Fortschr Neurol Psychiatr 2025; 93(01/02): 19-35
DOI: 10.1055/a-1971-9558
Originalarbeit

Vergleichende Risiko/Nutzen-Analyse verschiedener psychotroper Substanzen aus der Perspektive deutscher Drogenkonsumenten und Suchtmediziner – Ein Beitrag für die Psychoedukationsarbeit mit Abhängigkeitserkrankten und Restriktions-/Legalisierungsdebatten

Comparative Harm/Benefit Analysis of Various Psychotropic Substances from the Perspective of German Drug Users and Addiction Medicine Experts – A Contribution to Psychoeducation of Substance-Addicted Individuals and Restriction/Legalization Debates
Ann-Kristin Kanti
1   Klinik für Innere Medizin, Evangelisches Krankenhaus Castrop-Rauxel, (Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen), Castrop-Rauxel, Deutschland
,
Michael Specka
2   LVR-Klinikum Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
,
Norbert Scherbaum
2   LVR-Klinikum Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
,
Udo Bonnet
2   LVR-Klinikum Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
3   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Evangelisches Krankenhaus Castrop-Rauxel, (Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen), Castrop-Rauxel, Deutschland
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Zusammenfassung

Hintergrund Es existiert keine aktuelle internationale Vergleichsstudie von Drogenkonsumenten und Suchtexperten zur Einschätzung des Risiko/Nutzen-Profils legaler und illegaler psychotroper Substanzen und zudem keine auch ältere Studie dazu aus dem deutschsprachigen Raum.

Methodik Ergänzend zu den bereits veröffentlichten Daten 101 deutscher Suchtexperten (in diesem Journal publiziert, [1]) wurden analog 100 substanzabhängige Drogenkonsumenten während ihrer stationären Entzugsbehandlung (Akutkrankenhaus) oder Entwöhnungsbehandlung (Rehabilitationskrankenhaus) per strukturiertem Fragebogen zu ihrer Einschätzung des Schadens- und Nutzenpotentials von 34 legalen und illegalen psychotroper Substanzen interviewt.

Ergebnisse In Übereinstimmung bewerteten Konsumenten und Experten, dass die traditionellen illegalen Drogen Heroin, Crack/Kokain und Methamphetamin das größte Schädlichkeitspotential besitzen. Synthetische Cannabinoide, Alkohol und Benzodiazepine befanden sich im oberen Mittelfeld, Cannabis und psychotrope Pilze im unteren Mittelfeld und Gabapentinoide am Ende der Gefährdungsrangordnung beider Gruppen. Methadon und Benzodiazepine wurden von Konsumenten signifikant gefährlicher eingestuft. Hinsichtlich des Substanznutzens bewerteten Konsumenten traditionelle illegale Drogen einschließlich Cannabis und psychotrope Pilze ebenso wie Nikotin als signifikant nützlicher als die Experten. Im Gegensatz zu den Experten bewerteten die Konsumenten keine Substanz als extrem gefährlich bei gleichzeitig geringer Nützlichkeit. Erfahrungen mit Opioid-Analgetika konnten nur von wenigen Konsumenten berichtet werden, wurden aber bezüglich ihres Risiko/Nutzen-Profils ähnlich den Expertenurteilen eingeordnet. Durch Legalisierung von Cannabis erwarten weder Konsumenten noch Experten eine Änderung des Gefährdungspotentials. In beiden Gruppen existierten spezifische kognitive Bewertungsverzerrungen.

Fazit Die vorliegende Studie zeigt erste Informationen aus dem deutschsprachigen Raum zur Risiko/Nutzen-Bewertung psychotroper Substanzen aus der Perspektive von Suchtexperten und Konsumenten. Diese können als Beitrag für die Psychoedukationsarbeit in der Behandlung von Substanzabhängigen aber auch für aktuelle gesundheitspolitischen Debatten zur legalen Verfügbarkeit von Drogen zum Freizeitgebrauch hilfreich sein.

Abstract

Background To date, we cannot find any current international comparative study on the assessment of a benefit/harm profile of various licit and illicit psychoactive substances conducted by adult drug users and addiction experts as well. Particularly, there is no study from the German-speaking area of Western Europe.

Methods In addition to the data already published by 101 German addiction medicine experts (published in this journal, [1]), we carried out interviews using a structured questionnaire with 100 German substance dependent users, residing in acute and rehabilitation clinical setting, to evaluate 34 psychoactive substances regarding their health and social harm potential for users and others as well as their potential benefit.

