Kontra
Deutschland hat seit je her viele psychiatrische Betten. Nachdem in den 90er und
Anfang der 2000er Jahren Psychiatrie-Betten abgebaut wurden (1995: 63 807;
2005: 52 856), findet sich – entgegen internationaler Trends -
seitdem wieder eine leichte Zunahme, in 2020 waren es 56 557 Betten (Angaben
des Statistischen Bundesamtes). Ein enormer und kontinuierlicher Bettenaufwuchs
entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Akut-Psychosomatik
– eine weltweit einmalige Parallelstruktur. Waren es 1995 noch 2632 Betten,
so stieg deren Zahl bis 2020 auf 12 773; hinzu kommen 20 383 Betten
im Reha-Bereich. In Bayern – so der Erste Bayerische Psychiatriebericht
– kam es von 2002 bis 2019 sogar zu einer Versechsfachung der
Psychosomatik-Betten (von 7 auf 42 je 100 000 Einwohner). Zum Vergleich die
Psychiatrie-Betten in Bayern: Hier waren es 2019 nur noch 70 je 100 000
Einwohner. Zum 1.1.2021 standen damit über ein Drittel der Krankenhausbetten
in Psychosomatischen Kliniken (4237 vs. 7328).
Während die Kliniken und Abteilungen für Psychiatrie und
Psychotherapie einen Pflichtversorgungsauftrag erfüllen, weisen sich viele
psychosomatische Kliniken als „Spezialkliniken“ aus, die
Akutversorgung erfolgt hier elektiv. Die Zahl der vollstationär versorgten
Patient*innen in der Psychosomatik beträgt – nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes – etwa ein Zehntel der Patient*innen
der psychiatrischen Kliniken und Abteilungen (2020: 67 946 vs.
662 474). Die größte Gruppe stellen insgesamt depressive
Patient*innen. Die weiteren Diagnosegruppen dieser Spezialkliniken sind F4
bis F6, nicht dagegen F0 bis F2 und F7 – wen wundert es. Für den
Bereich F3 bis F6 werden immer weiter Bettenkapazitäten als bedarfsnotwendig
beantragt. Aufgrund des elektiven Aufnahmemodus (u. a. der Wartezeiten) wie
auch der geringen Patientenzahl tragen sie kaum zur Akutversorgung psychisch Kranker
bei – aber indirekt möglicherweise zu deren Stigmatisierung.
Im Gegensatz zu Spezialkliniken können psychiatrische Fachkliniken und
Fachabteilungen keine Risikoselektion betreiben, sondern müssen alle
psychischen Erkrankungen behandeln – und sie können es auch. In den
Kliniken und Abteilungen werden – festgelegt durch PsychPV bzw. jetzt PPP-RL
– Ärzt*innen, Psycholog*innen und andere
Berufsgruppen vorgehalten, die eine multidimensionale und leitliniengerechte
Behandlung gewährleisten. Psychotherapie, die Kerndisziplin
psychosomatischer Kliniken, ist auch in psychiatrischen Kliniken (anders als noch
in
den 90er Jahren) integraler Bestandteil der Behandlung und auch der Ausbildung. Laut
Psychiatrie Barometer 2017/2018 sind weit mehr als ein Drittel der dort
tätigen Ärzt*innen fertige Fachärzt*innen
für Psychiatrie und Psychotherapie, fast die Hälfte der
Psycholog*innen sind approbierte Psychologische
Psychotherapeut*innen.
Während in psychiatrischen Kliniken und Abteilungen alle psychischen
Erkrankungen unabhängig von ihrer Schwere behandelt werden,
schließen psychosomatische Kliniken Patient*innen mit
Suizidalität [1] oder psychotischer
Symptomatik [2] oft aus bzw. überweisen
diese an psychiatrische Kliniken und Abteilungen. Und das ist auch richtig so, da
hier nicht nur die notwendigen Schutzkonzepte, sondern auch die entsprechenden
Behandlungskompetenzen und Erfahrungen bestehen.
