
[155].
14.2 Therapieoptionen
Grundsätzlich wird eine symptomorientierte Therapie empfohlen, die sich an den aktuellen
Leitlinien zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen orientiert [156]. Hierzu gehören die Einleitung einer Leitlinien-gerechten pharmakologischen Therapie
bei Nachweis einer reduzierten Pumpfunktion sowie die leitliniengerechte Antikoagulationstherapie
bei während der Akutphase durchgemachten thromboembolischen Komplikationen. Eine generelle
Empfehlung zu einer venösen Thrombo-Embolieprophylaxe bei unkompliziertem Akutverlauf
kann derzeit für die Post-COVID-19-Phase nicht gegeben werden [157]. Allerdings sollte die Indikation hierzu bei Hochrisikopatienten im Einzelfall großzügig
gestellt werden. Eine Einschätzung hinsichtlich therapeutischer bzw. prophylaktischer
Dosierung sollte mit den Patient*innen unter Abwägung von Risiko und Nutzen bis zum
Vorliegen konkreterer Daten besprochen werden. Bei Patient*innen mit orthostatischer
Tachykardie oder inadäquater Sinustachykardie unter körperlicher Belastung ist eine
Therapie mit einem niedrig dosierten Betablocker oder Ivabradin zu erwägen [158]. Alternativ stehen hier Fludrokortison, Midodrin, Mestinon zur Verfügung. Bewährt
hat sich zudem auch die nichtmedikamentöse Therapie beim POTS mit hinreichender Flüssigkeitszufuhr,
8–10 g/d Salz (soweit keine art. Hypertonie), Kompressionsstrümpfe/Leibbinde. Besondere
Vorsicht ist geboten bei der Verwendung von Amiodaron zur chronischen Behandlung des
Vorhofflimmerns bei Patient*innen, die im Rahmen der akuten COVID-19-Phase fibrotische
Lungenveränderungen entwickelt haben, da Amiodaron pneumotoxisch ist. Für Patient*innen
mit inadäquater Belastbarkeit und Tachykardie unter körperlicher Belastung, aber normaler
linksventrikulärer Pumpfunktion und normalen NT-pro-BNP-Werten, ist ein sich langsam
steigerndes kardiales Ausdauertraining zu empfehlen, sofern keine Symptomverschlechterung
eintritt.
14.3 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
Mehrere Studien zur Wertigkeit des kardialen MRT in der Post-COVID-19-Phase berichten
über pathologische Befunde in bis zu 70 % aller untersuchten Patienten, allerdings
unter Einschluss bereits vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankungen [159]
[160]. Die häufigsten pathologischen MRT-Befunde beziehen sich auf den Nachweis inflammatorischer
Veränderungen im Myokard, während in lediglich ca. 10 % eine messbare Einschränkung
der linksventrikulären Pumpfunktion nachweisbar ist [161]. Derzeit ist unklar, inwieweit die gemessenen MRT-Parameter der myokardialen Entzündung
sich im Langzeitverlauf in strukturelle Veränderungen des Herzens umwandeln. Dazu
werden derzeit mehrere Studien durchgeführt mit dem Ziel, den Übergang einer chronischen
Entzündungsreaktion im Myokard in einen fibrotischen Umbau potenziell zu erfassen.
Hierfür gibt es derzeit jedoch keine Evidenz.
Aus oben genannten Gründen kann derzeit keine Empfehlung für die routinemäßige Durchführung eines kardialen MRT in der Post-COVID-19-Phase
gegeben werden. Dies sollte Patienten mit in der Akut-COVID-19-Phase durchgemachten
kardiovaskulären Komplikationen vorbehalten bleiben sowie bei Patienten mit pathologischen
Befunden in der Echokardiografie bei entsprechender klinischer Symptomatik durchgeführt
werden.
Bei Patienten mit thorakalen Schmerzen und/oder Abgeschlagenheit oder Dyspnoe unter
Belastung und pathologischen Befunden im Belastungs-EKG ist im Einzelfall eine Entscheidung
für die Durchführung einer CT-Angiografie (pulmonal und koronar) im Sinne eines „Double-Rule-Out“
zu stellen.
Erfahrungsgemäß nehmen sowohl orthostatische Tachykardien als auch inadäquate Sinustachykardien
unter Belastung mit zunehmender Zeit nach der Akut-COVID-19-Phase ab. Bei Ausschluss
einer strukturellen Herzerkrankung mittels Echokardiografie sowie normalen NT-pro-BNP-Werten
als Ausdruck einer adäquaten Alltagsbelastbarkeit des Herzens ist in erster Linie
ein langsam aufsteigendes körperliches Ausdauertraining zu empfehlen, soweit dies
ohne Symptomverschlechterung toleriert wird. Dies kann unterstützt werden durch eine
niedrig dosierte Beta-Blocker-Therapie, um die Sympathikus-Aktivierung zu reduzieren,
oder auch durch die transiente Einnahme von Ivabradin (off label) zur Reduktion des
Pulsfrequenzanstiegs, falls Betablocker schlecht toleriert werden oder nicht ausreichend
wirken. Die Auswirkungen des körperlichen Ausdauertrainings sollten spätestens nach
4–6 Wochen mittels neuerlicher Belastungstests überprüft werden. Hier kann die Spiroergometrie
hilfreich sein (s. Kapitel Pneumologie).
Während sich bei mittel- bis schwergradigen Akut-Verläufen im stationären Setting
ohne Notwendigkeit für Intensivbehandlung eine prophylaktische Antikoagulation als
wirksam zur Vermeidung schwerwiegender Ereignisse einschließlich Mortalität erwiesen
hat (Verweis auf S3-Leitlinie Covid im stationären Bereich), gibt es für die Prophylaxe
im ambulanten Bereich (hausärztliche COVID-Leitlinie S2e) sowie die Langzeitprophylaxe
in der Long-Post-COVID-19-Phase keine gesicherte Evidenz. Alle Patienten, die im Rahmen
der Akut-Phase ein thromboembolisches Ereignis erlitten haben, sollen leitliniengerecht
antikoaguliert werden. Bei unkomplizierten Akutverläufen ist die Indikation zur Thromboseprophylaxe
in der Post-COVID-19-Phase bei Hochrisikopatienten (Adipositas, bekannte Thrombophilie,
Immobilisation etc.) großzügig zu stellen und für ca. 3 Monate zu erwägen. Letztendlich
handelt es sich um eine individuelle klinisch begründete Entscheidung.
Bei Post-COVID-19-Patienten, die kein kardiovaskuläres Ereignis während der Akutphase
der Erkrankung hatten und die nicht immobil sind, ist keine Thromboseprophylaxe zu
empfehlen.
Die Ausbildung einer arteriellen Hypertonie nach durchgemachter akuter COVID-19 [139] tritt geringfügig häufiger auf als nach durchgemachter Influenza-Pneumonie. Die
Therapie sollte leitliniengerecht erfolgen und die Notwendigkeit einer Dauertherapie
mit Antihypertensiva nach Wiederaufnahme der körperlichen Aktivität überprüft werden.
I. d. R. normalisieren sich die Blutdruckwerte nach Wiederaufnahme eines regelmäßigen
körperlichen Ausdauer-Trainingsprogrammes bei Patienten, die vor COVID-19 keine arterielle
Hypertonie hatten.
14.4 Offene kardiologische Fragen
-
Muss eine Long-Post-COVID-Myokarditis-Therapie erfolgen? Wenn ja wie?
-
Gibt es kardiale Langzeitfolgeschäden nach SARS-CoV-2-Infektion im Sinne eines fibrotischen
Umbaus des Myokards und Entwicklung einer diastolischen Dysfunktion?
-
Wie kann man durch die Infektion selbst ausgelöste entzündliche Veränderungen am Myokard
oder Gefäßen von Autoimmunprozessen unterscheiden?
15 Neurologische Aspekte
15.1 Einleitung
Die häufigsten neurologischen Beschwerden nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion
sind Fatigue, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Kopf- und Muskelschmerzen,
neuropathische Beschwerden sowie anhaltende Geruchs- und Geschmacksstörungen. Auch
autonome Dysregulationen werden beschrieben.
In einer Metaanalyse zu neurologischen Post-COVID-Symptomen [162], welche 19 Studien mit 22 815 Patienten umfasste, wurden 3 Monate nach akuter COVID-19-Erkrankung
folgende Manifestationen häufiger gefunden: Fatigue in 44 %, Konzentrationsstörungen
(„brain fog“) in 35 %, Schlafstörungen in 30 %, Gedächtnisprobleme in 29 % und eine
persistierende Anosmie in 11 % [162]. Bei bzw. nach COVID-19 können gehäuft Enzephalopathien (insbesondere in höherem
Alter) sowie gelegentlich Schlaganfälle, ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS), Hirnnervenausfälle,
Myositiden, Polyneuritiden und Plexopathien auftreten (für eine ausführliche Darstellung
des Spektrums neurologischer Manifestationen siehe [163]). Eine autoimmune Enzephalomyelitis kann nicht nur während der akuten Infektion
auftreten, sondern wurde auch 3 Monate nach COVID-19 beobachtet [164]. COVID-19 kann mit einer Polyneuropathie (PNP) einhergehen, unter anderem bei schwerem
intensivmedizinischem Verlauf im Sinne einer Critical Illness Polyneuropathie [165], andererseits mit einer sensibel betonten PNP, die sich auch mit neuropathischen
Beschwerden präsentiert. Entsprechend ist bei neuen oder verstärkten Schmerzsyndromen
an die Möglichkeit einer (Poly-)Neuropathie mit neuropathischen Beschwerden zu denken
[166]. Bei unauffälliger neurophysiologischer Diagnostik sollte an eine SFN gedacht und
eine Hautbiopsie durchgeführt werden [101].
Kognitive Defizite, die sowohl im subakuten Stadium als auch im weiteren Verlauf nach
COVID-19 häufiger gefunden werden, betreffen planerisches Denken, Konzentration, Gedächtnis-
und/oder Sprachleistungen; das trifft in etwa in drei Viertel der Fälle zu, die Rehabilitation
in Anspruch nehmen und zwar sowohl bei initial leichten als auch schweren COVID-19-Verläufen,
subakut und später (Post-COVID-Syndrom) [167]
[168]. Pathogenetisch wurden kognitive Störungen beim Long-/Post-COVID-Syndrom mit Hirnstrukturschädigungen
im parahippokampalen und orbitofrontalen Kortex sowie auch mit einer leichten globalen
Hirnsubstanzminderung in Zusammenhang gebracht [12]. Auch ist es so, dass Hirnfunktionsstörungen wie kognitive Störungen als „Netzwerk“-Störungen
des Gehirns zu betrachten sind; entsprechend kann bei Long-/Post-COVID auch ein regional
geminderter Hirnstoffwechsel beobachtet werden. Besonders von Hypometabolismus betroffen
bei neurologischem Post-COVID-Syndrom sind frontobasale paramediane Regionen, der
Hirnstamm und das Kleinhirn [11].
15.2 Diagnostikempfehlungen
Eine weiterführende spezialärztliche Abklärung sollte durchgeführt werden, wenn nach
durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion neurologische Herdzeichen, epileptische Anfälle
oder eine Verwirrtheit (Delir) auftreten.
Wenn Riech- und Schmeckstörungen, kognitive oder sprachliche, sensible oder motorische
Einschränkungen sowie Sprech- oder Schluckstörungen auftreten und über die Akutbehandlungsphase
hinaus persistieren, sollte eine gezielte Abklärung und Therapie erfolgen.
Eine Hyposmie oder Anosmie sollte über eine Testung (z. B. mit dem SS-16-Item Sniffin-Sticks-Test)
objektiviert werden. Ergänzend kann der Bulbus olfactorius MR-tomografisch untersucht
werden [169] (s. Kapitel 13.1.2).
Bei kognitiven Defiziten sollte eine neuropsychologische Untersuchung inklusive des
Montreal Cognitive Assessment (MoCA)-Testes erfolgen. Klinisch sollten insbesondere
Beschwerden bezüglich der Konzentrationsfähigkeit, des Gedächtnisses, Sprache/Wortfindung
und des planerischen Denkens beachtet werden. Bei Auffälligkeiten im Screening erfolgt
eine detaillierte neuropsychologische Diagnostik und Behandlung. Zur Klärung eines
Zusammenwirkens von psychischen Belastungen und kognitiven Störungen sollte diese
auch immer miterfasst werden (z. B. Screening mittels Hospital Anxiety and Depression
Scale (HADS o. a.) (siehe hierzu auch die Abschnitte Neuropsychologie bzw. Psychische
Aspekte). Bei Hinweisen auf eine Enzephalopathie sind ein EEG als Basisdiagnostik
und eine cMRT erforderlich. Im Einzelfall kann gezielt die 18FDG-PET eingesetzt werden,
um das Vorliegen spezifischer zerebraler Hypometabolismusmuster abzuklären (auch in
Abgrenzung zu weiteren Differenzialdiagnosen wie Enzephalitis oder neurodegenerative
Erkrankungen) [170].
Störungen der Sprache, des Sprechens oder Schluckens bedürfen einer ergänzenden Aphasie-
(bzw. Kommunikations-)Diagnostik, eines Dysarthrieassessments bzw. einer Dysphagiediagnostik
(Screening und apparativ, z. B. mit fiberendoskopischer Schluckdiagnostik (FEES).
Sensible und/oder motorische periphere neurologische Manifestationen machen die entsprechende
neurophysiologische Diagnostik mittels Nervenleitgeschwindigkeiten, Elektromyografie
und ggf. Hautbiopsie erforderlich. Zur Abklärung zentraler sensibler und/oder motorischer
neurologischer Manifestationen ist eine Bildgebung des Gehirns oder Rückenmarks, ggf.
in Kombination mit Elektrophysiologie angezeigt (SSEP, MEP).
Die Untersuchung von Serum und ggf. auch Liquor auf ZNS-Autoantikörper gegen intrazelluläre
und Oberflächenantigene ist bei persistierenden, objektivierbaren, neurologischen
Symptomen nach SARS-CoV-2-Infektion in spezialisierten Zentren sinnvoll. Je nach Konstellation
sollten auch Entzündungsmarker, die Gerinnung (Thrombozyten!) und (Inflammations-)Zytokine
untersucht werden. Die Ergebnisse müssen im klinischen Zusammenhang beurteilt werden.
15.3 Therapieoptionen
-
Physio-, sport-/bewegungs- und ergotherapeutische sowie logopädische, neuropsychologische
und sozialpädagogische Unterstützung (ambulante Heilmittel) sollten, wie individuell
erforderlich, erfolgen. Ist multiprofessioneller Behandlungsbedarf gegeben oder sind
die Mittel der ambulanten Heilmittel nicht ausreichend, sollte eine ambulante oder
stationäre Neurorehabilitation (auch bei kognitiven Störungen) initiiert werden.
-
Bei entsprechender Risikofaktorenkonstellation sollte eine Thromboseprophylaxe erfolgen.
-
Bei Hinweisen auf eine autoimmune neurologische Manifestation mit Autoantikörpernachweis
sollte eine Gabe von intravenösen Immunglobulinen, Kortikoiden oder Plasmapherese
erfolgen.
15.4 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
-
Bei Störungen der Exekutivfunktionen, die planmäßiges Handeln und Affektkontrolle
betreffen.
-
Bei Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, die mit Berufstätigkeit oder Alltag interferieren.
15.5 Offene neurologische Fragen
-
Gibt es einen Patientenphänotyp, der beim Long-/Post-COVID-Syndrom ein neurologisches
Cluster entwickelt [171]
[172]?
-
Lässt sich bereits früh erkennen, welche neurologischen Manifestationen sich wie schnell
(spontan) erholen werden und ggf. bei wem (mit welchen individuellen Patientencharakteristika)?
16 Neuropsychologische Aspekte
16 Neuropsychologische Aspekte
16.1 Einleitung
Bis zu 20 % der Patienten können 12 oder mehr Wochen nach der bestätigten COVID-19-Diagnose
eine kognitive Beeinträchtigung aufweisen [173]. Sowohl das Ausmaß als auch das Profil der neu erworbenen neurokognitiven Beeinträchtigungen
nach COVID-19 können sehr heterogen sein und alle kognitiven Bereiche (Aufmerksamkeit,
Gedächtnis, Exekutivfunktionen, Sprache) betreffen [174]. Kognitive Defizite können auch nach mildem Verlauf auftreten [175]. Retrospektiven, Querschnitts- und einige wenige groß angelegte prospektive Beobachtungsstudien
zeigen, dass nach einer SARS-CoV-2-Infektion neue kognitive Beeinträchtigungen auftreten
und bis zu 12 Monate oder länger anhalten können [103]
[176]
[177]
[178]. Eine neuropsychologische Beurteilung dient als Basis der Erstellung eines individuellen
Behandlungsplans für kognitive Defizite, der sich auf die Funktion, die Behinderung
und die Rückkehr zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben konzentriert und die Lebensqualität
des Patienten verbessert [179].
