Psychiatr Prax 2023; 50(04): 180-181
DOI: 10.1055/a-1952-1910
Debatte: Pro & Kontra

Sollten wir bei der Mehrzahl der Menschen mit einer psychotischen Erkrankung eine langfristige antipsychotische Rezidivprophylaxe anstreben? – Kontra

Stefan Weinmann
 

Kontra

Der Begriff Antipsychotika suggeriert eine solide Wirksamkeit und Wirkungsspezifität. Diese Medikamentengruppe wird in den meisten Lehrbüchern und Übersichtsartikeln immer noch als Grundpfeiler der langfristigen Behandlung der Schizophrenie und vieler Psychosen angesehen.

Die Behandlung in der Akutphase psychotischer Syndrome wird gestützt durch die klinische Erfahrung einer Verminderung von Halluzinationen und Wahn, durch Kurzzeit-Studien zur Verbesserung dieser und anderer Positivsymptome [1] und durch die Befunde einer phasisch erhöhten präsynaptischen Dopaminausschüttung. Als wichtiges Argument für die Empfehlung einer Fortführung und langfristigen Einnahme von Antipsychotika wird die erhöhte Rückfallrate bei (partieller) Nicht-Einnahme, intermittierender Gabe, Dosisreduktion oder Absetzen genannt [2]. Diess Narrativ wird wie ein Mantra wiederholt und versucht die präventive Wirkung von Antipsychotika hinsichtlich Rückfälle und Wiedererkrankung etwa derjenigen von Blutverdünnern zur Sekundärprophylaxe des Schlaganfalls oder von bestimmten Formen von Chemotherapie gleichzustellen [3]. Es ist aber fehlerhaft, da es harte und kaum manipulierbare Parameter wie Tod, kardiovaskuläre Ereignisse oder Tumorrezidive einer teils dichotomisierten („Rückfall“ ja/nein) Veränderung subjektiver psychiatrischer Skalen gleichsetzt, die kaum zwischen Absetzphänomenen und Wiedererkrankungen unterscheiden können.

Das Paradigma der Notwendigkeit einer Langzeitbehandlung mit Antipsychotika verstellt schon seit Jahrzehnten den Blick auf alternative psychotherapeutische und psychosoziale Behandlungsansätze. Es ist Teil eines mit vermeintlicher Evidenz untermauerten Mythos dieser kurzfristig teilweise hilfreichen, aber langfristig problematischen Substanzen, der seit einigen Jahren deutlich an Strahlkraft verliert [4].

Betrachtet man die Langzeitstudien zur Rezidivprophylaxe der Psychosen durch Antipsychotika genauer, erkennt man, dass es kaum Studien mit Beobachtungszeiträumen von mehr als zwei Jahren gibt. In den Behandlungsarmen, in denen nach Randomisierung abgesetzt wurde, erfolgte dies fast immer innerhalb von wenigen Tagen ohne professionelle Begleitung, ohne Einbezug des sozialen Umfeldes, ohne Psychotherapie und ohne Vermittlung von Bewältigungsstrategien. Dies führt zu einem „cold turkey-Effekt“. Viele Studien verwenden zudem kaum relevante Ergebnisparameter über die reine Symptom-Ebene hinaus wie Lebensqualität, Arbeit, Autonomie und soziale Funktionen.

Zudem wissen wir, dass die „Rückfallraten“ nach Reduzieren und Absetzen einer Depotmedikation deutlich geringer sind nach oraler Medikation. Es ist daher davon auszugehen, dass angesichts der nunmehr unbestreitbaren Evidenz zur Dopamin-Rezeptorsensitivierung und -veränderung durch Antipsychotika [5] und entsprechenden Absetzeffekten [6] bei einer größeren Zahl von Studienteilnehmern der Langzeitstudien Entzugssymptome als Rückfälle gewertet wurden. Die meisten Studien sind geradezu daraufhin angelegt, dass es den Patienten in den auf Placebo umgestellten Kontrollgruppen besonders schlecht geht, um die Langzeitwirksamkeit der Antipsychotika besser dastehen zu lassen.

Das Problem stellt sich daher eher als ein solches dar, auf welche Weise schonend zu reduzieren und abzusetzen ist, wie die kleine vieldiskutierte niederländische Langzeitstudie zeigt [7]. Denn einerseits weist uns die Forschung zu den grundlegenden Mechanismen der Psychose darauf hin, dass Antipsychotika unspezifisch wirken und etwa nicht nur die in Psychosen zu beobachtende fehlerhafte Bedeutungszuschreibung (aberrant salience) dämpfen, sondern sämtliche Bedeutungszuweisung. Sie wirken nicht ursächlich auf Wahn und Halluzinationen, sondern symptomatisch wie die Lautstärkeregelung eines angeschlagenen Radios, dessen Leiserstellen zwar das lästige Rauschen unterdrückt, ohne jedoch das zugrundeliegende Problem der veränderten Frequenz anzugehen [8].