Insbesondere die für viele psychische Erkrankungen notwendige hohe
psychopharmakologische Kompetenz ist in psychiatrischen Kliniken und Abteilungen
aufgrund der spezifischen Facharztausbildung Psychiatrie und Psychotherapie
– im Gegensatz zur Facharztausbildung in Psychosomatischer Medizin und
Psychotherapie – gegeben. Dies ist besonders relevant für schwere
und therapieresistente Fälle. Gerade diese müssten dem Namen nach ja
eigentlich in einer „Spezialklinik“ behandelt werden, finden sich
aber mehr in der „Psychiatrie“, während in den
psychosomatischen Kliniken eher leichter Erkrankte (und
YAVIS-Patienten*innen) [1] behandelt
werden. Die Kompetenz in und das Angebot von somatischen Behandlungsverfahren wie
EKT oder rTMS zeichnen darüber hinaus die psychiatrischen Kliniken und nicht
die „Spezialkliniken“ aus.
Auch eine bestehende Komorbidität von Depressionen, Angststörungen
u. a. mit insb. Abhängigkeitserkrankungen [2] ist in psychosomatischen Kliniken manchmal
Ausschluss- bzw. Überweisungsgrund in psychiatrische Fachkliniken und
Fachabteilungen. Auch das zurecht, da hier die entsprechenden Erfahrungen und
Kompetenzen, gerade in der Suchtmedizin, bestehen.
Eigentlich müsste man von einer „Spezialklinik“ erwarten,
dass sie die jeweilige Erkrankung, auf die sie sich spezialisiert hat, z. B.
Depressionen, mit all ihren Schweregraden und Komorbiditäten mit allen
aktuell zur Verfügung stehenden evidenzbasierten Therapieverfahren umfassend
und leitliniengerecht behandeln können und dies auch tun. Weder das eine,
noch das andere geschieht aber in der Regel im Versorgungsalltag. Im Gegensatz dazu
haben psychiatrische Kliniken Spezialstationen für z. B.
Depressionen aufgebaut, die vollumfänglich versorgen können.
Ein weiterer Punkt, der gegen eine Versorgung in „Spezialkliniken“
spricht, ist deren Standort. Damit ist nicht deren schöne Lage an Seen oder
im Gebirge gemeint, sondern deren Gemeindeferne. Patient*innen werden in
wohnortfernen Kliniken für einige Wochen behandelt und dann entlassen. Die
ambulante Weiterversorgung ist dadurch teilweise erschwert. Dies ist umso mehr von
Bedeutung, falls komplementäre Versorgungsangebote (im Bereich Arbeit,
Wohnen und Freizeit) erforderlich sind, die gerade bei den schwerer Erkrankten
häufiger notwendig sind. Auch die ambulante Weiterversorgung in der eigenen
Institutsambulanz, möglicherweise sogar durch die/den
stationär behandelnde(n) Arzt/ Ärztin im Sinne einer
Behandlungskontinuität, kann aus einer wohnortfernen
„Spezialklinik“ nicht erfolgen. Ein Übergang von
vollstationärer zu teilstationärer Behandlung zur Stabilisierung im
Alltag ist natürlich auch nur sehr selten möglich. Eine
stationsäquivalente Behandlung (StäB), wie sie auch bei F3- und
F4-Patient*innen [3] erfolgt, kann nicht
angeboten werden. Eine integrierte, regionalisierte und patientenzentrierte
Versorgung ist durch Spezialkliniken also kaum möglich. Der weitere
institutionalisierte Bettenaufbau dort läuft aktuellen Versorgungskonzepten
somit zuwider und stellt eigentlich einen Rückschritt in der
psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung dar. Zudem entzieht dies dem gesamten
Psycho-Bereich Fachpersonal.
Nicht als Tribut an meinen Pro-Autor, sondern aus jahrelanger Erfahrung und
Zusammenarbeit weiß ich, welchʼ gute Arbeit die Kolleg*innen in der
Klinik, z. B. im Bereich der Essstörungen, leisten. Das ist aber ein
anderes Thema.
Somit zum Schluss nochmals auf Anfang: Deutschland hat zu viele Betten in seinen
Kliniken und Abteilungen für Psychiatrie bzw. Psychosomatik, wie auch
Modellprojekte [4] eindrucksvoll zeigen, die den
Anteil der psychiatrischen Betten um über 40% reduzieren. Die
weltweit einmalig vielen Betten in psychosomatischen
„Spezialkliniken“ für nur 10% der
Patient*innen sind gerade unter diesem Aspekt und dem hohen
Ambulantisierungspotential bei leichter Erkrankten entbehrlich.