16.2 Diagnostikempfehlungen
Die eingehende Diagnostik und Behandlung von neuropsychologischen Störungen ist Aufgabe qualifizierter Neuropsycholog*innen. Sie setzt eine genaue Kenntnis der psychologischen und neuropsychologischen Theorien
und der Paradigmen, die den eingesetzten Verfahren zugrunde liegen, sowie der funktionellen
Netzwerke, die die jeweilige Störung kontrollieren, voraus. Die Behandlung der kognitiven
Störungen ist häufig nur ein Teilaspekt der multiplen Folgen einer Hirnschädigung.
Patient*innen mit kognitiven Beschwerden sollten stufenweise diagnostiziert werden
-
Anamnese hinsichtlich neuropsychologischer Symptome und zeitlichem Zusammenhang zu
einer durchgemachten SARS-CoV-2-Infektion, ggf. geeignetes kognitive Screening (z. B.
MOCA).
-
Bei Hinweisen auf kognitive Einschränkungen durch die Anamnese bzw. durch ein kognitives
Screeningverfahren soll eine umfassende neuropsychologische Untersuchung erfolgen.
Im Supplement werden diese Aspekte näher dargestellt (siehe hierzu das Supplement.)
Kognitive Störungen sind unter Berücksichtigung der psychischen Gesundheit (vgl. Kapitel „Psychische Aspekte“) sowie einer möglichen Fatigue (vgl. „Fatigue“)
zu interpretieren. Ob fahreignungsrelevante sowie berufsrelevante kognitive Leistungsminderungen
vorliegen, soll bei der Beratung und Therapie entsprechend berücksichtigt werden.
16.3 Therapieoptionen
Daten zu kausalen neuropsychologischen Therapien bei Long-/Post-COVID-Syndrom fehlen.
Eine symptomatische Therapie abhängig von der Art der Funktionsbeeinträchtigung wird
in Anlehnung an die jeweiligen AWMF-Leitlinien empfohlen. Durch eine spezifische,
differenzierte und an den Verlauf adaptierte Behandlung können oftmals deutliche therapeutische
Fortschritte und Verbesserungen für die Teilhabe erreicht werden. Die neuropsychologische
Therapie sollte funktionsorientiertes Training, die Anpassung von Kompensationsstrategien
und Verhaltensaspekte im Umgang mit kognitiven Leistungsminderungen einbeziehen.
16.4 Häufig gestellte praxisrelevante Frage
Es sollten Pausen bei Bedarf angeboten werden oder die Untersuchung in mehrere getrennten
Sitzungen von kürzerer Dauer aufgeteilt werden. Im Verlauf einer neuropsychologischen
Untersuchung können trotz dieser Maßnahmen Ermüdungserscheinungen eintreten, die die
kognitiven Fähigkeiten verzerren oder v. a. die Ermüdung widerspiegeln. Diese jedoch
sind von hoher funktioneller Relevanz und spiegeln die Interaktion von Fatigue und
kognitiver Leistungsfähigkeit im Alltag wider.
16.5 Offene neuropsychologische Frage
Es gibt Hinweise darauf, dass kognitive Störungen sowohl primäre als auch sekundäre
Folgen der COVID-19-Krankheit sein können [12]
[180]. Weitere Studien sind erforderlich.
17 Ophthalmologische Aspekte
17 Ophthalmologische Aspekte
17.1 Einleitung
Der erste Arzt, der 2019 die neuartige Erkrankung COVID-19 aufgrund des SARS-CoV-2
beschrieb, war ein Ophthalmologe. Dr. Li Wenliang verstarb selbst nur wenige Zeit
später an den Folgen der schweren SARS-CoV-2-vermittelten Pneumonie. Bereits 2003
gab es erste Hinweise darauf, dass sich SARS-CoV-Partikel in der Tränenflüssigkeit
von Patienten befinden können [181]
[182]
[183]. Die SARS‐CoV‐2-RNA konnte zudem bereits in konjunktivalem Gewebe nachgewiesen werden
[184]. Experimentelle Daten legen eine mögliche Assoziation des SARS-CoV-2 mit pathologischen
Netzhautbefunden nahe: Die Bindungsstellen für das SARS-CoV-2, das ACE-2 und die transmembrane
Serinprotease 2 (TMPRSS2) werden auf retinalen Zellen exprimiert, sodass über eine
viralinduzierte endotheliale Dysfunktion diskutiert wird [185]
[186]
[187]
[188]
[189]. In Tiermodellen fand man zudem einen Zusammenbruch der Blut-Retina-Schranke, eine
retinale Vaskulitis sowie eine Degeneration von retinalen Zellen [190]
[191]
[192].
Während der akuten Infektion schwanken die Prävalenzen für eine Augenbeteiligungen
zwischen 2 % und 32 % [193]
[194]
[195]
[196]
[197]
[198]. Für eine Assoziation einer COVID-19 mit ophthalmologischen Befunden muss ein akuter
bzw. ein durchgemachter Infekt nachzuweisen oder für hochwahrscheinlich (z. B. SARS-CoV-2
positiver Familienangehöriger) angesehen werden. Eine okuläre Manifestation kann im
Rahmen einer Konjunktivitis (follikulär, hämorrhagisch, pesudomembranös) sowohl begleitend
als auch als erstes oder einziges Symptom einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten [199]
[200]
[201]
[202]. Begleitend kann sich auch eine Keratokonjunktivitis entwickeln [203]. Reaktivierungen von bereits vorbestehenden Infektionen (z. B. Herpes) können alle
okulären Strukturen betreffen [204]
[205]. Tiefere Augenstrukturschäden entstehen zumeist als Folge eines inflammatorischen,
vaskulären oder neuronalen Pathomechanismus:
-
Vaskulär: Neben Zentralvenenverschlüssen [206] und Zentralarterienverschlüssen [187] werden Mikrozirkulationseinschränkungen in spezifischen retinalen Schichten (z. B.
im Rahmen einer akuten makulären Neuroretinopathie [AMN] oder parazentral akuten mittleren
Makulopathie [PAMM] [207]) beschrieben. Teils kann der visuelle Kortex im Rahmen eines Infarktes betroffen
sein [208].
-
Inflammatorisch: Alle vaskularisierten Gewebe können involviert sein (z. B. als Episkleritis
[209]
[210], [nekrotisierende] anteriore Skleritis [211], posteriore Uveitis) [212]
[213]
[214].
-
Neuronal: Es sind eine Optikus-Neuritis [215]
[216]
[217], ein Papillenödem [218]
[219] sowie eine Paralyse des III., IV., VI. Hirnnervs beschrieben [220]
[221]
[222].
17.2 Diagnostikempfehlung
Berichten Patienten nach einer COVID-19 über neue bzw. persistierende ophthalmologische
Beschwerden (z. B. Tränen, Schmerzen, Seheinschränkung) ist eine Vorstellung bei einem/r
Ophthalmolog*in anzuraten. Nach entsprechender Befundlage wird eine Verdachtsdiagnosen-gerechte
Diagnostik in die Wege geleitet. Diese umfasst je nach Befundkonstellation eine
-
z. B. Überprüfung der Sehschärfe und des intraokularen Druckes
-
z. B. Spaltlampenuntersuchung der Vorderabschnitte
-
z. B. Überprüfung des Gesichtsfeldes (Perimetrie)
-
z. B. Überprüfung eines möglicherweise stattgehabten oder persistierenden vaskulären
oder inflammatorischen Ereignisses (Fluoreszenzangiografie, optische Kohärenztomografie,
OCT, OCT-Angiografie)
-
z. B. Erhebung eines neuroophthalmologischen Status
-
z. B. entsprechende Blutserologie (zum Ausschluss einer rheumatologischen oder anderen
infektiösen Genese)
17.3 Therapieoptionen
Da ein Teil der Augenbeteiligungen im Rahmen der Akutinfektion selbstlimitierend sind,
besteht hierbei keine Notwendigkeit für weitführende Behandlungen. Inflammatorische,
vaskuläre oder neurologische Entitäten werden entsprechend für die jeweiligen Krankheitsbilder
behandelt. Eine persistierende Sicca-Symptomatik kann symptombezogen (z. B. Tränenersatzpräparate)
behandelt werden.
17.4 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
Ja, auf Grund der Beteiligung der neurosensorischen Netzhaut und Uvea ist eine Untersuchung
durch eine*n Augenärzt*in dringend angeraten. Hierbei werden die Sehschärfe, das Gesichtsfeld
und der Augenhintergrund untersucht.
Aktuell gibt es keine evidenzbasierten Daten auf diese Frage. Vermutet wird ein Infektionsweg
über die Tränenwege und Nasenschleimhaut. Hier besteht auch die Verbindung zum 1.
Hirnnerven, dem N. olfactorius. Deshalb ist das Tragen einer Schutzbrille im Umgang
mit COVID-19-Patienten empfohlen [223].
Ja, es können Viruspartikel aus dem Tränenfilm als Aerosole in die Luft freigesetzt
werden. Ob dies für eine Ansteckung reicht ist aktuell unbekannt [224]
[225].
Erste experimentelle Daten sprechen für eine Assoziation eines erhöhten intraokularen
Druckes (IOD) und Long-/Post-COVID über einen autoimmun vermittelten Weg. Eine Messung
des IODs ist daher anzuraten.
Die Hygienemaßnahmen sollen sowohl SARS-CoV-2-Infektionen bei Patient*innen und Personal
vermeiden als auch die Verbreitung verhindern. Perimetrieuntersuchungen sollen nicht
bei bestehender SARS-CoV-2-Infektion und nicht bei SARS-CoV-2-Verdacht, bis eine SARS-CoV-2-Infektion
ausgeschlossen ist und nur bei Patient*innen ohne auf SARS-CoV-2-Infektion weisende
Symptome durchgeführt werden [225].
Bislang sind die akuten ophthalmologischen Komplikationen einer SARS-CoV-2-Infektion
gut beschrieben. Ob und wie häufig postakute ophthalmologische Symptome im Rahmen
eines Long-/Post-COVID-Syndroms auftreten und welche Therapieimplikationen über die
Akuttherapie hinaus sich daraus ergeben, ist Gegenstand der Forschung.
18 Pädiatrische Aspekte
18.1 Einführung
Bislang liegen nur wenige systematische Daten zu Kindern und Jugendlichen (Alter < 18
Jahre) mit Long-/Post-COVID-Syndrom entsprechend der Definitionen von NICE und WHO
vor [17]
[226]. Die WHO hat angemerkt, dass für Kinder möglicherweise eine separate Definition
angemessen sein könnte, ohne eine solche bislang vorzugeben [17]. Bislang erkrankte der Großteil SARS-CoV-2-infizierter Kinder und Jugendlicher gar
nicht oder mild an COVID-19. Ein kleiner Teil der Infizierten dieser Altersgruppen
entwickelt jedoch schwere Verläufe von COVID-19 und/oder gesundheitliche Langzeitfolgen.
Bei einigen sind psychosoziale Teilhabe und Lebensqualität aufgrund des Long-/Post-COVID-Syndroms
eingeschränkt [66].
Die Prävalenz von Langzeitfolgen nach SARS-CoV-2-Infektion bei Kindern und Jugendlichen
ist noch nicht geklärt. Die Differenz zwischen Long-COVID-ähnlichen Symptomen bei
positiv auf eine SARS-CoV-2-Infektion getesteten Minderjährigen und Kontrollen lag
bei 0,8–13 %, mehrheitlich bei weniger als 5 % [227]
[228]
[229]
[230]
[231]
[232]
[233]
[234]. Die Heterogenität der Prävalenzdaten ist v. a. den vielfältigen Unterschieden im
Studiendesign geschuldet [65]
[235]. Die Mehrzahl der verfügbaren Studien beinhaltet nur kleine Kohorten und keine Kontrollgruppen,
einige fordern keine Laborbestätigung der SARS-CoV-2-Infektion und einige beruhen
lediglich auf digitalen Elternbefragungen ohne ärztliche Evaluation. Gemäß den wenigen
Studien, die Verlaufsuntersuchungen durchführten, nimmt die Prävalenz von Long-COVID-Symptomen
insbesondere bei jungen Kindern innerhalb der ersten 3 Monate nach Infektion deutlich
ab [236]. Schwere Verläufe mit deutlich eingeschränkter Teilhabe sind möglich [237], darunter gemäß eigenen Beobachtungen bei Adoleszenten auch einzelne Fälle mit postviralem
ME/CFS. Zu möglichen Risikofaktoren für ein Long-/Post-COVID-Syndrom bei Kindern und
Jugendlichen liegen nur wenige und z. T. nur vorveröffentlichte Daten vor. Sie sprechen
für ein möglicherweise erhöhtes Risiko in der Adoleszenz und bei weiblichem Geschlecht
sowie nach initial schwerem COVID-19-Verlauf und bei chronischer Vorerkrankung, inklusive
Allergien [230]
[238]
[239]
[240]
[241]. Der Einfluss der verschiedenen SARS-CoV-2-Varianten auf Prävalenz, Schweregrad
und Verlauf von Long-/Post-COVID bei Kindern und Jugendlichen ist noch unklar. Insgesamt
ist der pädiatrische Forschungsbedarf zum Long-/Post-COVID-Syndrom hoch [242].
18.2 Empfehlungen zur Diagnostik
Eine sorgfältige ärztliche Abklärung ist unerlässlich, um die Symptome der jungen
Betroffenen differenzialdiagnostisch genau einzuordnen. Prinzipiell liegen ähnliche
Symptome wie bei Erwachsenen vor. Häufig sind Fatigue, kognitive Störungen und Schmerzen
[229]
[242]. Dabei müssen verschiedene somatische und psychische Erkrankungen berücksichtigt
werden, die sich mit ähnlichen Symptomen manifestieren. Besonders schwierig kann die
Abgrenzung von den häufigen psychischen Störungen infolge der pandemiebedingten Belastungen
(„Long Lockdown“) sein [243]
[244]. Bei Schilderung von Symptomen und Zeichen, die auf ein Long-/Post-COVID-Syndrom
hinweisen können, sollten zunächst eine ausführliche Anamnese, umfassende körperliche
Untersuchung und Basisdiagnostik im Labor durchgeführt werden. Die Dringlichkeit einer
erweiterten Differenzialdiagnostik sollte anhand der Einschränkungen der Alltagsfunktion
und Teilhabe abgeschätzt werden. Bei Persistenz der Symptome länger als 4 Wochen oder
Hinweisen in der Basisdiagnostik ist eine erweiterte Diagnostik zu empfehlen. Vorschläge
zum diagnostischen Vorgehen finden sich in dem Konsensuspapier der Konventgesellschaften
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (DGKJ) [245].
18.3 Therapieoptionen
Auch bei Kindern und Jugendlichen erfolgt die Therapie bislang symptomorientiert.
Bei der interdisziplinären Behandlung sind somatische und psychische Aspekte zu berücksichtigen
und die Belastbarkeit individuell zu beachten. Die Wirksamkeit der Behandlungsmaßnahmen
sollte kurzfristig und regelmäßig evaluiert werden. Die psychosoziale Unterstützung
beinhaltet auch den angemessenen Nachteilsausgleich in Schule oder Ausbildung. Vorschläge
zum therapeutischen Procedere finden sich in dem oben erwähnten Konsensuspapier der
Konventgesellschaften der DGKJ [245].
18.4 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
Die Prävalenz von Langzeitfolgen nach SARS-CoV-2-Infektion bei Kindern und Jugendlichen
ist noch nicht geklärt. Sie wird in kontrollierten Studien überwiegend mit weniger
als 5 % der Infizierten angegeben.
Die Daten sind weniger schlüssig als bei Erwachsenen. Sie sprechen für ein möglicherweise
erhöhtes Risiko in der Adoleszenz und bei weiblichem Geschlecht sowie nach initial
schwerem COVID-19-Verlauf und bei chronischer Vorerkrankung, inklusive Allergien.
Die Dringlichkeit einer erweiterten Differenzialdiagnostik sollte anhand der Einschränkungen
der Alltagsfunktion und Teilhabe abgeschätzt werden. Bei Persistenz der Symptome länger
als 4 Wochen oder Hinweisen in der Basisdiagnostik ist eine erweiterte Diagnostik
zu empfehlen.
Insbesondere muss das Long-/Post-COVID-Syndrom von den wesentlich häufigeren psychischen
Störungen infolge der pandemiebedingten Belastungen („Long Lockdown“) abgegrenzt werden.
Aus diesem Grunde muss die Differenzialdiagnostik in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit
zwischen Pädiater*innen und Psycholog*innen sowie Kinder- und Jugendpsychiater*innen
erfolgen.
Schwere Verläufe, inklusive ME/CFS, sind möglich aber selten. Ältere Adoleszente sind
eher betroffene als jüngere Kinder.