Andererseits werden zwar einige Patienten unter Dosisreduktion kurzfristig höhere Raten an Psychose-assoziiertem Unwohlsein haben, was aber meistens mittels vorsichtiger Dosiserhöhung oder begleitetem Zuwarten gut zu beherrschen ist. Langfristig ist davon auszugehen, dass unter Dosisreduktion bis hin zum Absetzen sogar bessere soziale Ergebnisse und mehr funktionelle Recovery zu erreichen ist als unter starrer antipsychotischer Erhaltungstherapie [7].

Angesichts vielfältiger Befunde zu psychosozialen Risikofaktoren für ungünstige Outcomes, der zunehmenden Evidenzlage zur Psychotherapie bei Psychosen und angesichts fehlender Erfolge der Medikation bei erheblichen Risiken bis hin zu Stoffwechselerkrankungen und Hirnvolumenminderung ist es an der Zeit, vom Langzeit-Medikationsparadigma zur Rezidivprophylaxe abzurücken: Es führt nur zu vermeintlicher Sicherheit. Es suggeriert, dass die stabile Einnahme von Antipsychotika die Grundlage der Langzeitbehandlung sei und die Gewährleistung von Therapietreue daher im Zentrum der Hilfe stehen muss. Außerdem werden gute psychosoziale Behandlungsverfahren und teambasierte Unterstützung zuhause, welche eine Niedrigdosistherapie oder ein begleitetes Absetzen erst ermöglichen, zu wenig umgesetzt, wenn der Focus so sehr auf der Medikation liegt.

Der Verweis auf die (möglicherweise tödliche) Gefahr von psychotischen Rückfällen und die Verhinderung von Verhaltensstörungen aufgrund zu niedriger Dosierungen und zu kurzer Therapien ist kein Argument für eine universale langfristige Antipsychotika-Verschreibung oder Polypharmazie bei der Mehrzahl der Betroffenen. Viele Menschen sind mit einer antipsychotischen Langzeittherapie unzufrieden, weil sie wissen, dass durch die Medikation ihr Leben an Lebendigkeit verliert und psychosoziale Normalität außerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems oft nicht erreichbar ist. Die meisten Menschen, die Antipsychotika nehmen, werden diese Medikamente innerhalb von 1–2 Jahren absetzen oder es zumindest versuchen. Drei Viertel der von einer Schizophrenie Betroffenen unternehmen solche Absetzversuche. Dies ist verständlich, zumal die Wirksamkeit im Zeitverlauf abnimmt (vgl. die CATIE-Studie, [9]).

Ein deutlich geringerer Teil ist mit der Medikation zufrieden. Manche akzeptieren sie oder bekommen sie aufgezwungen, weil sie „Stabilität“ benötigen oder die kontinuierliche Einnahme den Preis für die Inanspruchnahme von Hilfen darstellt. Das Wissen vieler Betroffenen, dass bei offengelegter Verschlechterung ihrer Symptome der Kontakt zur Psychiatrie wenig mehr zur Folge haben wird als die Erhöhung oder Wiederansetzen der Antipsychotika-Medikation, führt nicht selten zum Aufschub einer Kontaktaufnahme.

Manche Menschen profitieren sicherlich von einer längeren Gabe von Antipsychotika. Bei anderen wird wegen der Rezeptorveränderungen ein Absetzen nicht möglich sein. Wenn wir aus der Langzeittherapie aber einen Grundsatz machen, nehmen wir alle anderen Betroffenen in Haft. Die maximal erreichbare langfristige Unabhängigkeit von Antipsychotika wird aber zunehmend zum besten Prädiktor einer guten Recovery, welche die soziale und berufliche Integration zum Ziel hat und nicht primär die Symptomkontrolle. Den größten Hebel zur Verbesserung des Verlaufs haben wir mit psychosozialen Therapien in der Hand. Diese erfordern allerdings Umdenken, eine Veränderung von Strukturen und eine Verbesserung psychiatrisch-psychotherapeutischer Kompetenzen.