Results Both, users and experts estimated traditional illicit drugs, such as heroin, crack/cocaine and methamphetamine, to be particularly harmful. Synthetic cannabinoids, alcohol and benzodiazepines were in the upper midfield, cannabis and psychotropic mushrooms in the lower midfield, and gabapentinoids at the bottom of the harm rankings of both, users and experts. In comparison with the experts, the users estimated methadone and benzodiazepines to be significantly more harmful. In the benefit analysis, users rated traditional illicit drugs including cannabis and psychotropic mushrooms as well as nicotine as significantly more useful than the experts. In contrast to the experts (traditional illicit drugs), the users did not assess any substance as very harmful and very useless at the same time. Only a few users reported to have experiences with opioid analgesics which, however, did not differ between the users´ and experts´ harm/benefit-assessments. Neither users nor experts predicted cannabis-legalization to change the overall risk potential of cannabis. Specific cognitive valuation biases seemed to be prominent in both groups.

Conclusion This study presents first harm/benefit assessments of psychotropic substances from the perspective of German addiction medicine experts and drug users. The results can be valuable to the psychoeducation of substance-addicted individuals and to current restriction or legalization debates.

6 So besitzt Pregabalin offenbar im Kontext der JVA ein besonders hohes Gefährdungspotential. Beispielsweise berichtet Dr. Marcot: „In der Schweiz (und in Frankreich) sind die Konsumenten von Pregabalin meist junge Männer, die in prekären Verhältnissen leben oft als Migranten aus Nordafrika stammen, und die alle schon andere Drogen genommen hatten. Im Maghreb sind illegale Betäubungsmittel schwerer zugänglich, so dass die Konsumenten auf Medikamente zurückgreifen. Vor allem unter dieser Bevölkerungsgruppe gibt es zur Zeit eine heftige Pregabalin-Mode, die das Clonazepam abgelöst hat, das einige Jahre lang der Blockbuster war. Bei uns machte sich der Wandel um 2018 herum bemerkbar. Pregabalin scheint wegen der Euphorie (im Arabischen hat es den Spitznamen "Rakete") begehrt zu sein. Ein Teil von den Konsumenten begann, chemische Substanzen (Klebstoffe, Benzin usw.) zu inhalieren, bevor sie, fast immer auf der Straße gekauft, die Medikamente Benzos, Trihexyphenidil und jetzt Pregabalin einnahmen. In Schweizer Gefängnissen wurden viele Kollegen mit der erheblichen Aggressivität (oft verbal) konfrontiert, die in der Nachfrage nach Pregabalin zum Ausdruck kam. Die durch dieses Molekül hervorgerufene Enthemmung erleichtert, meines Erachtens, wie bei Clonazepam, heteroaggressive (und autoaggressive) Handlungen, was in Gefängnissen manchmal ein großes Problem darstellt. Psychopharmaka dieser Art werden auch eingesetzt, wenn Straftaten (Diebstahl, Körperverletzung) von den Tätern begangen werden, um es zu schaffen, ihre Angst zu überwinden und die Straftat zu begehen. Einige begehen Straftaten um die Sucht zu finanzieren, andere nehmen addictive Substanzen um überhaupt Straftaten begehen zu können, andere machen, weil sie unter Drogeneinfluss stehen, einen Delikt ohne es vorher geplant zu haben. Und im Gefängnis zu sein (isoliert, gestresst, unter Druck gesetzt, usw.) ist Drogenkonsum noch begehrter. Ich bin mir bewusst, dass es gewagt ist gar kein Pregabalin zu geben, aber wenn die Insassen wissen, dass es trotzdem einen Weg zu dem Molekül gibt, werden sie's versuchen, und es wird immer diejenige geben die alle Risiken eingehen werden um es zu bekommen (falsche Epilepsieanfälle, Suiziddrohungen oder Versuche). Wenn sie allerdings wissen, keiner hat es und es wird sowieso nicht verschrieben, ist es auch ruhiger. Es geht auch darum, ihnen den « Treibstoff » für Enthemmung und Gewalt zu entziehen… Die Substanzen gelangen durch Häftlinge die ins Gefängnis ankommen (z. B. in Anus, Vagina oder in Rachenfalten verstecken, manche bringen auch Spritzen auf dieser Weise im Gefängnis), durch Besuche, von außen geworfen, manchmal durch Vollzugsbeamte (die sind nicht sehr gut bezahlt in Frankreich) oder anderes Personal in das Gefängnis. Medikamente, die dem einen gerechtfertigt verschrieben wurden, werden manchmal von anderen gestohlen, manchmal unter Bedrohungen, authentisch kranke Häftlinge werden von anderen beauftragt, sich ein bestimmtes Medikament verschreiben zu lassen. Im Gefängnis hat das Medikament oft zwei Funktionen: eine pharmakologische und eine wirtschaftliche, und es ist schwierig, die beiden Funktionen zu unterscheiden. Der Schwarzmarkt im Gefängnis ist im Vergleich zur Außenwelt ein sehr profitabler Markt, daher wird man auch als Mediziner unter hohem Druck gesetzt, Rezepte auszustellen, die dann gehandelt werden.“ Persönliche Mitteilung von Dr. Dominique Marcot [42] [43].


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Publication History

Received: 28 August 2022

Accepted: 27 October 2022

Article published online:
15 December 2022

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