18.5 Offene Fragen zu Long-/Post-COVID bei Kindern und Jugendlichen
-
Was sind Risikofaktoren für die Entwicklung eines Long-/Post-COVID-Syndrom und dessen
schwere Verlaufsformen beim Kind bzw. Jugendlichen?
-
Welches sind die ursächlichen molekularen, immunologischen und psychologischen Mechanismen
beim Kind bzw. Jugendlichen?
-
Gibt es verlässliche Biomarker beim Kind bzw. Jugendlichen?
-
Gibt es wesentlich Unterschiede zwischen Long-/Post-COVID-Syndrom und anderen Formen
postviraler Syndrome z. B. nach Infektiöser Mononukleose durch Epstein-Barr-Virus
beim Kind bzw. Jugendlichen?
-
Kann Long-/Post-COVID beim Kind bzw. Jugendlichen verhindert werden?
-
Wie sieht die optimale Behandlung beim Kind bzw. Jugendlichen aus?
19 Pneumologische Aspekte
19 Pneumologische Aspekte
Die klinischen Manifestationen von COVID-19 reichen von asymptomatischen/milden Symptomen
bis hin zu schweren Erkrankungen mit Hospitalisierung und Todesfällen [246]. Die meisten Patienten erholen sich nach der Erkrankung unabhängig vom Schweregrad.
Ein Teil der Patienten bleibt nach akuter Erkrankungsphase symptomatisch [247].
19.1 Diagnostikempfehlungen
Basierend auf den Daten zu milden und schweren COVID-19-Verläufen sind die Symptomkonstellationen
u. U. different. Pulmonale Beschwerden wie Husten oder Luftnot oder Leistungsknick
sind multifaktoriell und nicht zwingend assoziiert mit abnormaler Bildgebung oder
Lungenfunktion [248]
[249], wobei Lungenveränderungen auch nach einem Jahr noch radiologisch sichtbar sein
können [250].
19.1.1 Dyspnoe/thorakale Beschwerden
Dyspnoe und unspezifische thorakale Beschwerden sind häufig aufgeführte Symptome 3–6 Monate
nach Erkrankung und bedürfen der Abklärung mittels Funktionstests in Ruhe (insbesondere Diffusionskapazität, Blutgasanalyse) und unter Belastung (6-Minuten-Gehtest ggf., Ergospirometrie) sowie ggf. einer weiteren z. B. kardialen
Diagnostik (s. Kapitel „Kardiologie“). Dyspnoe wird allerdings oft beschrieben ohne
Auffälligkeiten in der Lungenfunktion oder Bildgebung. Faktoren können kardiorespiratorischer,
neuromuskulärer oder psychischer Genese sein. Eine Phänotypisierung der Dyspnoe und
Belastungseinschränkung kann durch die Ergospirometrie gelingen: Häufig hierbei erhobene
Befunde sind Dekonditionierung und Hyperventilation [251]
[252]
[253]
[254].
Unter Berücksichtigung möglicher Vorerkrankungen und in Abhängigkeit der Befunde schließt
sich die entsprechende Bildgebung ein.
19.1.2 Schlafmedizinische Störungen (Ein-, Durchschlaf-, Konzentrationsstörung)
Bei schweren COVID19-Verläufen tritt nicht erholsamer Schlaf mit Müdigkeit sowie in
der Folge Ängstlichkeit und depressiver Verstimmung bei einem relevanten Anteil der
Patienten auf [63]. Die Produktion von Zytokinen im zentralen Nervensystem („glymphatisches System“)
[255] kann postvirale Symptome verursachen, da proinflammatorische Zytokine zu einer autonomen
Beeinträchtigung führen, die u. a. zu hohem Fieber führt. Langfristige Folgen sind
dysregulierter Schlaf-Wach-Zyklus, kognitive Beeinträchtigung, Anhedonie, Distress
und Anergie [256]. In den bislang vorliegenden schlafmedizinischen Untersuchungen zeigen sich insbesondere
Insomnien [257]. Des Weiteren gibt es Hinweise auf REM-Phasen-assoziierte Schlafstörungen [258] als Ausdruck der zerebralen infektassoziierten Pathologie [259], jedoch liegen noch keine systematischen Untersuchungen vor. Insomnien treten auch
als Kollateralschaden der Pandemie in der nicht an COVID-19 erkrankten Bevölkerung
gehäuft auf. Ursachen sind u. a. Reizüberflutung, Bildschirmarbeit und Beunruhigung
durch die pandemische Situation [260].
Zur schlafmedizinischen Diagnostik ist je nach Ausprägung und spezifischer Symptomatik
(Schnarchen, beobachtete Atemaussetzer, imperative Einschlafneigung tagsüber als Hinweise
auf eine schlafbezogene Atmungsstörung, die einen abwendbar gefährlichen Verlauf darstellt
[52]) eine Screening-Polygrafie (PG) zu erwägen und ggf. sollte eine (Video-)Polysomnografie
angeschlossen werden.
19.1.3 Husten
Husten findet sich postakut häufig. Bei persistierendem Husten ist eine weiterführende
Abklärung in der aktuellen deutschen Hustenleilinie aufgeführt [261]. Die Lungenfunktion mit Bronchospasmolyse und ggf. ein unspezifischer Provokationstest
sind wichtige diagnostische Untersuchungen in der Abklärung.
19.2 Therapieoptionen
Nach Ausschluss von spezifisch behandelbaren Komplikationen wie Asthma, Lungenarterienemolie
(LAE), Fibrose etc. sind Maßnahmen wie Atemphysiotherapie, Sport-/Bewegungstherapie,
Dyspnoetraining etc. (siehe Rehakapitel sowie Supplement Logopädie) angezeigt.
19.3 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
SARS-CoV-2 kann eine Vielzahl verschiedener Lungenpathologien verursachen (u. a. z. B.
„diffuse alveolar damage“ [DAD], akute fibrinöse organisierende Pneumonie [AFOP],
lymphozytische Pneumonitis und vielleicht auch andere Muster). Das häufigste bildgebende
Korrelat sind Milchglastrübungen, während Retikulationen, Konsolidierungen sowie Traktionsbronchiektasen
in der chronischen Phase seltener zu sehen sind [49]
[63]
[262]
[263].
Noch nach einem Jahr nach stationärer Behandlung zeigen Patienten, die schwer an COVID-19
erkrankt waren, pulmonale Veränderungen in der CT-Bildgebung. Männer über 60 Jahre,
die auf der Intensivstation waren, zeigen am häufigsten Veränderungen [250]
[264]. Die D-Dimer-Erhöhung ist i. d. R. Ausdruck anhaltender Inflammation und spiegelt
die Schwere der Erkrankung wider. Nur selten wird im Verlauf eine Thrombose der Lungenarterien
nachgewiesen [265]. Als kritisches Intervall werden hier die ersten 6 Monate nach COVID-19 angegeben
[266].
Ob und inwiefern eine interstitielle Lungenerkrankung bei den initial schwer an COVID-19
Erkrankten entsteht, ist Gegenstand der Forschung. Auch die Virusvarianten und möglicherweise
der Impfstatus könn(t)en hierauf einen Einfluss haben.
Algorithmen empfehlen, dass sich Patient*innen mit pulmonalen Beschwerden und funktionellen
Einschränkungen zunächst einer konventionellen Röntgenuntersuchung des Thorax unterziehen
[267]. Werden dort bzw. in der Funktionsdiagnostik abnorme Befunde erhoben, sollten eine
CT bzw. wenn verfügbar eine „Dual Energy“ CT (DECT) durchgeführt werden [268]. Hierdurch ist ein großer Anteil denkbarer Veränderungen gut dargestellt. Sollten
sich Hinweise auf eine periphere Thromboembolie bzw. unklare Befunde finden, kann
um eine Ventilations-Perfusions-Szintigrafie ergänzt werden [269]. Selten findet sich eine postinfektiöse obliterative Bronchiolitis, hier kann eine
CT in Exspiration (airtrapping) benötigt werden [270].
Bei Befunden, die für einen progressiven interstitiellen Prozess sprechen, sollte
zur weiteren Abklärung eine Bronchoskopie mit bronchoalveolärer Lavage (BAL) und ggf.
Biopsie diskutiert werden, entsprechend den Empfehlungen zur Diagnostik von interstitiellen
Lungenerkrankungen [271]
[272]. Es gibt eine Reihe von Arbeiten zur experimentellen Bildgebung, wie dem Xenon-MRT,
die aktuell allerdings wissenschaftlichen Fragestellungen vorbehalten ist [273].
Bei anhaltender oder schwerer bzw. zunehmender Dyspnoe nach COVID-19 sollten eine
Lungenfunktion und eine Messung der Diffusionskapazität erfolgen und ggf. eine konventionelle
Röntgenuntersuchung durchgeführt werden. Werden dort oder in den Funktionsuntersuchungen
(Diffusionskapazität) Einschränkungen gefunden, sollte sich eine CT des Thorax anschließen.
Die Kontrastmittelgabe dient dem Ausschluss von Veränderungen im Stromgebiet.
Die aktuelle Datenlage zeigt, dass die Spiroergometrie bei Patient*innen mit Long-/Post-COVID-Syndrom
insbesondere eine Dekonditionierung nach der Erkrankung belegt [251]
[252]
[253]
[254]. Sie kann hilfreich für die Erstellung eines Trainingsprogramms sein und Trainingserfolge
zu erfassen.
Es konnte gezeigt werden, dass nach 60 bzw. 100 Tagen Follow-up bei Patient*innen
nach COVID-19 die pathologischen Veränderungen abnehmen [274]. Das gilt vor allen Dingen für die Milchglasveränderung und die Retikulation, aber
auch die bronchiale Dilatation. Das trifft für Patient*innen mit mildem bis kritischem
Akutverlauf zu [274]. Ob und wie oft es zu einer progressiven Fibrosierung der Lunge kommt, ist unklar.
Bisher liegen nur wenige kasuistische Daten vor, sodass über eine immunsuppressive
Therapie im Einzelfall entschieden werden sollte, wenn nach entsprechender Abklärung
ein progredienter interstitieller Lungenprozess vorliegt. Für eine antifibrotische
Therapie gibt es aktuell keine ausreichende Evidenz [275].
Wichtigstes Ziel ist die Symptomkontrolle im Verlauf. Pneumologische Diagnostik (Diffusionskapazität,
bei Einschränkung Schnittbilduntersuchung und ggf. Entscheidung durch ein interdisziplinäres
Board für interstitielle Lungenerkrankungen [ILD-Board]).
Eine routinemäßige Gabe von Steroiden und eine antifibrotische Therapie sollen nicht
durchgeführt werden.
Inhalatives Kortikosteroid + /– Bronchodilatatoren als Versuch bei persistierenden
Hustenbeschwerden. Ggf. langwirksame antimuskarinerge Antiobstruktiva (LAMA) als Versuch.
Anhaltender Husten ist ein häufiges Symptom bei COVID-19 in den ersten 6–12 Wochen
nach der akuten Erkrankung, das sich im weiteren zeitlichen Verlauf verbessern kann.
Bei stärkerer Symptomatik oder persistierenden Beschwerden kann in Analogie zu den
Empfehlungen bei postinfektiösem Husten [261] ein Therapieversuch mit einem inhalativen Kortikosteroid (ICS) und/oder Beta-2-Sympathikomimetikum
durchgeführt werden, insbesondere, wenn Hinweise für eine bronchiale Hyperreagibilität
bestehen. Gegebenenfalls sind auch muskarinerge Substanzen bei postinfektiösem Husten
wirksam [261]
[276].
Mit ICS behandelte Asthmatiker, die ihre Therapie auch während der Infektion verwenden/anpassen,
haben kein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf oder die Entwicklung eines Long-/Post-COVID-Syndroms.
Allerdings ist mit einer schlechteren Asthmakontrolle und erhöhtem Bedarf an inhalativer
Therapie für bis zu einem Jahr zu rechnen. Die Kontrollintervalle nach SARS-CoV-2-Infektion
sollten daher nach klinischen Beschwerden angepasst und die Symptome der Asthmaexazerbation
von Long-/Post-COVID-Symptomen abgegrenzt werden [277]
[278].
19.4 Offene pneumologische Fragen
-
Haben Patienten mit einer interstitiellen Lungenerkrankung (ILD) ein Risiko für eine
Aktivierung ihrer Grunderkrankung durch SARS-CoV-2?
-
Gibt es eine Prädisposition oder Faktoren, die einen fibrotischen Verlauf begünstigen?
-
Kann eine frühzeitige systemische oder inhalative Kortikosteroid-(ICS-)Therapie den
Husten nachhaltig günstig beeinflussen?
-
Gibt es durch Virusvarianten bedingt unterschiedliche Pathologien im Respirationstrakt?
-
Welchen Einfluss hat die invasive Beatmung auf die SARS-CoV-2-erkrankte Lunge?
20 Psychische Aspekte
20.1 Einleitung
20.1.1 Pathogenetische Zusammenhänge psychischer Störungen mit dem Long-/Post-COVID-Syndrom
Psychische Symptome werden aktuell überwiegend als Folge der Infektion mit SARS-CoV-2
sowie der pandemieassoziierten Belastungen und persistierenden Einschränkungen diskutiert.
Es ist außerdem hinreichend belegt, dass psychische und psychosomatische Vorerkrankungen
Vulnerabilitätsfaktoren für das Auftreten von psychischen Long-/Post-COVID-Symptomen
darstellen. Zudem legen psychoneuroimmunologische Konzepte nahe, dass insbesondere
Stress zur Verschlechterung und Chronifizierung von inflammatorischen Erkrankungen
beitragen kann [279]. Auch wurden Zusammenhänge zwischen initial schwacher Immunabwehr und langfristig
erhöhten Inflammationsparametern mit Fatigue berichtet [173]. Hinsichtlich Depression wird zudem ein Beitrag von Zytokinsturm, Mikrogliaaktivierung
und Makrophagenüberaktivierung zur Depressionsentstehung diskutiert [280]
[281]. Zur Verhinderung einer wechselseitigen Chronifizierung ist daher zu empfehlen,
frühzeitig diagnostisch und therapeutisch aktiv vorzugehen, da präventive Effekte
einer psychosomatischen oder psychiatrischen Behandlung zu erwarten sind, auch wenn
die Evidenz für dieses Vorgehen aktuell noch weitgehend fehlt.
20.1.2 Prävalenz von psychischen Symptomen und Erkrankungen bei Long-/Post-COVID
Bereits nach einer SARS-CoV-Infektionswelle in Singapur 2003 konnten erhöhte Stressindikatoren
einschließlich einer veränderten endokrinen Stressreaktion und gehäuftem Auftreten
von psychischen Erkrankungen festgestellt werden. Dabei zeigten COVID-19-Patienten,
die einer Krankenhausbehandlung bedurften, 3 Monate bis 4 Jahre nach einer SARS-CoV-2-Infektion
in 15–60 % der Fälle Hypokortisolämie, erhöhte Angst- und Depressionswerte, Symptome
einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer somatoformen Schmerzstörung
oder einer Zwangsstörung, meist gemessen mit validierten Fragenbögen bzw. PROM [282]
[283]
[284]
[285]
[286]
[287]. Zahlreiche Studien zu COVID-19, meist an Patienten nach stationärer Behandlung,
aber auch Studien an positiv-getesteten Erkrankten, bestätigen diesen Zusammenhang
auch für die Erkrankung mit SARS-CoV-2 [190]
[191], darunter eine stetig wachsende Reihe von Metaanalysen [288]
[289]
[290], z. B. eine Metaanalyse mit 44 Studien, die Angst in 17 %, Depression in 38 %, PTBS
in 41 % und Somatisierung 36 % der Fälle ermittelte [290], und eine Metaanalyse an 19 Studien mit Angstsymptomatik bei 23 % und depressiver
Symptomatik bei 12 % der Studienteilnehmer, die zeigen konnte, dass im weiteren Verlauf
6 und 12 Monate nach Erkrankung diese Werte anstiegen. Die Zahlen schwanken also zwischen
verschiedenen Auswertungen, wobei im Schnitt mit einer Psychopathologie bei jedem
dritten Patienten gerechnet werden muss. Patienten mit stationärer Behandlung versus
ambulanter zeigten in einigen Studien geringere Werte, in anderen höhere, mit insgesamt
inkonsistentem Bild [162]
[291]. Gerade bei PTBS können diese Werte jedoch poststationär über einen längeren Zeitraum
weiter steigen, insbesondere wenn Indikatoren niedriger Resilienz bestehen [292]
[293].