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Autor

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Stefan Weinmann

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Leucht S, Leucht C, Huhn M. et al. Sixty Years of Placebo-Controlled Antipsychotic Drug Trials in Acute Schizophrenia: Systematic Review, Bayesian Meta-Analysis, and Meta-Regression of Efficacy Predictors. The. American Journal of psychiatry 2017; 174: 927-942
  • 2 De Hert M, Sermon J, Geerts P. et al. The Use of Continuous Treatment Versus Placebo or Intermittent Treatment Strategies in Stabilized Patients with Schizophrenia: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials with First- and Second-Generation Antipsychotics. CNS Drugs 2015; 29: 637-658
  • 3 Leucht S, Hierl S, Kissling W. et al. Putting the efficacy of psychiatric and general medicine medication into perspective: review of meta-analyses. British Journal of Psychiatry 2012; 200: 97-106
  • 4 Murray RM, Quattrone D, Natesan S. et al. Should psychiatrists be more cautious about the long-term prophylactic use of antipsychotics?. British Journal of Psychiatry 2016; 209: 361-365
  • 5 Chouinard G, Samaha AN, Chouinard VA. et al. Antipsychotic-Induced Dopamine Supersensitivity Psychosis: Pharmacology, Criteria, and Therapy. Psychotherapy and Psychosomatics 2017; 86: 189-219
  • 6 Brandt L, Bschor T, Henssler J. et al. Antipsychotic Withdrawal Symptoms: A Systematic Review and Meta-Analysis. Frontiers Psychiatry 2020; 11: 569912
  • 7 Wunderink L, Nieboer RM, Wiersma D. et al. Recovery in remitted first-episode psychosis at 7 years of follow-up of an early dose reduction/discontinuation or maintenance treatment strategy: long-term follow-up of a 2-year randomized clinical trial. JAMA Psychiatry 2013; 70: 913-920
  • 8 Barkus C, Sanderson DJ, Rawlins JNP. et al. What causes aberrant salience in schizophrenia? A role for impaired short-term habituation and the GRIA1 (GluA1) AMPA receptor subunit. Molecular Psychiatry 2014; 19: 1060-1070
  • 9 Levine SZ, Rabinowitz J, Faries D. et al. Treatment response trajectories and antipsychotic medications: examination of up to 18 months of treatment in the CATIE chronic schizophrenia trial. Schizophrenia Research 2012; 137: 141-146

Korrespondenzadresse

Dr. Stefan Weinmann
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie,
Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk
Potsdamer Chaussee 69
14129 Berlin

Publication History

Article published online:
09 May 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Leucht S, Leucht C, Huhn M. et al. Sixty Years of Placebo-Controlled Antipsychotic Drug Trials in Acute Schizophrenia: Systematic Review, Bayesian Meta-Analysis, and Meta-Regression of Efficacy Predictors. The. American Journal of psychiatry 2017; 174: 927-942
  • 2 De Hert M, Sermon J, Geerts P. et al. The Use of Continuous Treatment Versus Placebo or Intermittent Treatment Strategies in Stabilized Patients with Schizophrenia: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials with First- and Second-Generation Antipsychotics. CNS Drugs 2015; 29: 637-658
  • 3 Leucht S, Hierl S, Kissling W. et al. Putting the efficacy of psychiatric and general medicine medication into perspective: review of meta-analyses. British Journal of Psychiatry 2012; 200: 97-106
  • 4 Murray RM, Quattrone D, Natesan S. et al. Should psychiatrists be more cautious about the long-term prophylactic use of antipsychotics?. British Journal of Psychiatry 2016; 209: 361-365
  • 5 Chouinard G, Samaha AN, Chouinard VA. et al. Antipsychotic-Induced Dopamine Supersensitivity Psychosis: Pharmacology, Criteria, and Therapy. Psychotherapy and Psychosomatics 2017; 86: 189-219
  • 6 Brandt L, Bschor T, Henssler J. et al. Antipsychotic Withdrawal Symptoms: A Systematic Review and Meta-Analysis. Frontiers Psychiatry 2020; 11: 569912
  • 7 Wunderink L, Nieboer RM, Wiersma D. et al. Recovery in remitted first-episode psychosis at 7 years of follow-up of an early dose reduction/discontinuation or maintenance treatment strategy: long-term follow-up of a 2-year randomized clinical trial. JAMA Psychiatry 2013; 70: 913-920
  • 8 Barkus C, Sanderson DJ, Rawlins JNP. et al. What causes aberrant salience in schizophrenia? A role for impaired short-term habituation and the GRIA1 (GluA1) AMPA receptor subunit. Molecular Psychiatry 2014; 19: 1060-1070
  • 9 Levine SZ, Rabinowitz J, Faries D. et al. Treatment response trajectories and antipsychotic medications: examination of up to 18 months of treatment in the CATIE chronic schizophrenia trial. Schizophrenia Research 2012; 137: 141-146

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