Z Sex Forsch 2023; 36(01): 17-24
DOI: 10.1055/a-2011-2080
Originalarbeit

Unsicherheit im Kontext sexualpädagogischer Fortbildungen

Uncertainty in the Context of Sex Education Trainings
Anna Lena Oldemeier
1   Justus-Liebig-Universität Gießen
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Einleitung Die öffentlichen Debatten um vermeintlich grenzverletzende Sexualpädagogik und Fälle sexualisierter Gewalt in pädagogischen Einrichtungen bilden eine diskursive Hintergrundfolie für pädagogische Arbeit, in der Bezüge zu Körperlichkeit und Sexualität eine wichtige Rolle spielen. Der Fokus liegt im Umgang mit sexualitätsbezogenen Themen häufig auf Prävention, die Kinder und Jugendliche vor Grenzverletzungen, z. B. durch Fachkräfte, schützen soll. (Sexual-)pädagogische Ansätze, die die Selbstbestimmung der Klientel aktiv fördern sollen, geraten dadurch aus dem Blickfeld beziehungsweise können zum Teil selbst den Eindruck erwecken, grenzverletzend zu sein. Vor diesem Hintergrund kann das Phänomen der Unsicherheit aufseiten pädagogischer Fachkräfte, welches in sexualpädagogischen Fortbildungen sichtbar wird, auf seine spezifischen und allgemeinen Bedeutungen hin diskutiert werden.

Forschungsziele Der vorliegende Artikel expliziert die Unsicherheit pädagogischer Fachkräfte in der sexualpädagogischen Arbeit mit der Klientel einerseits und im Verhältnis zu den darüber stattfindenden Diskursen andererseits. Wie äußert sich in diesem Berufsfeld Unsicherheit? Wie wird sie artikuliert und verhandelt? Wie kann die beobachtete Unsicherheit gedeutet werden und welche Konsequenzen ergeben sich daraus möglicherweise für pädagogische Fachkräfte und Sexualpädagog*innen?

Methoden Im Rahmen sexualpädagogischer Fortbildungen für Fachkräfte wurden teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Die dabei entstandenen Beobachtungsprotokolle wurden mithilfe eines deduktiv-induktiv entwickelten Kategoriensystems codiert und inhaltlich strukturierend analysiert.

Ergebnisse Unsicherheit spielt in den sexualpädagogischen Fortbildungen eine zentrale Rolle und äußert sich sowohl implizit als auch explizit. Neben einer allgemeinen Unsicherheit in Bezug auf sexualitätsbezogene Themen wird dies durch sprachliche Unsicherheiten deutlich. Besonders relevant ist die Unsicherheit vor dem Hintergrund der Prävention sexualisierter Grenzverletzungen gegenüber der Klientel. Fachkräfte haben Sorge, sich falsch zu verhalten – diese Sorge tangiert nicht nur das professionelle Handeln, sondern auch die eigene Identität.

Schlussfolgerung In der Suche nach richtigem Handeln zeichnet sich ein Bedürfnis nach der Vereindeutigung von Sexualität ab. Unsicherheit kann in der pädagogischen Arbeit nicht nur ein Hemmnis darstellen, sondern auch Potenzial für Reflexionsprozesse und die Entwicklung einer professionellen Haltung bieten. Sexualpädagog*innen profitieren bei der Gestaltung von Fortbildungsveranstaltungen von einem Bewusstsein über potenzielle oder bestehende Unsicherheiten. Somit können sexualpädagogische Fortbildungen zur Handlungssicherheit von Fachkräften beitragen.

Abstract

Introduction The public debate about alleged border-violating sexuality education and cases of sexualized violence in educational institutions form a discursive background foil for educational work in which references to physicality and sexuality play an important role. In dealing with sexuality-related topics, the focus is often on prevention, which is intended to protect children and youths from boundary violations by for example professionals. (Sexual) pedagogical approaches that are supposed to actively promote the self-determination of the clientele are pushed into the background or can themselves sometimes give the impression of violating boundaries. Against this background, the phenomenon of insecurities on the part of pedagogical professionals, visible in sexual pedagogical training courses, can be discussed in terms of its specific and general meanings.

Objectives This article explicates on the one hand the uncertainty of pedagogical professionals in their sex education work with clients and, on the other hand, in relation to the discourses taking place about it. How is insecurity expressed in this professional field? How is it articulated and negotiated? How can the observed insecurity be interpreted and what are the possible consequences for pedagogical professionals and sex educators?

Methods Participant observations were carried out in the context of training courses for professionals in sexuality education. The observation protocols were then coded with the help of a deductive-inductive category system and analyzed in terms of content structure.

Results Uncertainty plays a central role in sex education training and is expressed both implicitly and explicitly. In addition to a general insecurity regarding sexuality-related topics, this becomes apparent through linguistic insecurities. The insecurity is particularly relevant against the background of the prevention of sexualized border violations towards the clientele. Professionals are worried about behaving incorrectly – this concern not only affects their professional actions, but also their own identity.

Conclusion When searching for the correct way to act, the need for clarification of sexuality becomes apparent. Uncertainty can be not just an obstacle in pedagogical work but rather also offer potential for reflection processes and the development of a professional attitude. Sex educators benefit from an awareness of potential or existing uncertainties when developing training events. In this way, sexuality education can contribute to the confidence of professionals.



Publication History

Article published online:
14 March 2023

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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