Im vertiefenden Detail fand sich eine auf 6 % erhöhte Inzidenz von psychosomatischen
und psychiatrischen ICD-10-Erstdiagnosen in einer retrospektiven Studie an über 44 000
Überlebenden einer SARS-CoV-2-Infektion im Zeitraum 14–90 Tage nach Infektion, darunter
Angsterkrankungen, Depression, Schlafstörungen und Demenz, während in einer Kontrollkohorte
nur 2,5–3,4 % detektiert werden konnten [294]
[295]. In einer Studie an 402 Überlebenden einer SARS-CoV-2-Infektion wurde bei 56 % wenigstens
eine psychische Erkrankung einen Monat nach Erkrankung ermittelt [296]. Der Einsatz von Instrumenten wie dem Patient Health Questionaire (PHQ), dem State and Trait Anxiety Index (STAI) oder der PTBS-Checkliste für Zivilpersonen (PCL-C) zeigte auf verschiedenen
Kontinenten (Amerika, Europa, Asien) zwischen 3 Wochen und 3 Monaten nach Erkrankung
substanzielle Prozentsätze an Überlebenden mit den folgenden Symptomen bis zu: 60 %
Fatigue [297], 40 % Schlafstörung [296], 42 % Depressionen [296]
[298], 42 % Angststörungen [296]
[298], 34 % PTBS [296]
[298]
[299]
[300]
[301], 20 % Stresssymptome [297], 20 % Zwangsstörungen [296]. Virusinfektionen werden zudem in Zusammenhang mit der Entwicklung von Psychosen
gebracht [302]. Weitere Metaanalysen bestätigen dieses Bild, wenn auch mit großer Heterogenität
[303]
[304].
Interessanterweise scheint die Zuschreibung von langfristig bestehenden Symptomen
als Folgeerscheinung eines SARS-CoV-2-Infektes auch von der Überzeugung abzuhängen,
ob eine Infektion durchgemacht wurde. So konnte eine populationsbasierte Querschnittstudie
aus Frankreich eine deutlich höhere Symptomlast 10–12 Monate nach Eingangsuntersuchung
mittels Serologie bei Menschen feststellen, die davon überzeugt waren, dass sie einen
SARS-CoV-2-Infekt durchgemacht hatten, und zwar sowohl, wenn eine positive Serologie
vorlag, als auch, wenn eine negative vorlag, ein Unterschied, der für das Symptom
Fatigue besonders ausgeprägt war [22]. In diesem Zusammenhang ist auf die Einführung des Begriffs der Somatischen Belastungsstörung
im ICD-11 (Bodily Distress Syndrome) hinzuweisen, eine Diagnose, die körperliche Symptome von Distress unabhängig von
einer messbaren somatischen Ursache als behandlungswürdig und behandelbar beschreibt.
D. h., im Sinne des biopsychosozialen Modells wird für diese Diagnose von einer Wechselbeziehung
zwischen psychischer und somatischer Belastung ausgegangen. Unabhängig von dem Ausschlussnachweis
somatischer Verursachung werden Symptome, die mit dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen
und Verhaltensweisen assoziiert sind, als behandlungswürdig eingestuft.
Weitere mediierende Effekte auf die Entwicklung psychischer Symptome und Erkrankungen
nach einem akuten SARS-CoV-2-Infekt werden außerdem z. B. für das Alter, das Geschlecht,
den sozioökonomischen Status und vorbestehende psychische Erkrankungen beschrieben.
So sind Kinder stark und Patienten über 65 weniger gefährdet eine psychische Erkrankung
zu entwickeln [305], wobei gerade bei Kindern unklar ist, wie groß der Einfluss von Pandemie-bedingtem
Stress hierauf ist [242]. Frauen tragen ein höheres Risiko psychisch zu erkranken [242]
[306]
[307]
[308], ebenso Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status [309]. Bei psychischen Erkrankungen prädisponiert insbesondere, wenn vor der akuten COVID-19
eine Angst- oder depressive Erkrankung diagnostiziert wurde [310]
[311]. Auf diese Patientengruppen sollte also ein besonderes Augenmerk gelegt werden.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Krankheitsverarbeitung
für die Chronifizierung und Prognose. Beim chronischen Kreuzschmerz erwiesen sich
z. B. schmerzbezogene Kognitionen wie Katastrophisieren und Angst-Vermeidungs-Überzeugungen
(Fear-Avoidance-Beliefs) sowie passives oder überaktives Schmerzverhalten (beharrliche Arbeitsamkeit (Task Persistence; suppressives Schmerzverhalten) als bedeutsame prognostische Faktoren [312]. Zur Long-/Post-COVID-Symptomatik gibt es hierzu noch keine Daten, klinische Erfahrungen
sprechen aber dafür, dass insbesondere dysfunktionalen Vermeidungs- und Durchhaltemustern
[313] eine Bedeutung zukommt.
Bei klinischem Verdacht auf psychische Symptome im Sinne einer Fatigue (siehe hierzu
Kapitel 9), Depression, Angststörung, PTBS, Zwangsstörung, Somatisierungsstörung,
Anpassungsstörung, Psychose oder Suizidalität nach COVID-19 ist ein Screening auf
das Vorliegen einer entsprechenden Diagnose mittels geeigneter Screeningfragen ([
Tab. 1
]) oder eines geeigneten validierten PROM als Screeninginstrument anzustreben (z. B.
FSS, PHQ, GAD, HADS, GAF, WHODAS 2.0, SCL90, SOMS, IES, ICDL, siehe Abkürzungsverzeichnis).
Die Datenlage zu Laboruntersuchungen, insbesondere zur Erhärtung einer stressassoziierten
Diagnose, ist weiterhin noch zu uneinheitlich für eine Empfehlung. Die Diagnostik
sollte entsprechend den Richtlinien für die jeweilige Verdachtsdiagnose erfolgen.
Tab. 1
Screeningfragen zu psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen. Auswahl Kernscreeningfragen
in Anlehnung an Leitlinienempfehlungen, operationalisierte psychodynamische Diagnostik
[3]
[314] und Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (SKID) [315].
|
Frage
|
Verdachtsdiagnose
|
-
Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder
hoffnungslos?
-
Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst
gerne tun?
|
Depression
|
-
Haben Sie schon einmal einen Angstanfall gehabt, bei dem Sie plötzlich von Angst,
Beklommenheit und Unruhe überfallen wurden?
-
Haben Sie manchmal unbegründet Angst z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf öffentlichen
Plätzen, vor besonderen Situationen, Gegenständen oder Tieren?
-
Haben Sie sich im letzten Monat oder länger ängstlich, angespannt oder voller ängstlicher
Besorgnis gefühlt?
|
Angststörung
|
|
|
PTBS
|
-
Leiden Sie unter Angst, wenn sie bestimmte Dinge nicht tun können, wie z. B. die Hände
waschen, und müssen Sie diese Handlungen extrem häufig durchführen?
-
Haben Sie jemals unter Gedanken gelitten, die unsinnig waren und immer wieder kamen,
auch wenn Sie es gar nicht wollten?
|
Zwangsstörung
|
-
Leiden Sie unter häufigen und wechselnden Beschwerden (z. B. Kopf-, Brust-, Gelenk-,
Muskel- oder Bauchschmerzen, Darmbeschwerden, Hautjucken, Herzrasen oder Luftnot),
für die die Ärzte keine hinreichend erklärende Ursache finden?
|
Somatisierungsstörung
|
|
|
Anpassungsstörung
|
20.2 Behandlungsoptionen
Psychische Symptome und Erkrankungen sowie Hinweise auf dysfunktionales Coping sind
in der Planung und Durchführung einer Behandlung und Rehabilitation von Long-/Post-COVID
zu berücksichtigen, inklusive der Behandlung von Fatigue und Stresssymptomen. Die
häufig berichteten Bedürfnisse nach Ruhe und Stressreduktion sowie Symptome von Reizüberflutung
und Überforderung sollten thematisiert werden, auch im Hinblick auf etwaige vorbestehende
Belastungen und langfristig bestehende Strategien des Umgangs mit Stress, und es ist
ausreichend Zeit zur Regeneration zu gewähren. Es ist wichtig, eine Stigmatisierung
der Patienten zu vermeiden und die Beschreibung von Symptomen zunächst offen und unvoreingenommen
entgegen zu nehmen. Psychotherapeutische Behandlung ist angezeigt, wenn eine klinisch
relevante Diagnose gesichert ist, Einschränkungen bestehen, die die Möglichkeiten
der Alltagsbewältigung deutlich einschränken (z. B. die Fähigkeit, die Tagesstruktur
aufrechtzuerhalten) oder die subjektive Belastung so groß ist, dass die Lebensqualität
und Alltagsbelastbarkeit deutlich eingeschränkt sind. Auch die Veränderung einer dysfunktionale
Krankheitsverarbeitung (z. B. Avoidance/Endurance-Muster) oder fehlende Krankheitsakzeptanz können eine Indikation zur Psychotherapie darstellen.
Hier stehen Methoden wie z. B. die Akzeptanz-Committment-Therapie (ACT) [316] zur Verfügung. Im stationären Setting hat sich eine gute Kommunikation von Psycho-
und Sport-/Bewegungstherapie im therapeutischen Team bewährt, um dysfunktionales Vermeidungs-
oder Selbstüberforderungsverhalten frühzeitig erkennen und thematisieren zu können.
Für den Einsatz von Sport-/Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen liegt mittlerweile
gute Evidenz vor. Dies gilt für Angststörungen (z. B. Panikstörungen), Depressionen,
Schlafstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen (u. a. [317]
[318]
[319]). Ausdauerorientierte körperliche Aktivität hat hier eine hohe Relevanz, und in
der jüngeren Vergangenheit konnten in Metaanalysen vermehrt Effekte für das Krafttraining
gezeigt werden [320].
Im ambulanten Bereich stehen alle fachpsychotherapeutischen Angebote unspezifisch
zur Verfügung. In diesem Bereich laufen aktuell Studien zur Effizienz von spezifischen
psychotherapeutischen Konzepten bei Patienten mit Psychopathologie nach COVID-19 [321], z. B. Verhaltenstherapie [322], spezialisierte Post-COVID mit Gruppentherapieangeboten und psychoedukativen Programmen
sowie digitalen Angeboten (z. B. www.cope.corona.de), wobei Psychotherapiestudien bislang deutlich unterrepräsentiert sind [323]. Bei Persistenz oder Exazerbation der Symptomatik im ambulanten Setting ist die
stationäre Akut-Behandlung bzw. Rehabilitation angezeigt. Zentral ist die multimodale
Behandlung der Patienten [279]
[324]. Dies schließt auch die Einbindung von Bewegungsangebotenangeboten [325], Selbsthilfe-Gruppen (z. B. Long-COVID Deutschland), Telefonhotlines und von sozialen
Interventionen ein. Bei schweren Formen von Depressionen und Angststörungen sollte
auch leitliniengerecht eine psychopharmakologische Mitbehandlung erwogen werden.
Psychische Beeinträchtigungen sollten erfasst, ernst genommen und diagnostisch abgeklärt
werden. Bei Verdacht auf Einschränkungen der psychischen Gesundheit (anhaltende Erschöpfung,
anhaltende Niedergeschlagenheit, unbegründete Ängste, Einschränkung der Lebensqualität
usw.) sollten eine entsprechende Diagnostik und Therapie eingeleitet werden, um frühzeitig
eine adäquate Behandlung in die Wege leiten zu können und Chronifizierung zu verhindern.
20.3 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
Angebote im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung. Eingangs offene Fragen stellen:
nach allgemeinem und seelischem Befinden, nach einem verständigen und unterstützenden
Umfeld, nach logistischen und finanziellen Sorgen. Patient*innen mit Ergebnis-offener
und Wertungs-freier Haltung ihre Situation in eigenen Worten darstellen lassen. Bei
spezifischen Sorgen und Themen: Aufklärung über Stand des Wissens zu Häufigkeiten
der Entwicklung entsprechender psychischer Störungen nach einer durchgemachten COVID-19
(s. o.), gemeinsame Erarbeitung positiver Entwicklungsschritte und Einflussfaktoren
im Sinne einer Ressourcen-aktivierenden Gesprächsführung. Eine antidepressive Medikation
kann entsprechend der AWMF-Leitlinie Depression bei leichter bis mittelgradig depressiver
Symptomatik, wie sie meist im allgemeinärztlichen Kontext gesehen wird, nicht empfohlen werden
Im Verdachtsfall die oben gelisteten Screeningfragen ([Tab. 1]) stellen, bei Bejahung einer Frage entsprechende Verdachtsdiagnose benennen und
wenn möglich zunächst im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung Gespräch anbieten.
Gegebenenfalls oben genannte Screening Fragebögen ausfüllen lassen. Zur weiterführenden
Diagnostik und Einleitung einer geeigneten Therapie fachspezifische Überweisung in
die Psychosomatik oder Psychiatrie anbieten.
Spezialisierte Psychosomatik- oder Psychiatrie-Sprechstunden werden z. B. im Rahmen
von Institutsambulanzen (PsIA und PIA) an den meisten Universitäts- und größeren Regionalkrankenhäusern
angeboten bzw. über Long-/Post-COVID-Sprechstunden vermittelt. Die ärztliche (Facharzt*in
für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt*In für Psychiatrie und Psychotherapie)
und psychologische Psychotherapeut*innensuche kann über die Suchseiten der Kassenärztlichen
Vereinigungen oder deren Terminvermittlungsstellen erfolgen. Auch Krankenkassen bieten
hier teilweise Hilfe an.
20.4 Offene psychosomatische und psychiatrische Fragen
-
Gibt es einen (Endo-)Phänotyp für psychiatrische und psychosomatische Symptome?
-
Welche Wechselbeziehung besteht zwischen psychischen Symptomen und Entzündungsgeschehen
(z. B. Krankheitsverhalten auslösende Zytokine)?
-
Kann die Entwicklung bzw. Verstärkung von psychischen Erkrankungen im Rahmen einer
SARS-CoV-2-Infektion durch präventive Maßnahmen begrenzt bzw. verhindert werden?
-
Inwieweit kann eine psychotherapeutische oder psychopharmakologische Mitbehandlung
auch somatische Beschwerden bei Long-/Post-COVID reduzieren?
-
Welchen Einfluss (und damit auch Verantwortung) hat die öffentliche Berichterstattung
über das Ausmaß, in dem Angst und Depression im Rahmen einer Pandemie auftreten?
-
Welche Rolle spielen dysfunktionale Schon- bzw. Durchhaltemuster im Sinne des Avoidance/Endurance-Konzepts bei der Chronifizierung der Post-COVID-Symptomatik?
21 Rehabilitation
21.1 Einleitung
Eine kausale Therapie des Long-/Post-COVID-Syndroms steht aktuell nicht zur Verfügung.
In mehreren Studien konnte jedoch gezeigt werden, dass v. a. die pneumologische und
die neurologische Rehabilitation zu einer deutlichen Verbesserung des Funktionsniveaus
und der Lebensqualität bei Patienten mit entsprechenden somatischen Beeinträchtigungen
nach schwerer COVID-19 führt [326]
[327]
[328]
[329]. Die medizinischen Rehabilitation COVID-19-Betroffener hat bereits wesentlichen
Anteil an der medizinischen Rehabilitationsversorgung, wie u. a. eine Erhebung der
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. dokumentiert [330]. Die Erhebung zeigt, dass der Versorgungsbereich der medizinischen Rehabilitation
überwiegend auf die Versorgung von Betroffenen mit Long-/Post-COVID vorbereitet ist.
In der Stichprobe gaben 173 von 338 teilnehmenden Einrichtungen (51 %) an, Rehabilitationsmaßnahmen
für Patient*innen mit einer Post-COVID-(Zusatz-)Diagnose (U09.9!) anzubieten. Rehabilitationsangebote
für Betroffene mit Long-/Post-COVID waren im ganzen Bundesgebiet vorhanden. Am höchsten
ist der Anteil von Post-COVID-(Zusatz-)Diagnosen in neurologischen Fachabteilungen.
Auch andere Einrichtungen mit einschlägigen Fachabteilungen (Pneumologie, Kardiologie,
Psychosomatik) zeigten hohe Quoten. Im Jahr 2021 gingen alleine bei der Deutschen
Rentenversicherung Bund (ohne Regionalträger) 8000 Reha-Anträge mit Bezug zu COVID-19
ein.
Somatische (z. B. Lungenfunktionsstörung oder neurologische Folgeerkrankungen) oder
psychische (z. B. posttraumatische Belastungsstörung, PTBS) Schwerpunkt-Folgen einer
SARS-CoV-2-Infektion werden am besten in der jeweiligen fachspezifischen Rehabilitation
versorgt. Beim Post-COVID-Syndrom mit seinen oft multiplen zu Einschränkungen von
Aktivität und Teilhabe führenden Symptomen kann eine solche fachspezifische Zuordnung
jedoch schwierig zu treffen sein bzw. bedarf einer interdisziplinären fachärztlichen
Einschätzung.
