Zeitschrift für Palliativmedizin 2023; 24(03): 93-94
DOI: 10.1055/a-1989-2363
Editorial

Palliativ- und Hospizversorgung mit Blick auf Menschen mit Beeinträchtigungen – ein bisher vernachlässigtes Thema?

Liebe Leserin, lieber Leser,

ist die Palliativ- und Hospizversorgung mit Blick auf Menschen mit Behinderungen ein bisher vernachlässigtes Thema? Und wenn ja, warum ist das so?

Wir alle wissen, dass Sterben, Tod und Trauer zum Leben gehören. Und dennoch schieben wir diese Themen gerne weit von uns. Das betrifft nicht nur, aber gerade auch die Politik für Menschen mit Behinderungen. Das ist mir besonders deutlich geworden, als ich neulich der Mutter eines lebensverkürzend erkrankt geborenen und mittlerweile verstorbenen Kindes zuhörte. Sie und ihre Familie hatten sich aufgehoben gefühlt durch die palliative Begleitung vom Anfang bis zum Ende des kurzen Lebens ihres Kindes und auch darüber hinaus. Ihr größter Wunsch an Politik und Gesellschaft war, das Thema aus der Tabu-Ecke zu holen.

Auch wenn sich in den letzten Jahren einiges getan hat im Bereich der Palliativ- und Hospizversorgung in Deutschland, stecken wir in Bezug auf die Palliativversorgung insbesondere von Menschen mit sogenannten „geistigen“ Behinderungen noch in den Kinderschuhen. Das kann auch an unserer schrecklichen Geschichte liegen. Denn im nationalsozialistischen Deutschland wurden Menschen mit Behinderungen systematisch zwangssterilisiert und ermordet. Deshalb leben in den besonderen Wohnformen der Behindertenhilfe erst seit wenigen Jahrzehnten erste Generationen von älteren Menschen mit Behinderungen. Glücklicherweise und auch Dank des medizinischen Fortschritts haben Menschen mit Behinderungen heutzutage eine ähnliche Lebenserwartung wie Menschen ohne Behinderungen. Gerade wegen unserer Geschichte müssen wir uns besonders mit der Frage auseinandersetzen, was Menschen mit Behinderungen brauchen für ein Leben in Teilhabe und Würde. Und dazu zählt auch das Lebensende.

Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und damit zu geltendem Bundesrecht gemacht. Die Konvention sichert Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu. Der Staat muss dafür sorgen, dass diese Rechte auch bei den Menschen ankommen. Das gilt auch explizit für die gesundheitliche Versorgung, die Menschen mit Behinderungen in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und demselben Standard zur Verfügung zu stellen ist. Und natürlich haben auch schwerstkranke und sterbende Menschen mit Behinderungen am Lebensende dasselbe Recht auf eine professionelle, vor allem aber das Bedürfnis nach einer zugewandten und menschlich einfühlsamen Begleitung und Versorgung.

Schwerstkranke und sterbende Menschen auf ihrem letzten Lebensweg zu begleiten, vorzugsweise zu Hause, aber auch die Trauerbegleitung ist Aufgabe der Hospiz- und Palliativdienste. Damit auch Menschen mit Behinderungen am Lebensende oder bei Verlust eines geliebten Menschen ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend begleitet und unterstützt werden, braucht es behinderungsspezifische Expertise und interprofessionelle Teams. Deshalb müssen die Ausbildungspläne sämtlicher medizinischer, therapeutischer und pflegerischer Berufe um die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen ergänzt werden. Neben der medizinischen und pflegerischen Versorgung braucht es aber auch eine psychologische Betreuung beispielsweise in Leichter Sprache. Die gesetzlichen Grundlagen bei einigen Berufsbildern im Gesundheitswesen sind bereits gelegt. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis wir wirklich von gleichberechtigtem Zugang zu allen Bereichen des Gesundheitssystems sprechen können.

Das bringt mich zur Anfangsfrage zurück: Ja, in meiner Wahrnehmung ist bei der Palliativversorgung von Menschen mit Behinderungen noch viel Luft nach oben. Aber es gibt bereits gute Ansätze und Einrichtungen, die sich dem Thema annehmen. Wichtig ist, dass die Menschen, um die es geht, bei allen Fragen mit einbezogen werden. Das ist bei Menschen mit Behinderungen nicht anders als bei allen anderen Menschen auch. Denn der Grundsatz „nichts über uns ohne uns“ gilt für die Teilhabe in politischen Fragen genauso wie im täglichen Leben. Und so heterogen die Gruppe der Menschen mit Behinderungen auch ist, am Ende haben wir alle die gleichen Bedürfnisse. Ob mit oder ohne Behinderung, ob im Kindesalter oder erwachsen, wir möchten uns gesehen, geborgen und geliebt fühlen. Wir möchten ernst genommen werden und teilhaben können in allen Lebensabschnitten bis zum Lebensende. Wir möchten angst- und schmerzfrei sein, wir möchten gemeinsam lachen können und auch weinen dürfen. Wir möchten aufgefangen und nicht allein gelassen werden, wenn wir Trost brauchen.

Ich danke den Hospiz- und Palliativdiensten, die sich diesen Aufgaben täglich mit Professionalität, aber darüber hinaus vor allem mit viel Herz und Empathie widmen. Den Tod als Teil des Lebens anzunehmen, ist eine Frage der Haltung und wir können in diesem Bereich noch viel lernen. Denn uns allen, der Politik, der Zivilgesellschaft und uns als Einzelpersonen stünde es gut zu Gesicht, wenn wir es schaffen, das Thema aus der Tabu-Ecke zu holen.

Herzliche Grüße

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Ihr Jürgen Dusel
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen



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Article published online:
02 May 2023

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