Zeitschrift für Palliativmedizin 2023; 24(02): 53-54
DOI: 10.1055/a-1984-2427
Editorial

Bundeseinheitlicher Rahmenvertrag für die SAPV – Chance oder Gefährdung für die ambulante Palliativversorgung?

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

am 26.10.2022 wurde – nach zähen und langwierigen Verhandlungen, ergänzt um ein notwendig gewordenes Schiedsverfahren, der bundeseinheitliche Rahmenvertrag nach § 132 d Abs. 1 Satz 1 SGB V zur Erbringung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV) veröffentlicht.

Erwartungsgemäß rufen die darin beschriebenen Mindestanforderungen bezüglich Strukturvoraussetzungen und Prozessorientierung für SAPV vertragsberechtigte Leistungserbringer ein deutlich geteiltes Echo hervor: Was den einen eine unüberbrückbare Barriere zu sein scheint, geht den anderen im Sinne einer Festschreibung von Minimalkriterien zur Qualitätsbeschreibung nicht weit genug. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Mindest-Personalisierung des SAPV-Teams, die in Stunden zu zählende Mindestanwesenheit eines/r einzelnen Arzt/Ärztin in Teilzeit, um als Teammitglied gelten zu können, und die Form der interprofessionellen Zusammenarbeit gerichtet.

In diesem Kontext fielen in einem DGP-Online-Dialog zum Thema dann auch flapsige, interessante und selbstbewusste Äußerungen wie z. B. die Bezeichnung „Feierabend SAPV“ für Teilzeitärzte in SAPV-Teams, die sonst überwiegend in hausärztlicher Tätigkeit arbeiten. Die Gegenrede eines Kollegen war, dass es ungesund sei Vollzeit in der SAPV zu arbeiten, da das zu viel Sterben und Tod sei – „da wird man ja selber suizidal“.

Wenn ich diese pointierten Äußerungen – neben dem gewollt oder ungewollt erzielten Unterhaltungswert im DGP-Online-Dialog – auf ihre darüber hinaus gültigen Kernaussagen hin bewerte, wird es allerdings ziemlich ernst: Jetzt wo ein Rahmenvertrag die vielerorts Strukturaufbau hemmende SAPV-Vielfalt – manche sprechen auch von Wildwuchs – zukünftig beenden könnte, bekommen durch diese absehbare Vereinheitlichung – die natürlich auch Veränderung und Anpassung an vielen Orten bedeuten wird – alte Ressentiments, Vorurteile und Rufe nach Bestandsschutz der eigenen Struktur frischen Wind in die Segel. Nachvollziehbar ist das in jedem Fall, wenn die persönliche berufliche Zukunft vom Fortbestand eines SAPV-Teams und dessen wirtschaftlicher Perspektive abhängt. Nur sollte der Grundanspruch, für den wir antreten, dabei nicht aus dem Blick geraten und zumindest ebenso klar und unüberhörbar benannt werden: es geht immer noch darum, angewiesenen Menschen in komplizierter, sterbensnaher Lebenssituation durch das koordinierte Zusammenwirken von Expert*innen unterschiedlicher Berufsperspektiven – hier vornehmlich Ärzt*innen und Pflegefachkräften – einen guten Verbleib am gefühlt richtigen Ort – „zu Hause“ – zu ermöglichen. Und das ohne deshalb Kompromisse in Sachen Qualität in der Symptomkontrolle als Betroffener hinnehmen zu müssen. Und das im Vertrauen und Wissen um die „Rund um die Uhr“-Erreichbarkeit der kompetenten Helfenden und deren schnellstmögliche Anwesenheit im Fall eines Falles.

Was immer dazu beiträgt, ist wertvoll und gut. Nicht alles, was dazu beiträgt, ist SAPV. Aber SAPV verspricht unbedingt es leisten zu können und muss sich genau daran messen lassen.

In der Diskussion geht das häufig durcheinander: nicht die Tatsache, dass eine einzelne Maßnahme palliativversorgerisch indiziert ist, macht sie zu einer spezialisierten Maßnahme der SAPV – sondern erst die Einbettung dieser einzelnen Maßnahme in ein notwendiges, übergeordnetes Versorgungskonzept, das durch ein Team erbracht wird (und eben auch nur durch ein Team erbracht werden kann) und ohne das es nicht auf dem patientenbezogen erstrebenswerten Ergebnisniveau funktionieren würde, bedürftige Menschen zu behandeln.

Viele fordern zwar eine starke allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV) – aber nur wenige wollen verlässlicher Teil davon sein. Die Möglichkeit, den eigenen Beitrag im Rahmen der SAPV zu leisten, scheint für viele attraktiver. Inhaltlich und letztlich auch finanziell.

Und genau hier besteht völlig unabhängig vom neuen SAPV-Rahmenvertrag eine bedeutende Schieflage, die von Anfang der SAPV-Ära an bestand: Es gibt keine definierte, attraktive, inhaltlich reizvolle und finanziell angemessen bewertete Rolle der AAPV für daran interessierte ärztliche und pflegerische Praktiker*innen. Also wiederholt sich – wie am Anfang der SAPV – in dieser durch die Rahmenverträge ausgelösten Umbruchszeit die von inhaltlichen Konzepten abgekoppelte Diskussion um den Erhalt der eigenen Beteiligungsmöglichkeit an SAPV – verständlicherweise. Wäre die AAPV attraktiver bewertet, würden viele, die mit den vermeintlich allzu rigiden Vorgaben des SAPV-Rahmenvertrags hadern, dort alternativ eine Möglichkeit finden, ihr dringend benötigtes Engagement einzubringen. Sie müssten dann nicht zwingend die für den Rahmenvertrag notwendige strukturelle Beschreibung des komplexen SAPV-Teamgeschehens als grundsätzlich unnötig in Zweifel ziehen.

Wer sich an die Ausgangslage den SAPV-Rahmenvertrag zu schaffen erinnert, wird eventuell noch vor Augen haben, dass plötzlich eine gewisse Euphorie entstand, durch diesen neuen Vertrag endlich die neue, bessere SAPV der Zukunft einheitlich festschreiben zu können und alle Versäumnisse nachzuholen. Diese Aufbruchstimmung wurde – auch von uns in der DGP – immer wieder kommentiert und relativiert durch die Erinnerung daran, dass dies niemals die Intention der Politik war – es ging doch im Wesentlichen um die Neuregelung der Vergabe. Dann geschah lange nichts, weil die Verhandlungen intensiv geführt wurden. Jetzt, da der Vertrag vorliegt, bestätigt sich das Vorhersehbare: der Rahmenvertrag verändert nicht die SAPV per se. Er regelt die formale Vertragswelt drum herum.

Wir sollten also neben dem wachen Blick darauf, dass Gutes bewahrt werden soll, die Defizite in der Versorgungslandschaft und Gefährdungen für die ambulante Palliativversorgung nicht auf einen wie auch immer zu bewertenden Rahmenvertrag SAPV reduzieren. Das Defizit an Regelungen und die Gefährdung für Menschen in der Praxis ist im nicht ausreichend geregelten Bereich der AAPV nämlich mindestens genauso groß, meines Erachtens sogar viel größer.

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Bernd Oliver Maier, Wiesbaden



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Article published online:
27 February 2023

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