Fachübergreifend bedeutsam ist ein multimodales Konzept der medizinischen Rehabilitation,
in dem nach einer spezifischen „International Classification of Functioning, Disability
and Health“ (ICF)-basierten Diagnostik die für die häufigsten Symptome wirkungsvollsten
Therapie-Bausteine multiprofessionell angeboten werden:
-
Atemtherapie bei funktionaler Dyspnoe und chronischem Husten
-
Physio- und Sport-/Bewegungstherapie und individuell angepasstes aerobes Training
(auch mit dem Schwerpunkt einer Fatigue-Behandlung); vor dem Hintergrund von Patientenpräferenzen
und möglicherweise ebenfalls vorliegender Implikationen (z. B. Muskelschwäche) individuell
angepasstes Krafttraining
-
neuropsychologische Diagnostik und kognitives Training bei entsprechenden Beeinträchtigungen
-
fallbezogen weitere Therapien wie z. B. Ergotherapie und Logopädie
-
spezifische Psychoedukation zum Post-COVID-Syndrom
-
Psychotherapie zur Optimierung der Coping-Strategien, zur Therapie der häufig vorliegenden
psychischen Komorbidität und ggf. zur Schmerzbewältigung
Zur Rehabilitation nach COVID-19 nimmt eine weitere Leitlinie ausführlich Stellung
[331]. In dieser Leitlinie sollen wesentliche Aspekte auch daraus dargestellt werden.
21.2 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen zur Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen
Rehabilitative Behandlung umfasst ein weites Spektrum von Therapieoptionen und Angeboten
für COVID-19- und Long-/Post-COVID-Betroffene. Sie beinhaltet auch ambulante Heilmittel
und besteht bei initial schwerem Verlauf von der sehr frühen Rehabilitation noch auf
einer Intensivstation, über die Frührehabilitation im Akutkrankenhaus, die Anschlussrehabilitation
bzw. die rehabilitativen Heilverfahren in speziellen Rehabilitationseinrichtungen
bis hin zur Rehabilitationsnachsorge und Langzeitrehabilitation [332].
Im (teil-)stationären Bereich sind v. a. 2 Arten der Rehabilitation relevant:
Die Anschlussheilbehandlung (AHB) erfolgt direkt im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung bei schwerem Infektionsverlauf
in einer Rehaklinik mit AHB-Zulassung in der entsprechenden Indikation (hier v. a.
Pneumologie und Neurologie, z. T. Kardiologie). Es gibt einen Indikationskatalog mit
Krankheitsbildern, nach denen eine AHB erfolgen kann. Eine Einzelfallprüfung erfolgt
nicht. Die AHB wird i. d. R. vom Sozialdienst des vorbehandelnden Krankenhauses organisiert.
Sie kann als Direktverlegung erfolgen, eine zwischenzeitliche Entlassung in die Häuslichkeit
von maximal 2 Wochen ist möglich. Das AHB-Verfahren gibt es nur in den somatischen
Indikationen.
Ein Heilverfahren (HV) ist hingegen ohne vorhergehenden Krankenhausaufenthalt möglich. Das HV wird von den
Versicherten beim zuständigen Kostenträger beantragt. Die handelnden Ärzt*innen oder
psychologische Psychotherapeut*innen unterstützten dies durch die Erstellung eines
Befundberichts und geben oft die Anregung hierzu. Ein HV kann aber z. B. auch von
der GKV oder der Arbeitsagentur angeregt werden, z. B. bei langen Arbeitsunfähigkeits
(AU)-Zeiten. Auf Grundlage des Befundberichtes entscheiden die Kostenträger über den
Antrag und die geeignete Fachdisziplin. Bei der Auswahl der Kliniken haben die Versicherten
ein Wunsch- und Wahlrecht, das zu berücksichtigen ist. Ein HV ist sowohl in den somatischen
Indikationen als auch in der Psychosomatik möglich.
Grundsätzlich gelten folgende Zuständigkeiten:
-
Rentenversicherung: bei Menschen im Erwerbsleben, deren Erwerbsfähigkeit gefährdet ist (ein aktives Beschäftigungsverhältnis
ist nicht erforderlich).
-
Krankenversicherung: bei Menschen nach dem erwerbsfähigen Alter (insbesondere Altersrentner) sowie bei
Müttern und Vätern, sofern der mütter- bzw. väterspezifische Kontext im Vordergrund
steht.
-
Gesetzliche Unfallversicherung/Berufsgenossenschaften: bei Erkrankung infolge (eines Arbeitsunfalls oder) einer Berufskrankheit.
-
Ggf. besteht auch eine subsidiäre Zuständigkeit der Träger der Sozialhilfe und bzw.
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
-
Bei privaten Versicherungen (PKV) bestehen je nach individuellem Vertrag unterschiedliche
Regelungen, nicht immer ist die Rehabilitation mitversichert.
Auch die Rehabilitationsträger können Betroffene beraten und unterstützen. Im Ansprechstellenverzeichnis
der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR) finden sich Kontaktdaten,
die die einzelnen Rehabilitationsträger und Integrationsämter für alle Sozialleistungsträger
in Deutschland zur Verfügung stellen (www.ansprechstellen.de). Von den Ansprechstellen erhalten Betroffene Auskünfte oder Informationsangebote
z. B. über Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe, die Schritte zur Inanspruchnahme
der Leistungen, das persönliche Budget sowie weitere Beratungsangebote, einschließlich
des Angebots der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB).
Bei erst später im Verlauf festgestellten Long-/Post-COVID-Symptomen sollen nach der
ärztlich diagnostischen Abklärung primär ambulante Heilmittel verordnet werden, um
die eingeschränkten Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe wiederherzustellen
(ICF-Orientierung). Reichen diese nicht aus, bedarf es der multimodalen (teil-)stationären
Rehabilitation [332]
[333] im Sinne eines Heilverfahrens.
Zur Behandlung von Long-/Post-COVID-bedingten Einschränkungen sollen nach der ärztlich
diagnostischen Abklärung primär Heilmittel verordnet werden, um im Rahmen der ambulanten
Versorgung die eingeschränkten Körperfunktionen wiederherzustellen und Aktivitätslimitierungen
und resultierender Partizipationsrestriktion entgegen zu wirken. Hierzu bieten sich
Heilmittelverordnungen und/oder eine ambulante medizinische Rehabilitation gemäß BAR
an. Ebenso kann ambulante Psychotherapie angeregt werden.
Eine teilstationäre (ganztägig ambulante) oder stationäre medizinische Rehabilitation
sollte immer dann verordnet werden, wenn nach SARS-CoV-2-Infektion krankheitsbedingt
nicht nur vorübergehende Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
oder an der Arbeitswelt bestehen oder drohen, die der multimodalen ärztlichen und
therapeutischen Behandlung bedürfen, wenn also ambulante Heilmittel für die Behandlung
nicht ausreichen und eine intensivierte/rehabilitationsspezifische Behandlung erfolgversprechend
erscheint.
Eine (teil-)stationäre Rehabilitation ist immer eine Phase der (intensiveren) rehabilitativen
Behandlung, die häufig der ambulanten Fortsetzung bedarf. Bei Personen mit Long-/Post-COVID
ist zumindest mittelfristig der rehabilitative Bedarf inkl. Maßnahmen zur Förderung
der Teilhabe am sozialen und Arbeitsleben über eine längere Zeit regelmäßig zu evaluieren,
darauf macht die diesbezügliche Leitlinie aufmerksam [332]
[333]. Dazu gehört auch die sogenannte stufenweise Wiedereingliederung nach Krankheit
(auch „Hamburger Modell“). An eine Wiedereingliederung wird dann gedacht, wenn arbeitsunfähige
Mitarbeiter*innen ihre bisherige Tätigkeit nach ärztlicher Feststellung teilweise
wieder ausüben können. Diese eingeschränkte Arbeitsfähigkeit soll genutzt werden,
um stufenweise Belastbarkeit zu steigern und wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern.
Etabliert sind weitere Angebote der Reha-Nachsorge, z. B. Rehasport/Funktionstraining
oder eine psychotherapeutisch geleitete Nachsorge-Gruppe (PSY-RENA; [334]). Auch webbasierte Nachsorgeangebote wie z. B. DE-RENA stehen inzwischen zur Verfügung
und sind gerade in ländlichen Regionen, wo andere Angebote kaum verfügbar sind, hilfreich.
DE-RENA besteht aus einer App für Patienten und Coaching-Plattform für Coaches und
Therapeuten (https://de-rena.de/).
Nach Entlassung der Patienten aus der Frührehabilitation/Rehabilitation sollte symptomorientiert
ambulant die funktionsorientierte Therapie fortgesetzt werden.
Kontrollen des Rehabilitationsfortschrittes sowie eines Rehabilitations-, Therapie-
oder psychosozialen Unterstützungsbedarfs sollten zunächst im ersten Jahr nach der
Akuterkrankung mindestens einmal im Quartal erfolgen.
Persistierende Krankheitsfolgen mit Gefährdung der Erwerbsfähig- oder Selbstversorgungsfähigkeit
bzw. Einschränkungen der Teilhabe sind entscheidende Kriterien für einen Rehabilitationsbedarf,
sodass die Kostenträger Reha-Maßnahmen bewilligen können, wenngleich „Long-/Post-COVID“
in den offiziellen Indikationskatalogen für die medizinische Rehabilitation nicht
explizit aufgeführt ist. Eine Long-/Post-COVID-Rehabilitation ist inzwischen häufig
umgesetzte klinische Praxis, wenn sie medizinisch indiziert ist.
Folgende Sachverhalte sind bei Indikationsstellung einer medizinischen Rehabilitation
zur Behandlung von COVID-19-Folgeerkrankungen zu dokumentieren:
-
Rehabilitationsbegründende und weitere Diagnosen: Hier geben Ärzte alle relevanten Diagnosen verschlüsselt nach ICD-10-GM an. Sinnvoll
ist es hier neben den COVID-19-Folgen (U09.9! Post-COVID-19-Zustand) und ggf. weiteren
spezifischen Organdiagnosen ICD-basiert bereits die Krankheitsfolgen (Schädigungen/Impairment) aufzuführen, die den Rehabilitationsbedarf mitbegründen. Dies erleichtert die Auswahl
einer passenden Rehabilitationseinrichtung. Beispiele sind
-
G93.3 Chronisches Müdigkeitssyndrom (Chronisches Fatigue Syndrom),
-
R06.0 Dyspnoe
-
F06.7 Kognitive Störung
-
R47.0 Dysphasie und Aphasie
-
R47.1 Dysarthrie
-
R13.- Dysphagie
-
F32 Depressive Störung,
-
F40, F41 Angststörungen,
-
F43 Posttraumatische Belastungsstörung und Anpassungsstörung
-
F54 Psychische Faktoren bei der Bewältigung einer körperlichen Erkrankung (z. B. Coping-Probleme,
dysfunktionales Krankheitsverhalten)
-
R43.- Störungen des Geruchs- und Geschmackssinnes
-
R51 Kopfschmerz
-
G62.80 Critical-illness-Polyneuropathie
-
R26.- Störungen des Ganges und der Mobilität
-
R42 Schwindel
-
R00.2 Palpitationen
-
U50.- Motorische Funktionseinschränkung
-
U51.- Kognitive Funktionseinschränkung
Beantragt wird die Rehabilitation vom Versicherten, ärztliche Aufgabe ist es, einen
aussagekräftigen Befundbericht auszufüllen. Hierbei sollte auf folgende Punkte eingegangen
werden:
-
Rehabilitationsbedürftigkeit und Verlauf der Krankenbehandlung: Hier schildern Ärzt*innen kurz die Krankengeschichte und listen Schädigungen (Körperfunktionsstörungen)
und Befunde auf, die für die Rehabilitation relevant sind. Rehabilitationsbegründende
Körperfunktionsstörungen, die bei Long-/Post-COVID häufiger festgestellt werden, sind:
Minderbelastbarkeit/Fatigue, Belastungsdyspnoe, Husten, thorakales Druck-/Engegefühl,
Lähmungen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Schwindel, Sensibilitätsstörungen, kognitive
Störungen (in den Bereichen Aufmerksamkeit/konzentrative Belastbarkeit, Gedächtnis/Wortfindung,
planerisches Denken), Kopfschmerzen, Depressivität, Angstsymptome. Zudem können negativ
und/oder positiv wirkende Faktoren notiert werden (z. B. in einer Familie lebend oder
soziale Isolation). Auch Risikofaktoren und Gefährdungen können angegeben werden (z. B.
Übergewicht).
-
Rehabilitationsfähigkeit: Hier geben Ärzt*innen an, ob ihre Patient*innen in der Verfassung sind, eine Reha
zu absolvieren (z. B. Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit liegt nicht vor; Patient*in
ist bei den basalen Verrichtungen des täglichen Lebens selbständig).
-
Rehabilitationsziele: Hier ist anzugeben, welche Ziele mit der Rehabilitationsleistung erreicht werden
sollen (z. B. Verbesserung der körperlichen und psychophysischen Belastbarkeit, Verbesserung
kognitiver Leistungen, psychische Stabilisierung).
-
Rehabilitationsprognose: Hier geben Ärzt*innen an, ob die formulierten Ziele durch die empfohlene Leistung
und im vorgesehenen Zeitraum voll oder gegebenenfalls nur eingeschränkt erreicht werden
können.
-
Zuweisungsempfehlungen: Hier geht es bspw. darum, ob und welche Anforderungen die Rehabilitationseinrichtung
erfüllen soll (z. B. Indikation Pneumologie [Dyspnoe, körperliche Minderbelastbarkeit],
Neurologie [kognitive Störungen, Dysphagie, Dysarthrie, Aphasie, Lähmungen, Koordinationsstörungen],
Psychosomatik [Fatigue, psychische Komorbidität, problematische Krankheitsverarbeitung],
Kardiologie [Herzmuskelaffektion], Rheumatologie [muskuloskelettale Affektion, Autoimmunprozesse].
Auch wenn die Kombination verschiedener Indikationen im Sinne einer „dualen Reha“
sinnvoll ist, kann dies im Feld „Bemerkungen“ des Reha-Befundberichtes angegeben werden.
Wenn eine bestimmte Rehabilitationseinrichtung gewünscht wird, sollte der Versicherte
dies in seinem Antrag mit ausdrücklichem Verweis auf das Wunsch- und Wahlrecht schriftlich
kundtun.
-
Sonstige Angaben: Hier geht es um Angaben bspw. zur Reisefähigkeit oder zum Bestehen einer Schwangerschaft.
Für Patient*innen mit Post-COVID-ME/CFS sind besonders flexible, der individuellen
Belastbarkeit angepasste Konzepte erforderlich. Zudem müssen altersadaptierte Programme
(z. B. für Kinder und Jugendliche sowie ggf. ihre Familien) gewählt werden.
Der Befundbericht für die Deutsche Rentenversicherung kann unter https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Formulare/DE/_pdf/S0051.html heruntergeladen und elektronisch ausgefüllt werden. Er wird derzeit mit 35 € vergütet.
21.3 Indikationsspezifische Aspekte der medizinischen Rehabilitation
Im Weiteren werden indikationsspezifische Aspekte der medizinischen Rehabilitation
für von Long-/Post-COVID-Betroffenen thematisiert. Sind z. B. die pulmonalen, neurologischen
oder kardiologischen Schädigungen (Impairment) für die Rehabilitationsbedürftigkeit führend, soll entsprechend eine indikationsspezifische
pneumologische, neurologische oder kardiologische Rehabilitation erfolgen [332]. Je nach individueller Symptomatik sind dabei begleitend oder grundständig psychosomatische,
psychiatrische und/oder psychologisch-psychotherapeutische Behandlungsangebote indiziert,
wobei auch die physische Stabilisierung im Rahmen der medizinischen Rehabilitation
wesentlich zur Reduktion der emotionalen Belastung beitragen kann [335]. Eine individuelle Betrachtung mit Fokus auf die Belastbarkeit ist auch für das
multidimensionale ME/CFS (G93.3) erforderlich.
21.4 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen zur indikationsspezifischen Rehabilitation
Über längere Zeit persistierende Krankheitsfolgen im Sinne eines Long-/Post-COVID
mit der Symptomkonstellation Dyspnoe und körperlicher Minderbelastbarkeit/Fatigue
können sowohl bei Patienten nach einem kritischen, aber auch nach einem milden Akutverlauf
bestehen.
Aktuell liegen erste Studien vor, welche die Machbarkeit, Sicherheit und Effektivität
einer (Früh-)Rehabilitation bei COVID-19-Patienten nach einem schweren Akutverlauf
mit Krankenhauseinweisung zeigen [326]
[329]
[335]. Pneumologische Rehabilitation konnte dazu beitragen, die körperliche Funktionsfähigkeit
sowie lungenfunktionelle Einschränkungen zu verbessern.
In kürzlich veröffentlichten deutschen Studien wurden die Effekte nicht nur von Patienten
mit schwerer COVID-19, sondern auch nach ambulant behandelter COVID-19 untersucht
[329]
[336]. Trotz eines milden bis moderaten Krankheitsverlaufs wiesen diese Patienten persistierende
Krankheitsfolgen (wie z. B. vermehrte Dyspnoe und Fatigue) auch noch Monate nach ihrer
SARS-CoV-2-Infektion auf und wurden in eine pneumologische Rehabilitation überwiesen.
Nach einer i. d. R. 3-wöchigen Rehabilitationsmaßnahme verbesserten sich sowohl körperliche
Leistungsfähigkeit klinisch relevant (6-Minuten-Gehtest: mittelschwer Betroffene + 48 m
[95 %-Konfidenzintervall, KI 35–113 m], schwer Betroffene + 124 m [75]
[76]
[77]
[78]
[79]
[80]
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[139]
[140]
[141]
[142]
[143]
[144]
[145], [329]) sowie auch psychische Parameter bezogen auf Angst, Traumatisierung und Depression
[336].
Besteht nach COVID-19 eine alltags- und/oder berufsrelevante Beeinträchtigung durch
Dyspnoe/und körperliche Minderbelastbarkeit/Fatigue, soll sowohl bei Krankenhausentlassung
als auch bei Long-/Post-COVID zu einem späteren Zeitpunkt bei Nichtausreichen ambulanter
Heilmittel die Verordnung einer (teil-)stationären pneumologischen Rehabilitation
erfolgen.
Zu unterscheiden sind 2 Subgruppen von Long-/Post-COVID-Patient*innen, die wegen alltags-
und/oder berufsrelevanten Körperfunktionsstörungen der neurologischen rehabilitativen
Behandlung bedürfen:
Gruppe A. Patient*innen mit neurologischen Körperfunktionsstörungen, die – häufiger nach schweren
bis kritischen Verläufen – seit der Akutphase bestehen und
Gruppe B. Patient*innen, die nach primär milden und moderaten Verläufen ggf. auch erst zu einem
späteren Zeitpunkt unter neurologischen Körperfunktionsstörungen leiden, die die Teilhabe
am gesellschaftlichen und Arbeitsleben relevant einschränken.
Gruppe A
Das „Post-Intensive-Care“-Syndrom (PICS) stellt eine häufige und ernste Komplikation
einer intensivmedizinischen Behandlung dar und kann später zu deutlichen Einbußen
in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und Teilhabe führen [337]
[338]. Das Syndrom zeichnet sich durch Lähmungen, kognitive und emotionale Störungen aus.
Diese Komponenten können entweder einzeln oder kombiniert auftreten. Periphere Lähmungen
beim PICS sind meist durch eine motorisch und axonal betonte CIP und eine CIM bedingt,
die häufig als Mischbild vorliegen [339]. Kognitive Störungen beim PICS und so auch für COVID-19-Betroffene gezeigt [168] betreffen gehäuft Aufmerksamkeits- und Gedächtnis- sowie Exekutivfunktionen, emotionale
Störungen sowohl Angststörungen als auch depressive Störungen. Bei schweren und kritischen
Verläufen einer SARS-CoV-2-Infektion bestehen individuell unterschiedliche Kombinationen
aus Lähmungen, kognitiven und emotionalen Störungen teilweise über lange Zeit fort
und bedürfen der medizinischen (Früh-)Rehabilitation, sowohl per- als auch postakut
[340]
[341], als auch ggf. (erneut) im weiteren Verlauf. Auch 1 Jahr nach einer intensivpflichtigen
COVID-19 beklagten ca. ¾ der Überlebenden noch physische Einschränkungen, ein Viertel
emotionale Belastungen und ein Sechstel kognitive Leistungsminderungen [342].
Zudem können in Zusammenhang mit COVID-19 verschiedene weitere spezifische Erkrankungen
wie Schlaganfälle, Enzephalomyelitiden, ein GBS, ein Miller-Fisher-Syndrom, Hirnnervenneuritiden,
Polyneuritiden, Myositiden, eine Myasthenia gravis und Plexopathien auftreten (siehe
neurologischer Abschnitt der Leitlinie), die alle mit spezifischem Rehabilitationsbedarf
einhergehen (können).
Gruppe B
In prospektiven Beobachtungsstudien fanden sich 3 bzw. 6 Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion
gehäuft – auch bei primär nicht schwerer Infektion – als neurologische Funktionsstörungen
neben einer Hyposmie oder Anosmie eine geminderte psychophysische Belastbarkeit, periphere
Lähmungen (CIP/CIM), sprachliche bzw. kognitive Defizite und/oder Kopfschmerzen bzw.
Muskelschmerzen [343]
[344]
[345] bzw. auch polyneuropathisch bedingte neuropathische Beschwerden [166]. Auch in einem Post-COVID-Rehabilitationskollektiv wurden häufig neurologische Beeinträchtigungen,
u. a. Koordinationsstörungen, Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen, Vergesslichkeit
berichtet [336]. Im Verlauf der ersten Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion kommt es teilweise
zu einer funktionellen Erholung (z. B. auch kognitiver Leistungen [346]). Nicht selten schränken die neurologischen Symptome die Teilhabe am gesellschaftlichen
und Arbeitsleben relevant und über längere Zeit ein.
Alle (Post-)COVID-19-Betroffenen mit sensorischen, sensomotorischen Störungen, Schluck-,
Sprech- oder Sprachstörungen und/oder kognitiven Veränderungen sollen einer neurologischen
Evaluation und neurorehabilitativen Versorgung zugeführt werden.
Besteht nach COVID-19 eine alltags- und/oder berufsrelevante Beeinträchtigung durch
sensomotorische Störungen, Schluck-, Sprech- oder Sprachstörungen und/oder kognitive
Funktionsstörungen, soll sowohl bei Krankenhausentlassung als auch bei Long-/Post-COVID
zu einem späteren Zeitpunkt bei Nichtausreichen ambulanter Heilmittel die Verordnung
einer (teil-)stationären neurologischen Rehabilitation erfolgen.
Schwerstbetroffene bedürfen zunächst der neurologischen Frührehabilitation.
Bei COVID-19 dominieren zwar respiratorische Symptome das klinische Erscheinungsbild,
aber SARS-CoV-2-Infektionen können auch mit schwerwiegenden kardiovaskulären Erkrankungen
wie einer Lungenarterienthrombose, Myokarditis oder einem akuten Koronarsyndrom (ACS)
einhergehen [347].
In diesen Fällen bedarf es in Abhängigkeit von den individuellen Befundkonstellationen
sowie der psychosozialen Situation der (teil-)stationären kardiologischen Rehabilitation.
Die Inhalte der kardiologischen Rehabilitation richten sich nach den Hauptindikationen
wie ACS, Myokarditis oder LAE [348], sollten aber durch erkrankungsspezifische Angebote wie die Erfassung einer potenziell
vorliegenden Fatigue-Symptomatik mittels Fragebogen, COVID-19-Gesprächsgruppen u. Ä.
erweitert werden. Die Unterstützung der Krankheitsverarbeitung ist ebenso wichtig
wie die Vorbereitung der beruflichen Wiedereingliederung.
Bei persistierende Krankheitsfolgen im Rahmen einer COVID-19-assoziierten schwerwiegenden
kardiovaskulären Erkrankung wie einer Lungenarterienembolie (LAE), Myokarditis oder
einem akuten Koronarsyndrom (ACS) soll die Verordnung einer kardiologischen Rehabilitation
erfolgen.
Psychosomatische Rehabilitation ist angezeigt bei
-
klinisch relevanten psychischen Störungen im Rahmen der Long-/Post-COVID-Erkrankung
wie einer Anpassungsstörung, PTBS, Depression, Angststörung oder Somatisierungsstörung
(siehe hierzu Kapitel „Psychische Aspekte“).
-
dysfunktionalem Krankheitsverhalten wie z. B. dysfunktionaler Selbstüberforderung
oder Schonverhalten bei Fatigue-Symptomatik und Unterstützungsbedarf bei der Krankheitsbewältigung
und -akzeptanz.
Wegen der häufigen Komorbidität somatischer und psychischer COVID-19-Folgen sind integrierte,
fächerübergreifende Rehabilitationskonzepte sinnvoll [324], wie sie bereits bei anderen komorbiden Störungen erfolgreich evaluiert wurden [349]. Hier bedarf es weiterer Studien zur Konzeptentwicklung und -evaluation.
Bei psychischen Krankheitsfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion sollte bei anhaltenden
oder exazerbierenden Symptomen unter ambulanter Behandlung die Indikation für eine
psychosomatische (teil-)stationäre Rehabilitation geprüft werden.
21.4.1 Wiederaufnahme von Alltagsaktivitäten/Beruf
Die Beratung hinsichtlich eines Selbstmanagements und die Planung des „Weges zurück“
in Alltag und Arbeit sowie (gesundheitsorientierte) körperliche Aktivität erstreckt
sich auf folgende zentrale Aspekte:
Festlegung realistischer Ziele
-
partizipative Entscheidungsfindung über einen gesunden Mittelweg der körperlichen
Aktivität, welcher die individuellen Belastungsgrenzen berücksichtigt.
-
strukturierte hausärztliche Betreuung und Behandlungsplanung gemeinsam mit den Patient*innen
und/oder deren Angehörigen bzw. Betreuungspersonen.
-
Körperliche Aktivität hat i. d. R. eine Vielzahl an Gesundheitseffekten für Personen
nach COVID-19, aber ein überhastetes „Zuviel wollen“ bringt keinen Benefit; das (langfristige)
Ziel sollte gesundheitsförderliche körperliche Aktivität gemäß der Nationalen Empfehlungen
für Bewegung und Bewegungsförderung bzw. der WHO sein [350]
[351].
-
Alle Patient*innen nach COVID-19 mit initial mildem und moderatem Verlauf sollten
darüber aufgeklärt sein, dass sich Symptome in den allermeisten Fällen im Verlauf
von einigen Wochen, längstens Monaten, vollständig zurückbilden und meist keine bleibenden
Schäden hinterlassen. Es ist allerdings auch nach mildem oder moderatem Verlauf möglich,
dass Symptome persistieren.
-
Einschränkungen der Leistungsfähigkeit sollten besprochen bzw. je nach Ausmaß abgeklärt
werden. Dies liegt in der Verantwortung der Primärversorgung.
-
Die Kernpunkte (nach Ausschluss relevanter struktureller Folgeschäden) sind:
-
Ist die Bewältigung der täglichen Aktivitäten und einer Gehstrecke von 500 m in der
Ebene symptomfrei möglich?
-
Gemeinsame Abschätzung der Alltagsbelastung: Ausmaß der körperlich erforderlichen
Fitness? Störungen der Kognition relevant für Freizeitbeschäftigungen/Bedienen von
Maschinen oder Transportmitteln?
Als Technik zur Wiedererlangung von Alltagsfähigkeiten ist das Pacing beschrieben:
-
Belastungsbeginn: Spazieren (individuell angepasste Steigerung von Spazierdauer und
Tempo etc.), individuell angepasste Steigerung der alltäglichen Belastung (vom Kochen
zum Einkaufen, vom Zusammenräumen zum Putzen).
-
Bei Verschlechterung der Symptome: Pause und Rückkehr zum absolvierbaren Niveau nach
Abklingen der akuten Beschwerdesymptomatik.
-
Evaluation einer (ambulanten) Rehabilitationsmöglichkeit bzw. -notwendigkeit [337]
-
Physiotherapie, Sport-/Bewegungstherapie (ambulante) Rehabilitation (z. B. [324])
-
Ergotherapie
-
Logopädie Ergo-, Psychotherapie
-
Logopädie [352]
-
Psychotherapie.
Die 3-P-Regel kann hilfreich sein (Pacing, Planen, Priorisieren) ([Abb. 10]).
Abb. 10 Anpassungen im Alltag nach dem 3-P-Prinzip [404]. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Belastungsgrenzen und Berufseignung bei anhaltenden starken Einschränkungen sollten
während einer Rehabilitation erhoben werden und je nach Situation vor Arbeitsantritt
mit den zuständigen Präventivkräften im Betrieb (Sicherheitsfachkraft, Betriebsärzt*in)
und den zuständigen Institutionen (Arbeitsinspektion) besprochen werden.
In vielen Fällen können (vorübergehende) Anpassung von Arbeitsplatz und Arbeitsbedingungen
den Wiedereintritt ins Berufsleben erleichtern bzw. vorverlegen. Auch hier sind die
Präventivkräfte gefragt, idealerweise in Kooperation mit den Primärversorgern.
Eine Krankschreibung erfolgt nach den bekannten Grundsätzen, das Kriterium ist die
tatsächliche, anforderungsbezogene Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Die Diagnose
sollte sich auf das jeweilige dominierende Symptom beziehen, da Long-/Post-COVID derzeit
noch als Komplex äußerst unterschiedlicher Symptome zu sehen und als klare Diagnose
nicht ausreichend definiert ist.
Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollte die Beschulung bzw. Ausbildung
an Symptomspektrum und Belastbarkeit individuell angepasst bzw. durch Nachteilsausgleich
und Sonderregeln optimal unterstützt werden.
Anmerkung: Eine Schwierigkeit, die sich aufgrund der derzeitigen Beanspruchung der Rehabilitationsstrukturen
ergibt, ist eine mögliche Überbrückung der Zeitspanne bis zum Antritt der Rehabilitation.
Eine Arbeitsaufnahme in dieser Zeit wird für körperlich arbeitende Personen meist
nicht immer problemfrei möglich sein, woraus sich Schwierigkeiten ergeben können.
Die Begutachtung durch und gemeinsame Entscheidung mit Fachärzt*innen je nach Gegebenheiten
ist dringend empfohlen. Auch die Kontaktaufnahme mit Arbeitnehmerschutzeinrichtungen
(Gewerkschaft) sollten den Betroffenen angeraten werden. Case Manager der Krankenkassen können bei der Organisation der Wiedereingliederung unterstützen,
soweit solche verfügbar sind.
Spekulative Annahmen über eine tatsächliche Arbeitsrückkehr sollten gegenüber den
Arbeitgebenden aufgrund der unklaren Krankheitsdauer bei Long-/Post-COVID vermieden
werden (daher max. „voraussichtliche Rückkehr“). Es sollte eher möglichst konstruktiv
über eine gestufte Rückkehr in den Arbeitsprozess mit dem Arbeitgebenden gesprochen
werden.
21.4.2 Wiederaufnahme des (Leistungs-)Sports
Die Wiederaufnahme des Sports wurde bei Athleten untersucht, hier gibt es Leitlinien
aus dem Jahr 2019 der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft, die nach Infektion
empfehlen. Wenn diese negativ sind, dann ist das Risiko eines kardiovaskulären Events
in der Zukunft sehr gering. In speziellen Fällen (Myokarditissymptome, Auffälligkeiten
im Echo) sollte ein MRT des Herzens angeschlossen werden (siehe Abschnitt 14.1) [353]
[354]. Von pneumologischer Seite wäre eine symptomorientierte Untersuchung (siehe Abschnitt
19.1.1) ausreichend, wobei hier die Evidenz bei Long-/Post-COVID fehlt.
22 Long-/Post-COVID und Bewegungstherapie
22 Long-/Post-COVID und Bewegungstherapie
Die Bedeutung der körperlichen Aktivität in der Prävention und Rehabilitation zahlreicher
Erkrankungen ist unbestritten. So zeigt eine aktuelle Metaanalyse einen Zusammenhang
zwischen einfachen Schrittzahlen im Alltag und einem Rückgang der all-cause mortality
[355]. Einen ausführlichen Überblick über die therapeutischen Potenziale der körperlichen
Aktivität findet sich bei [356]. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur plausibel, sondern dringend notwendig, die
Bewegungstherapie in die Behandlungsstrategien von SARS-CoV-2-Infektionen und deren
Folgen einzusetzen.
So sind seit Beginn des Jahres 2020 auch zahlreiche Forschungsergebnisse in diesem
Zusammenhang erschienen, wobei trotz der erheblichen Publikationsdynamik der Mangel
an empirischen Arbeiten beklagt wird [357]. Die Studien lassen in 3 unterschiedliche Kategorien differenzieren:
-
Zu Beginn der Pandemie wurden zunächst die Auswirkungen der Pandemie auf die reduzierte
körperliche Aktivität in der Bevölkerung gerichtet. Ein Review belegt den Rückgang
an körperlicher Aktivität bei gleichzeitiger Erhöhung der Sitzzeiten [358]. Dieser Trend bestätigt sich weltweit [359].
-
Eine Reihe von Studien fokussiert die Frage, ob und wie körperliche Aktivität geeignet
ist, präventive Wirkung zu entfalten (vgl. [360]). Mangels empirischer Daten stützen sich diese Daten lediglich auf die Translation
bekannter physiologischer Effekte der körperlichen Aktivität wie der immunmodulatorischen
Optimierung und antiinflammatorischer Effekte auf die COVID-19. Inzwischen liegt dazu
ein ausführliches Review vor [361]. Daraus entstehen auch Konsequenzen für den Einsatz der Bewegungstherapie in der
Behandlung der COVID-Erkrankungen.
-
Die hohe Prävalenz von Long-/Post-COVID stimulierte und beschleunigte die Forschungsaktivitäten,
sodass nun mehrere Studien publiziert wurden, die die Wirkung unterschiedlicher Interventionsformen
untersuchten. Aufbauend auf dem PRISMA-Schema liegt dazu ein systematisches Review
vor [325].
Seit 2 Monaten zählt das CDC körperliche Inaktivität zu den Faktoren, die das Risiko
für einen schweren Verlauf der COVID-19 erhöhen [362].
Grundlage für diese Einschätzung ist ein ausführliches Review, welches dazu insgesamt
25 Studien bewertet [363].
Schon am Beginn der Pandemie wurden „spezifische“ Trainingsempfehlungen publiziert,
die aber eher einen recht allgemeinen Charakter hatten und lediglich die Anwendung
der allgemeinen WHO-Leitlinien (150 Minuten aerobe körperliche Aktivität pro Woche)
empfahlen [364]. Inzwischen liegen differenzierte Trainingsempfehlungen für Personen nach COVID-19
vor. Daraus leiten sich die folgenden Empfehlungen ab [365]
[366]
[367]:
-
Training der großen Muskelgruppen mit 1–2 Sätzen bei ca. 10 Wiederholungen mit deutlich
spürbarer, lokaler muskulären Ermüdung in Verbindung mit
-
Ausdauertraining von 5–30 Minuten bei etwa 5–8 Metabolischen Äquivalenten (MET, vgl.
[368]) ([Abb. 11]).
-
In der Rehabilitation sollten diese Trainingsempfehlungen mit einer Dauer von 40–60
Minuten in einem Umfang von 3– 6 Trainingseinheiten pro Woche durchgeführt werden
(vgl. [365]).
Abb. 11 Heuristik zur Trainingsempfehlung (MET: metabolisches Äquivalent). Die Trainingsplanung
sollte individuell auch Pacing-Aspekte berücksichtigen. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Aufgrund der großen psychosozialen Relevanz von Long-/Post-COVID-Erkrankungen sollten
die Potenziale der körperlichen Aktivität in diesem Kontext und einer entsprechenden
therapeutischen Zielsetzung unbedingt berücksichtigt werden [369]
[370].
Im Zuge von Long-/Post-COVID kann es zu ähnlichen Symptomen wie bei ME/CFS kommen,
allerdings liegen zur Auftretenshäufigkeit bislang keine auf alle Zielgruppen übertragbaren,
belastbaren epidemiologische Daten vor. Hierunter fällt auch die PEM [343]. Die Empfehlung zum Einsatz von Graded Exercise Therapy (GET) wurde kontrovers diskutiert
[371]. Hier ist dennoch weitere Forschungsarbeit notwendig.
Die Erfahrungen zur bisherigen Rehabilitation nach COVID-19 sprechen nicht dafür,
dass eine schwerwiegende PEM ein sehr weit verbreitetes Phänomen ist. Trotzdem sollte
gezielt nach diesem Phänomen gefragt und es dokumentiert werden. Zu bedenken ist hierbei,
dass Ausdauertraining zu den Grundbausteinen einer erfolgreichen Rehabilitation gehört
und dass eine Verunsicherung der Patient*innen diesbezüglich vermieden werden sollte,
um Nebenwirkungen eines hierdurch erzeugten Bewegungs- und Trainingsmangels vorzubeugen.
Eine kurzfristige Erschöpfung nach einem Training ist als physiologisch plausibel
anzusehen und darf nicht mit PEM verwechselt werden, die für eine krankhafte Symptomverschlechterung
nach oft schon geringer Aktivität steht. Liegt bei Patienten PEM vor, so ist mit körperlicher
Aktivität individuell und mit Aktivitätssteigerung gegebenenfalls zurückhaltend umzugehen.
Hier können Strategien des Symptommanagements wie Pacing zum Einsatz kommen.
Wie im Kapitel „Psychische Aspekte“ beschrieben, sollte der Einsatz des Trainings
individuell dosiert und begleitet werden, da es sowohl Patient*innen gibt, die zur
Selbstüberforderung neigen, als auch solche, die angstbedingt vermeiden.
Aus den umfangreichen Erfahrungen in der Bewegungstherapie bei Krebserkrankungen ist
momentan der Einschätzung zuzustimmen, dass die Steigerung von körperlichen Belastungen
ein sehr individuelles Vorgehen unter professioneller sport-/bewegungstherapeutischer
Anleitung erfordert [372].
-
In der Rehabilitation bei Long-/Post-COVID ist eine biopsychosozial ausgerichtete
Bewegungstherapie angezeigt mit den Kernbestandteilen des Ausdauer- und Krafttrainings.
-
Die Bewegungstherapie sollte individuell dosiert und möglichst angeleitet durch qualifizierte
Bewegungsfachkräfte mit indikationsspezifischer therapeutischer Zusatzqualifikation
Sport-/Bewegungstherapie erfolgen.
22.1 Offene Fragen in der Bewegungstherapie
23 Begutachtung
Die Folgen von Long-/Post-COVID werfen versicherungsrechtliche Fragen auf. Zum einen
geht es bei anhaltender Einschränkung der Leistungsfähigkeit um die Frage der Erwerbsminderung.
Zum anderen spielen bei Beschäftigten im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege
die Frage der Anerkennung als Berufskrankheit (BK Nr. 3101) bzw. in anderen Branchen/Arbeitsbereichen
die Anerkennung als Arbeitsunfall einschl. der jeweiligen Krankheitsfolgen und der
Einstufung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) eine wichtige Rolle.
Hierzu sind Begutachtungen notwendig.
Diese sollten bei den Betroffenen bei entsprechenden Organmanifestationen in den jeweiligen
Fachgebieten durchgeführt werden. D.h. bei pulmonaler oder kardialer Manifestation
von Internist*innen mit entsprechender Qualifikation, bei neurologischen Manifestationen
(PNS, ZNS, Muskeln) von Neurolog*innen.
Bei den häufig komplexen Spätfolgen sollte die Begutachtung möglicherweise interdisziplinär
erfolgen. Insbesondere bei beklagten Beschwerden ohne nachweisbares organisches Korrelat
wie Fatigue und/oder ME/CFS und/oder neurokognitiven Defiziten und/oder Schmerzen
und/oder affektiven Störungen ist eine dem jeweiligen Beschwerdebild angepasste Begutachtung
auf neurologisch-neuropsychologischem, psychiatrischem bzw. psychosomatischem Gebiet
nach den Standards der Diagnostik, Funktionsbeurteilung und Beschwerdevalidierung
notwendig, wie sie in den entsprechenden AWMF-Leitlinien zur Begutachtung beschrieben
sind.
23.1 Offene Fragen in der Begutachtung
24 Schlussbemerkungen
Bei Fertigstellung der S1-Leitlinie zu Long-/Post-COVID überblicken wir den Zeitraum
von Anfang 2020 bis zum jetzigen Erscheinungszeitpunkt der Leitlinie.
Die Krankheitslast durch Post-COVID-Syndrome, ebenso wie die Kosten, die hier durch
direkte Diagnostik, aber auch Berufsunfähigkeit entstanden sind und entstehen werden,
lassen sich zum aktuellen Zeitpunkt nur annähernd bemessen. Das Problem der Arbeits-
und Ausbildungsunfähigkeit stellt eine weitere große Herausforderung dar, nicht nur
im Bereich der Gesundheitspflege und Krankenversorgung. Das in mehreren Abschnitten
genannte Fehlen von therapeutischen evidenzbasierten Ansätzen wird möglicherweise
teils durch laufende Studien beantwortet werden. Die Autoren wollen in den geplanten
Leitlinienaktualisierungen die zunehmende Evidenz einarbeiten.
25 Supplement
25.1 Primärärztliche Versorgung/Allgemeinmedizinischer Leitfaden
Empfehlungen für die Basisdiagnostik (unter Berücksichtigung bekannter Komorbiditäten)
-
Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung.
-
Labor: Diff-BB, CrP oder BSG, Kreatinin, Harnstoff, Transaminasen, TSH, Urin-Stix
(fakultativ: CK, Troponin, Ferritin, D-Dimere, NT-proBNP (siehe auch spezifische Kapitel).
-
Screeningfragen zu Fatigue, anhaltender körperlicher Erschöpfung, Belastungsintoleranz/PEM
(eines der häufigsten Symptome in den meisten Long-/Post-COVID-Studien), Schmerzen,
kognitiven Störungen, depressiven Verstimmungen und Angststörung (siehe Kapitel „Fatigue“
und „Psychische Aspekte“) [52]).
25.2 Empfehlungen zu häufigen Symptomen (Allgemeinmedizin)
25.2.1 Fatigue
Es sollte erfasst werden, ob körperliche Aktivität die Fatigue bessert oder (im Sinne
von PEM) zu einer Zunahme dieser und weiterer Beschwerden führt. Bei Besserung kann
eine gut kontrollierte, ggf. supervidierte körperliche Aktivierung basierend auf sport-/bewegungstherapeutischen
Trainings- und Belastungsprinzipien empfohlen werden. In der klinischen Untersuchung
ist besonders auf auffällige Lymphknoten, abdominellen Tastbefund und die orientierende
neurologische Untersuchung insbesondere mit Erfassung von Veränderungen in Muskelkraft,
-trophik, -tonus und Eigenreflexen sowie kognitive Leistungsminderung bzw. psychische
Symptome (Depressivität, Ängste) zu achten (siehe Abschnitt 16). Es sollte gefragt
werden, ob die Fatigue zu relevanten Einschränkungen im Alltag und Berufsleben führt
und ob weitere Symptome wie Schlafstörung, Depression, Angst, Belastungsintoleranz,
kognitive Störungen, orthostatische Intoleranz und Schmerzen vorliegen. Gegebenenfalls
sollte ein ME/CFS anhand der verfügbaren klinischen Diagnosekriterien abgeklärt werden
(siehe Kapitel „Fatigue“) und nötigenfalls eine Überweisung zum Neurologen erfolgen.
25.2.2 Dyspnoe (Ruhe-/Belastung-) Husten
Bei den/die Patient*innen stark beeinträchtigenden Symptomen (insb. Nach einem schweren
Verlauf) sollte unter Zuhilfenahme der Vorbefunde die Basisdiagnostik erweitert werden
mit Labor, Lungenfunktionsanalyse, SpO2-Messung, Bestimmung der D-Dimere, EKG, evtl. Röntgenthorax. Wenn es hier keine Warnhinweise
gibt und alles unauffällig ist, dann abwartendes Offenhalten und Wiedervorstellung.
Bei akuter Verschlechterung der Symptomatik, niedriger O2-Sättigung, pathologischem Auskultationsbefund oder Hinweisen für thromboembolische
Ereignisse oder Herzinsuffizienz sollte weiterführende Diagnostik erwogen werden.
25.2.3 Kopfschmerzen
Hohe Spontanheilungsrate nach COVID-19. Klinisch-neurologische Verlaufskontrollen.
Bei fehlenden Warnhinweisen sollte eine Re-Evaluation nach spätestens 4 Wochen vorgenommen
werden. Bei sehr starken Symptomen oder neurologischen Auffälligkeiten sollte spezialisierte
Diagnostik vorgenommen werden.
25.2.4 Riech- und Schmeckstörungen
Geruchs- und Geschmacksstörungen sind häufige Phänomene bei COVID-19. So leiden mehr
als 40 % aller Erkrankten an Geruchs- oder Geschmacksveränderungen oder -verlust.
Die mittlere Dauer dieser Störung in Post-COVID-Einrichtungen beträgt 2,5 Monate [372]. Nach 6 Monaten haben sich etwa 90 % der Patienten mit Riechstörungen weitgehend
verbessert [373]. Sollten die Symptome länger als 4 Wochen andauern und sich zusätzlich noch neurologische
oder andere spezifische Begleitsymptome einstellen, ist eine spezialisierte Diagnostik
in Erwägung zu ziehen.
25.2.5 Schlafstörungen
Empfehlenswert ist ein Schlaftagebuch [52] zur Erfassung der spezifischen Problematik. Es sollten die Regeln der Schlafhygiene
und Stimuluskontrolle mit den Betroffenen besprochen werden (siehe Anwenderversion
für den hausärztlichen Bereich der Leitlinie „Insomnie“ [374]).
25.2.6 Allgemeine Schmerzen
Schmerzen (insbesondere im Thoraxbereich aber auch allgemein Muskelschmerzen) sind
ein häufiges Syndrom nach COVID-19. Die meisten dieser Symptome verringern sich innerhalb
von 2–6 Monaten. Eine primärärztliche multimodale und symptomorientierte Diagnostik
unter Berücksichtigung abwendbar gefährlicher Verläufe sollte erfolgen. Bei der medikamentösen
Therapie sollte darauf geachtet werden, das WHO-Stufenschema einzuhalten, wobei die
Leitlinie zu Opioiden bei nicht-tumorbedingten Schmerzen beachtet [375] und potenziell abhängig machende Substanzen vermieden werden sollten. Neben der
medikamentösen Therapie sollte aber auch die physikalische Medizin und die psychosomatische
Behandlung der Schmerzen im Vordergrund stehen [58].
25.2.7 Psychische Beschwerden
Die Abgrenzung von psychischen und somatischen Beschwerden bei Post-COVID kann diagnostisch
und therapeutisch herausfordern, da zahlreiche Symptome nicht eindeutig und mitunter
nur graduell der einen oder anderen Kategorie zugeordnet werden können. Gleichzeitig
besteht die Möglichkeit der wechselseitigen Verstärkung somatischer Symptome und psychosozialer
Faktoren.
Die Patient*innen können sich zudem im Spannungsfeld der somatischen und psychischen
Diagnosen aber auch der Unter-, Über- und Fehlversorgung wiederfinden.
Therapeutische Gespräche gemäß den üblichen Kriterien der haus- bzw. kinder- und jugend-ärztlichen
Behandlung sind regelhaft anzubieten und es ist auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung
bei diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen zu achten.
Bei ausgeprägter Symptomatik, ausbleibender Besserung über einen Zeitraum von mehreren
Wochen oder erheblichen ungünstigen psychosozialen Einflussfaktoren sollte eine spezialisierte
psychosomatische oder psychiatrische Mitbehandlung, Maßnahmen wie Ergo- oder Entspannungstherapie
oder eine psychosomatische Rehabilitation erfolgen.
26 Supplement Logopädie
Die Symptomatik bei Long-/Post-COVID-Patient*innen ist vielfältig und komplex und
sie kann sich in unterschiedlichen Therapiebereichen der Logopädie auswirken. Der
Begriff „Logopädie“ wird hier stellvertretend für alle sprachtherapeutischen Berufsgruppen
verwendet. Die Handlungsfelder der Logopädie umfassen: Sprache, Sprechen, Stimme,
Schlucken sowie als physiologische Voraussetzung die Atmung. Zu berücksichtigen sind
auch Riech- und Geschmacksstörungen, Husten und Atemnot, da sie sowohl die Schluckfunktion
und Ernährung als auch die Phonation beeinträchtigen können.
26.1 Kognitive Kommunikationsstörungen
Kognitive Kommunikationsstörungen können bei Long-/Post-COVID-Patienten entstehen
durch primäre neuronale Schädigungen oder sekundär z. B. im Rahmen eines PICS. Folgende
kommunikative Beeinträchtigungen werden im Rahmen eines Long-/Post-COVID-Syndroms
beschrieben [376]
[377]: lexikalische Störungen und Wortabrufstörungen, phonetisch-phonologische Störungen
und Störungen der semantischen Sprachverarbeitung [378], Aufmerksamkeits- und dysexekutive Störungen, Störungen des verbalen Gedächtnisses
und visuell-räumlicher Funktionen.
-
Differenzialdiagnostische Abklärung: aphasische Sprachstörungen vs. kognitive Kommunikationsstörungen vs. sprechmotorische
Störungen. Zeigen sich Auffälligkeiten, muss eine differenzierte Abklärung durch standardisierte
und valide klinische Diagnostikverfahren erfolgen.
-
Therapieableitung aus dem individuellen Störungsprofil, das sich aus den Ergebnissen einer spezifischen
Anamnese sowie der störungsspezifischen Diagnostik ergibt. Derzeit existieren weder
für die Diagnostik noch für die Therapie standardisierte und validierte Verfahren
für Long-/Post-COVID-Patienten ohne neurologische Korrelate.
26.2 Dysphagien
Ursachen von Dysphagien bei Long-/Post-COVID-Patient*innen sind laryngeale Schädigungen
durch eine invasive Beatmung (Post-Extubations Dysphagie – PED) [379]
[380]
[381], PICS, primäre virusbedingte Enzephalopathien und Neuropathien (z. B. postvirale
vagale Neuropathie – PVVN) und Autoimmunreaktionen [382] häufig assoziiert mit den folgenden endoskopischen Befunden [379]
[381]
[383]: Ödeme und Erytheme, laryngeale Bewegungseinschränkungen und Atrophien, kompensatorische
hyperfunktionelle Bewegungen der Glottis und supraglottischen Strukturen, laryngeale
Hypästhesie, pharyngeale Retentionen von Sekret und Nahrung (Valleculae, Sinus piriformes),
eine hohe Rate an (stillen) Aspirationen.
-
Abklärung behandlungsbedürftiger Schluckstörungen durch klinische Schluckfunktionsuntersuchung
(KSU) und instrumentelle Schluckuntersuchungen (Flexible Endoskopische Evaluation
des Schluckvorgangs – FEES; Videofluoroskopie des Schluckaktes – VFSS), ggf. wiederholte
Durchführung bei fluktuierender Symptomatik [383].
-
Einschätzung und Verlaufsdokumentation des Dysphagieschweregrades anhand funktioneller
Skalen.
-
Evaluation der Ernährungssituation bei Geschmacks- und Geruchsstörungen (Hypogeusie,
Hyposmie), da beeinträchtigte Patienten dazu neigen, ihre Ernährungsgewohnheiten dann
zu verändern (Qualität und Quantität)
-
Geruchstraining [144].
-
Berücksichtigung von Ernährungsempfehlungen für COVID-19 sowie Long-/Post-COVID-Patient*innen
bei der Empfehlung von modifizierten oralen Koststufen [384].
-
Ödem- und Refluxmanagement, z. B. Inhalation, ausreichende Hydratation, Medikation
[381].
26.3 Dysphonien
Folgende Ursachen für Dysphonien im Rahmen einer Long-/Post-COVID-Symptomatik werden
diskutiert [382]
[385]
[386]:
Postvirale vagale Neuropathie (PVVN): bilaterale Schädigung der sensorischen und motorischen
Anteile des N. vagus [382]
[385]
[386]
[387]
[388], laryngeale/vokale Fatigue, Odynophagie, Dysphagie, Schmerzen, Husten, Globusgefühl,
Laryngospasmen, Räusperzwang und laryngopharyngealer Reflux, entzündliche Prozesse
sowie Schädigungen der Glottis und umgebender Strukturen durch forciertes Husten und
Reflux dadurch Bildung von Ödemen, Erythemen und Schwellungen [247]
[265], Post-Extubations-Dysphonie nach invasiver Beatmung mit Granulombildung, Paresen,
Aryknorpel-Dislokation, eingeschränkter Glottisfunktion/-mobilität durch Paresen und
laryngopharyngealen Reflux, Dysphonie infolge insuffizienter respiratorischer Funktion
(reduzierter subglottischer Anblasedruck, Dysphonien infolge von psychischen Belastungen
(z. B. durch pandemiebedingte Kontaktbeschränkungen, Veränderungen des Alltags, ggf.
infolge der medizinischen Behandlung durch z. B. Isolation, Delirzustände).
-
Ausführliche Anamneseerhebung unter Verwendung validierter patientenorientierter Fragebögen)
zur Erfassung subjektiver Einschränkungen der Partizipationsfähigkeit durch die Dysphonie.
-
Phoniatrische Untersuchung der Stimm- und Sprechfunktion, insbesondere laryngealer
Organ- und Funktionsstatus, ggf. wiederholte Durchführung bei persistierender und/oder
fluktuierender Symptomatik [383].
-
Beurteilung der Stimmqualität bzw. des Dysphonie-Schweregrades anhand validierter
Skalen.
-
Störungsspezifische Übungstherapie zur Regulation bzw. Aktivierung der laryngealen
Ventilfunktion und zur Verbesserung von Atemvolumen und Anpassung der Atem-Stimm-Koordination
– dabei Berücksichtigung der potenziellen laryngealen Fatigue – niederschwellige Intensität.
-
Individuelle Beratung und Anleitung zu stimmhygienischen Maßnahmen, Verhaltenstraining
mit dem Ziel der Vermeidung weiterer laryngealer Schädigungen und Traumata.
26.4 Refraktärer Husten
Ursachen des bei Long-/Post-COVID-Patient*innen häufig auftretenden refraktären Hustens
(chronischer Husten, der auch nach Behandlung der primären Ursache persistiert [389]) ist mutmaßlich ein Zusammenspiel der durch die SARS-CoV-2-Infektion bedingten laryngealen
Hyperreagibilität/persistierend erniedrigten Hustenschwelle und dem dadurch bedingten
repetitiven und häufig ineffektiven Husten, der die Hyperreagibilität aufrechterhält.
-
Differenzialdiagnostische Abklärung: postviraler refraktärer Husten vs. andere häufige
Hustenursachen, vgl. auch Leitlinie der DGP zur Diagnostik und Therapie von erwachsenen
Patienten mit akutem und chronischem Husten [357], s. a. HNO bzw. Pneumologie.
-
Beurteilung der funktionellen Einschränkungen im Alltag durch das chronische/refraktäre
Husten, z. B. mit der Symptom Frequency and Severity Rating Scale – SFSR [390] oder der Modifizierten Borg-Skala [391].
-
Vermittlung von Strategien zur Vermeidung von unproduktivem, erschöpfendem Husten:
Spezielle Ein- und Ausatemtechniken zur Hustenreizhemmung (z. B. umgekehrte Intervallatmung,
Wechselatmung (nasale Inspiration – PEP-Exspiration), hustenerleichternde Körperhaltungen
(z. B. Kutscherhaltung), SPEICH-C-Programm [392]
[393].
26.5 Logopädie bei Fatiguebeschwerden ([Abb. 12])
Abb. 12 Logopädische Diagnostik und Therapie bei Long-/Post-COVID-Patient*innen. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/020-027.html [rerif]
Empfehlungen zur Anpassung logopädischer Behandlung bei chronischer Fatigue
-
Beratung und Anleitung der Patient*innen zur Strukturierung und Planung des eigenen
Alltags.
-
Formulierung von realistischen, alltagsrelevanten und funktionsorientierten Therapiezielen:
eine Hilfestellung zur alltagsnahen Zielformulierung bietet z. B. die Patientenspezifische
Funktionsskala – PSFS [394].
-
Kurze, dafür häufigere Übungseinheiten am Tag, viele Pausen.
-
Einsatz von Videotherapie: Patienten berichten von einer hohen Zufriedenheit beim
Einsatz von Videotherapie [395]. Das legt nahe, dass die Videotherapie gerade für Patienten mit Fatigue eine zielführende
und effektive Maßnahme darstellt.
-
Anleitung zur Selbsthilfe mit dem Ziel, die Patient*innen durch schrittweises, dem
Krankheitsgeschehen angepasstes Vorgehen in ihrem Erleben der Selbstwirksamkeit stärkt
[396].
27 Supplement Neuropsychologische Aspekte
27 Supplement Neuropsychologische Aspekte
27.1 Anamnese, kognitives Screening
Besteht der Verdacht auf kognitive Leistungsveränderungen, Persönlichkeitsveränderungen
oder Verhaltensauffälligkeiten in Zusammenhang mit einer durchgemachten SARS-CoV-2-Infektion,
sollte zunächst eine spezifische Anamnese und Fremdanamnese erhoben werden, damit
die Veränderungen seit der SARS-CoV-2-Infektion und deren Verlauf klar dargestellt
werden können.
Kognitive Screeningverfahren wie das MoCA [397] können für eine erste Objektivierung kognitiver Beschwerden bei älteren Patient*innen
ab 60 Jahren hilfreich sein; für die Erkennung diskreter, jedoch funktionell relevanter,
kognitiver Störungen reicht die Sensitivität jedoch nicht aus und sie sind für jüngere
Patient*innen nicht geeignet. Insbesondere bei jüngeren Patient*innen und bei solchen
ab 60 Jahren mit milden Beschwerden sollte daher auch bei unauffälliger Anamnese oder
Screening-Befund eine differenziertere neuropsychologische Untersuchung erfolgen.
27.1.1 Personen unter 60 Jahren
Es liegen keine geeignete kognitive Screeninginstrumente für Patient*innen unter 60
Jahren vor. Insbesondere bei Jüngeren ist also die Anamnese und Fremdanamnese, die
jeweils Hinweise auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen vorliegenden kognitiven
Beschwerden und einer durchgemachten SARS-CoV-2-Infektion klären können, unverzichtbar.
Die folgenden Fragen können bei der Anamnese hilfreich sein:
-
Klagen Patient*innen über Veränderungen in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, sollte
die Art der Beschwerden detaillierter erfragt werden (Aufmerksamkeit/Konzentration;
Gedächtnis; visuell-räumliche Störungen, Denken/Handlungsplanung/Problemlösen).
-
Es sollte der zeitliche Zusammenhang zur SARS-CoV-2-Infektion, die Häufigkeit der
Beschwerden sowie das Ausmaß der Beeinträchtigung im Alltag erfragt werden.
-
Finden sich Hinweise auf eine kognitive Beeinträchtigung von funktioneller Relevanz,
sollte eine differenzierte neuropsychologische Untersuchung und ggf. Therapie erfolgen.
27.1.2 Bei Personen ab 60 Jahren
Kognitive Screeningverfahren wie das MoCA [397] können für eine erste Erfassung kognitiver Beschwerden bei Patienten ab 60 Jahren
hilfreich sein. Dabei kann der MoCA-Cut-Score von < 26 Punkten Hinweis auf eine mindestens
milde neurokognitive Einschränkung sein. Spezifischere Indikationen auf eine milde
neurokognitive Störung ergeben sich bei Patienten im Altersbereich ab 65–91 Jahren
anhand eines MoCA-Cut-Scores von < 23/24 Punkten [398].
Es kann also bei diesen Patienten weiter hilfreich sein, alltagsrelevante kognitiven
Beschwerden systematisch und effizient anhand eines standardisierten Fragebogens wie
des Everyday Cognition in Lang- (ECog-39) oder Kurzform (ECog-24 oder ECoG-12) zu erfassen [399]
[400]. Bei ECog-12 z. B. kann man von kognitiver sowie funktioneller Beeinträchtigungen
ausgehen bei einem Indexwert von > 2,70 [400].
Nach der Anamnese und ggf. geeigneten Screening-Verfahren soll bei Hinweisen auf eine
kognitive Störung eine eingehendere Diagnostik, Information, Beratung und Unterstützung
erfolgen.
Damit eine angemessene und leitliniengerechte Auswahl von Testverfahren und Inventaren
auf der Grundlage der spezifischen Bedürfnisse der betreffenden Person erfolgen kann,
sollten neuropsychologische Tests von qualifizierten neuropsychologischen Fachkräften
betreut werden. Diese Auswahl hängt von vielen individuellen Faktoren ab, wie z. B.
dem genauen Beschwerdebild, dem Alter, dem Verlauf oder der Schwere der COVID-19,
den Komplikationen der SARS-CoV-2-Infektion oder der Behandlung, den Begleiterkrankungen,
den erwarteten Ausgangswerten und den gleichzeitigen Symptomen.
Die spezifischen Testverfahren müssen auf das aktuelle Beschwerdebild und Fragestellung
des Individuums angepasst werden. Daher sollten bei der Diagnostik/Therapie im neuropsychologischen
Bereich bei Bedarf Pausen angeboten und die Dauer der Tests angepasst werden.
27.2 Einstufung neurokognitiver Ergebnisse
Neurokognitive Störungen können viele Pathomechanismen haben (vgl. Kapitel 4 „Pathogenese“).
Neuropsychologische Testergebnisse sollen ungeachtet eines möglichen organischen Korrelats
vom Schweregrad her eingestuft werden.
27.3 Ergänzung pädiatrisches neuropsychologisches Konsil
Je nach Fragestellung und Funktionsbereich soll eine leitliniengerechte Diagnostik
der neurokognitiven Leistungen erfolgen. Die Untersuchung soll eine sorgfältige Exploration
der Eltern/Bezugspersonen inkludieren. Dabei sollen relevante, das familiäre, soziale
und schulische Umfeld sowie die Entwicklungslaufbahn erfasst werden. Die betroffenen
Kinder und Jugendlichen sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten dabei einbezogen werden.
Darüber hinaus sollen begleitende psychiatrische und psychosomatische Beschwerden
(z. B. Änderungen in der Emotionalität, im Verhalten und im Schlaf) erfasst werden.
Alle wesentlichen neurokognitiven Funktionen sollen entwicklungsgerecht berücksichtigt
werden (Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Sprache sowie exekutive Funktionen wie
Planung und Problemlösung, Abstraktionsfähigkeit, kognitive Flexibilität und soziale
Kognition).
27.4 Häufig gestellte praxisrelevante Fragen
Laut einer Metaanalyse ergaben sich keine statistisch signifikanten Unterschiede in
der subjektiv wahrgenommenen kognitiven Einschränkung nach Hospitalisierungsstatus
[173]. In einer deutschen Studie konnte jedoch ein Unterschied in der Häufigkeit der berichteten
Konzentrationsstörung gezeigt werden, mit 27,7 % der nicht-hospitalisierten vs. 44 %
der hospitalisierten Patient*innen [3].
Zur Frage des Verlaufs der kognitiven Leistungsfähigkeit nach einer SARS-CoV-2-Infektion
über die Zeit können noch keine Aussagen gemacht werden. Es gibt Befunde, die eine
Besserung im Verlauf nahelegen [346], solche, die nach einem Jahr im Vergleich zu dem Zustand nach 6 Monaten keine Veränderung
finden, und solche, v. a, bei älteren Menschen, die eine weitere Verschlechterung
feststellen [178]. Hier wird die weitere Forschung untersuchen müssen, welche Einflussfaktoren für
den weiteren Verlauf von Bedeutung sind.
Im Rahmen der neuropsychologischen Untersuchung können einerseits eingebettete Beschwerdevalidierungsindikatoren,
andererseits gezielte Beschwerdevalidierungstests eingesetzt werden, um ggf. Täuschungsverhalten
oder mangelnde Testmotivation zu erkennen [401]
[402].
Abkürzungsverzeichnis
ACE2:
Angiotensin Convertierendes Enzym 2
ACS:
akutes Coronarsyndrom
ACT:
Akzeptanz-Committment-Therapie
AFOP:
akute fibrinöse organisierende Pneumonie
AHB:
Anschlussheilbehandlung
AMN:
akute makuläre Neuroretinopathie
AsylbLG:
Asylbewerberleistungsgesetz
AU:
Arbeitsunfähigkeit
BAL:
bronchoalveoläre Lavage
BAR:
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V.
CIM:
critical illness Myopathie
CIP:
critical illness Polyneuropathie
COVID:
Coronavirus infectious disease
CCC:
Kanadische Konsensuskriterien
CCS:
chronic COVID syndrome
DECT:
Dual energy Computertomographie
DGKJ:
Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde
DAD:
diffuse alveolar damage
EBV:
Ebstein-Barr-Virus
EUTB:
ergänzende unabhängige Teilhabeberatung
FAS:
Fatigue Assessment Skala
FEES:
Fiberoptische endoskopische Evaluation des Schluckdiagnostik
FS:
Fatigue Skala
FSS:
Fatigue Severity Scale
GBS:
Guillain-Barré-Syndrom
GET:
graded execise training
HADS:
Hospital Anxiety and Depression Scale
HV:
Heilverfahren
ICF:
International Classification of Functioning, Disability and Health
ICS:
inhalatives Kortikosteroid
IL:
Interleukin
ILD:
interstitielle Lungenerkrankung
IOD:
intraokulärer Druck
IVF:
In-vitro-Fertilisation
KSU:
klinische Schluckuntersuchung
LAE:
Lungenarterienembolie
LAMA:
long acting muscarin activator
MdE:
Minderung der Erwerbsfähigkeit
ME/CFS:
myalgische Enzephalitis (oder Encephalopathie)/Chronisches Fatigue-Syndrom
MoCA:
Montreal Cognitive Assessment
NICE:
National Institute for Health and Care Excellence
PACS:
post-acute COVID syndrome
PAMM:
parazentral akute mittlere Makulopathie
PASC:
post-acute sequelae of COVID-19
PED:
Postextubationsdysphagie
PTBS:
posttraumatische Belastungsstörung
PCR:
Polymerase Kettenreaktion
PEM:
postexertionelle Malaise
PHQ:
patient health questionnaire
PICS:
post intensive care syndroms
PVK:
private Krankenversicherung
PNP:
Polyneuropathie
PVVN:
postvirale vagale Neuropathie
PCL-C:
PTBS-Checkliste für Zivilpersonen
POTS:
posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom
PROM:
Patient Reported Outcome Measures
PsA:
Psoriasis Arthritis
RAAS:
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System
RKI:
Robert Koch-Institut
SARS-CoV-2:
severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2
SFN:
small fibre neuropathy
SFSR:
Symptom Frequency and Severity Rating Scale
SLE:
systemischer Lupus erythematodes
STAI:
State and Traite Anxiety Index
STIKO:
ständige Impfkommission
TMPRSS2:
transmembrane Serinprotease 2
TNF:
Tumornekrosefaktor
VFSS:
Videofluoroskopie des Schluckaktes
WHO:
world health organization